Medizin:Und plötzlich konnte er wieder gehen?

Medizin: Wird das Rückenmark durchtrennt, ist eine Querschnittslähmung die Folge.

Wird das Rückenmark durchtrennt, ist eine Querschnittslähmung die Folge.

(Foto: Science Picture Co./mauritius images)
  • Gerade machen zum wiederholten Male Meldungen in der Fachwelt die Runde, wonach Gelähmte wieder gehen können.
  • Bei Querschnittslähmungen können unterhalb der Verletzung noch ein paar intakte Nervenbahnen im Rückenmark vorhanden sein.
  • Mit Neurostimulatoren und viel Hilfe können manche Patienten ein paar Schritte gehen - aber es gibt keine neurologische Heilung.

Von Werner Bartens

Seit den therapeutischen Blitzerfolgen von Jesus Christus, der Blinde wieder sehen und Lahme wieder gehen ließ, hoffen Kranke immer wieder auf ähnliche Wunderheilungen der Mediziner. Doch mit irdischen Hilfsmitteln ist es Ärzten bisher nicht gelungen, solche Großtaten zu vollbringen - allen Fortschritten der Heilkunde zum Trotz. Gerade machen allerdings zum wiederholten Male Meldungen in der Fachwelt die Runde, wonach Gelähmte wieder gehen können. Doch wie schwer es ist, die Beweglichkeit und Steuerung der Beine wieder zu erlangen oder gar ein paar Schritte selbständig zurückzulegen, wenn das Rückenmark einmal durchtrennt wurde, zeigen die aktuellen Versuche nur allzu deutlich.

Im Fachmagazin Nature Medicine berichten Ärzte und Neurowissenschaftler der Mayo Clinic beispielsweise von einem 29-Jährigen, der sich 2013 bei einem Unfall mit dem Schneemobil die Brustwirbelsäule gebrochen hatte und seitdem von der Mitte des Rumpfes abwärts nichts mehr spüren konnte. Nach intensiver Physiotherapie bekam der Patient 2016 in einem chirurgischen Eingriff einen Neurostimulator mit 16 Kontaktelektroden implantiert, der sich drahtlos steuern lässt.

Zum Gehen reicht es nicht, die Muskeln anzusteuern, wichtig ist die sensible Rückmeldung

Nach 43 weiteren Wochen Physiotherapie gelang es dem jungen Mann, im Rollator insgesamt 102 Meter zu gehen und dabei 331 Schritte zurückzulegen. Allerdings war sein Gang stark verlangsamt, er musste dabei von drei Helfern unterstützt werden, von denen einer an der Hüfte die Balance hielt und die anderen das Standbein sowie das Schwungbein führten. Ohne Elektrostimulation war der Patient wieder vollständig gelähmt und konnte die Beine nicht bewegen.

"Dieser Behandlungsversuch zeigt uns, dass die Nerven unterhalb einer Rückenmarksverletzung auch nach einer Lähmung noch funktionieren können", sagt Neurochirurg Kendall Lee, der an der Studie beteiligt war. Mit Hilfe der eingepflanzten Elektroden konnte den Nerven immerhin signalisiert werden, dass die Beine entweder stehen oder zum Schritt ansetzen sollten. Aus Sicherheitsgründen hat der Patient entsprechende Bewegungsversuche jedoch nur unternommen, wenn ihm ein Team aus Physiotherapeuten und Ärzten dabei assistierte.

Nahezu zeitgleich berichtet ein weiteres Forscherteam im New England Journal of Medicine von ähnlichen Fortschritten, diesmal mit vier Patienten. Doch auch in diesen Fällen gelang es den Kranken nur dann, mit Unterstützung zu stehen und den Rumpf stabil zu halten, wenn der Neurostimulator aktiv war. Zwei der Patienten schafften jedoch trotz der Hilfe von außen keinen einzigen Schritt auf ebenem Untergrund; einer brach sich während der vorbereitenden Übungen sogar den Oberschenkelhals.

"Wir sollten also wortwörtlich einen Schritt zurücktreten."

"Diese Patienten sind nicht die ersten, die mit Hilfe elektrischer Rückenmark-Stimulation für eine Querschnittslähmung behandelt wurden", stellt die Neurochirurgin Jocelyne Bloch vom Universitätsklinikum Lausanne nüchtern fest. "Ich bin nicht allzu enthusiastisch. Die geschilderten Bewegungen sind nicht besonders funktional: Der Patient kann mit viel Hilfe ein paar Schritte gehen - aber es gibt keine neurologische Heilung. Im Labor einige Schritte zu tun, bedeutet nicht, dass es auch zu Hause und im Alltag klappt und das Leben verändert. Wir sollten also wortwörtlich einen Schritt zurücktreten."

Die Skepsis der Wissenschaftler ist verständlich. Zwar ist schon länger bekannt, dass bei einem Teil der als "komplett" bezeichneten Querschnittslähmungen doch noch ein paar intakte Nervenbahnen im Rückenmark unterhalb der Verletzung vorhanden sein können. Doch diese reichen längst nicht aus, um die Körperteile abwärts weiterhin bewegen zu können. Auch alle sensiblen Funktionen - wie das Empfinden für Schmerz, Temperatur, Lage oder Berührung - fallen dann komplett aus. Sie wären aber ebenfalls von großer Bedeutung, damit Gang und Stand funktionieren.

"Der Begriff 'Heilung' ist in den berichteten Fällen definitiv nicht angebracht", sagt denn auch Norbert Weidner vom Universitätsklinikum Heidelberg. "Es wird dem Patienten zwar seine verloren gegangene Willkür-Funktion zurückgebracht, allerdings nur in höchst eingeschränktem Umfang." Um stehen und gehen zu können, reicht es eben nicht nur, die Muskeln aktiv ansteuern und bewegen zu können und damit die Anspannung und Erschlaffung zu gewährleisten. Ähnlich wichtig ist die sensible Rückkoppelung: Nervenbahnen von den Extremitäten senden über das Rückenmark Signale zum Gehirn, mit denen die Stellung der Füße und Beine im Raum, der Druck auf den Boden und andere Lageinformationen weitergegeben werden.

"Ohne diese sensible Rückkoppelung wird die Gehfunktion trotz maximaler Nutzung der beschriebenen Therapieansätze höchst eingeschränkt bleiben", sagt Norbert Weidner, der in Heidelberg die Abteilung für Querschnittsgelähmte leitet. "Die Elektrostimulation allein wird bei komplett Gelähmten keine alltagsrelevante Gehfunktion zurückbringen."

Bei Menschen mit inkomplettem Querschnitt, bei denen also noch eine Restfunktion der Nerven unterhalb der Verletzung erhalten ist, sehen Wissenschaftler hingegen größeres Potenzial für die Elektrostimulation. In günstigen Fällen bleibt noch so viel vom neuronalen Netzwerk übrig, dass sich das Gang- und Standmuster der Bewegung mit Elektroreizen stimulieren und durch intensive Physiotherapie etwas verbessern lässt. Andere Hoffnung speist sich aus Tierversuchen. "Dort kann das Training mit der Rückenmark-Neurostimulation dazu führen, dass einige Nervenfasern anfangen zu sprießen", sagt Jocelyn Bloch. "Zudem hilft die elektrische Stimulation den Patienten, ihre Rehaübungen durchzuführen und zu trainieren."

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