Medizin:Skalpell und Steuerknüppel

Lufthansa Flight Training Center

Die Handgriffe lassen sich im Flugsimulator üben, die richtige Kommunikation nur mit anderen Menschen.

(Foto: Fredrik Von Erichsen/dpa)

Im OP wie im Cockpit gilt: Kleiner Fehler, große Wirkung. Wie man in kritischen Situationen richtig kommuniziert, können Ärzte von Piloten lernen.

Von Felix Hütten

Elaine Bromiley muss ersticken, weil Menschen einander nicht zuhören. 200 Milligramm Narkosemittel fließen in das Blut der Patientin auf dem OP-Tisch, ihre Augenlider klappen zu, und die Lunge steht. Nun müssten die Ärzte Bromileys Körper mit Sauerstoff versorgen, doch der Beatmungsschlauch erreicht die Luftröhre nicht. Die Anästhesisten winden und mühen sich, am Monitor stürzt die Kurve der Sauerstoffsättigung ab, Kohlendioxid flutet Elaine Bromileys Körper. Die OP-Assistentinnen raten zu einem Luftröhrenschnitt, doch die Ärzte hören nicht hin, der lebensrettende Rat verhallt - und die Frau stirbt.

Martin Bromiley, der Ehemann von Elaine, will trotzdem nicht die behandelnden Ärzte verklagen. Ihm ist wichtiger, dass Ärzte von dem lernen, was geschehen ist. Er ist Pilot und kennt ganz ähnliche Situationen aus dem Cockpit. Er kennt die Frage, ob und wann der Co-Pilot eingreifen sollte, wenn sich der Chef von seinem rangniederen Kollegen nichts sagen lassen will und so die Kiste in Richtung Absturz lenkt. Bromileys Vision lautet: Piloten wie Mediziner müssen besser kommunizieren, um Fehler zu vermeiden.

In Seeheim, eine halbe Autostunde vom Frankfurter Flughafen entfernt, hat die Lufthansa ein Kongresshotel im Business-Class-Look in den Wald gezimmert, die Essenausgaben heißen hier Gates, das Personal trägt Uniform, und an den Snackbars trinkt man wie im Terminal aus Pappbechern. Im Seminarraum 2023 im Untergeschoss, die Tische weiß, die Wände grau, der Himmel irgendwas dazwischen, haben die Berufsgenossenschaftlichen Unfallkliniken ein gutes Dutzend Ärzte und Krankenpfleger aus ganz Deutschland eingeladen, um zwei Tage über die Frage zu sprechen, wie die Hoffnung von Martin Bromiley in Erfüllung gehen könnte.

"Basic Competence for Optimum Care"

Komplikationen in der Medizin wie in der Luftfahrt haben ihren Ursprung häufig in etwas zutiefst Menschlichem: in der Sprache, in fehlerhafter Kommunikation. Im Cockpit herrschen ähnliche Bedingungen wie am OP-Tisch: kleine Fehler, große Wirkung. Kleiner Assistent, großer Chef. "Wo du grad sitzt, liegt normalerweise meine Mütze." Das ist so ein alter Pilotenspruch, der die einst nahezu militärische Hackordnung im Cockpit illustriert. Junge Piloten hören ihn heute glücklicherweise nur noch selten. Das mag daran liegen, dass Airlines ihre Mitarbeiter gründlich schulen, es nennt sich "Human Factor Training". Auch die Lufthansa unterrichtet ihre Mitarbeiter darin - und öffnet nun die Türen für andere Berufsgruppen, zum Beispiel Ärzte. Man wolle, heißt es, die Erfahrung weitergeben, andere können profitieren. Und klar, Geld lässt sich damit auch ganz gut verdienen, ein Seminarwochenende inklusive Übernachtung kostet um die 700 Euro pro Person.

Die Trainer an diesem Tag, A340-Pilot Patrick Fritsch sowie Matthias Münzberg, Oberarzt an der BG-Klinik Ludwigshafen, fragen die Teilnehmer, Unfallchirurgen, Orthopäden und OP-Pflegedienstleitungen nach einem "kollegialen Du", einfach weil's "einfacher ist". Dann beginnt die erste Lerneinheit, die sie Unit nennen: "Basic Competence for Optimum Care".

Und ja, die Laune der Trainer ist an diesem Vormittag so artifiziell-amerikanisch-locker, dass es fast anstrengend wirkt. Doch das kommt an, Seminaratmosphäre lebt von Gruppendynamik, und die Kliniker rücken spätestens dann die Rücken gerade, als klar wird, dass Rollenspiele ausbleiben. Und Gruppenübungen, versprochen, stehen nur wenige auf dem Programm. Der Tag beginnt mit der Geschichte von Elaine Bromiley und der Frage, wie man mit guter Kommunikation ihren Tod hätte verhindern können.

Der Luftröhrenschnitt ähnelt der Notlandung nach Druckabfall im Flieger, nicht alltäglich, aber durchaus zu meistern. Es gibt im Cockpit eines Flugzeugs für fast jeden Notfall eine Checkliste, die Piloten handeln nicht nach Bauchgefühl, sondern nach einer festgelegten Prozedur. In der Medizin heißt der Druckabfall dann "can't intubate, can't ventilate": Der Tubus sitzt nicht, die Patientin atmet nicht. Was im Fall von Elaine Bromiley fehlte, war die Notfall-Checkliste, die richtigen Worte, die richtigen Entscheidungen. Man sagt in der Anästhesie, ein Patient stirbt nicht daran, dass man ihn nicht intubieren kann, sondern daran, dass man nicht aufhört, ihn intubieren zu wollen.

Also, was tun? Es geht um klare Absprachen, um Kommunikation auf Augenhöhe, um Zuhören, nicht nur um Aussprechen. Es geht um eine Sicherheitskultur, also darum, Fehler durch gemeinsame Entscheidungen zu reduzieren, brenzlige Situationen zu erkennen, zu meistern, besser noch, sie gar nicht erst entstehen zu lassen.

Als Beispiel aus der Fliegerei steht hierfür exemplarisch der sogenannte Kathmandu-Anflug, also die knifflige Aufgabe, einen 200 Tonnen schweren Jumbo zielgenau zwischen Aufwinden und Felsklippen auf die Landebahn zu setzen. Weil Kathmandu von Bergen umstellt ist, erreichen in diesem Beispiel die Signale der Flughafens nicht das Flugzeug. Der Kapitän bleibt im Sinkflug, nur dass zwischen ihm und der Landebahn jetzt eine Felswand liegt. Der Co-Pilot erkennt den Fehler und spricht ihn an. Reaktion des Chefs: keine. Der Co-Pilot, mit Blick auf den Tod, ergreift die action, sie sagen das wirklich so, lässt den Flieger steigen, und die Bergspitze sieht nur noch den Rumpf der Maschine. Der Kapitän sagt, als die Maschine schließlich am Boden steht, nur ein Wort: Danke.

Sie sagen: "I feel yellow"

In der Medizin gibt es weniger Möglichkeiten, die action zu ergreifen. Ein Assistent reißt seinem Chefarzt nun mal nicht das Skalpell aus der Hand, so sehr er sich das manchmal wünschen würde. Matthias Münzberg, ausgebildeter Chirurg, erzählt von seinem persönlichen Kathmandu-Anflug als junger Arzt. Er assistiert bei einer Bandscheiben-OP, als der ältere Operateur die Hauptschlagader der Patientin verletzt. Sie suchen also dieses verdammte Loch im Bauch, und finden es nicht, die Handschuhe sind bis zum Gelenk rot gefärbt und die Frau verblutet. Auch Münzberg hatte die brenzlige Situation erkannt, sich aber viel zu spät getraut, unbeteiligte Ärzte um Hilfe zu bitten, die seinen Chef am OP-Tisch hätten ablösen können. Ein frischer Blick hilft meist, um die rettende Idee zu finden.

Auch Piloten sehen es nicht gerne, wenn ihnen ein anderer ins Steuerhorn greift. Deshalb haben Airlines eine Standardfloskel etabliert, die auch dem damals jungen Chirurgen Münzberg hätte helfen können. Sie sagen "I feel yellow" - ich fühle mich unwohl, lass uns über den Sinkflug sprechen. Lass uns bitte vorsichtiger operieren, damit wir die Aorta nicht verletzten.

Das aber bedeutet, dass Menschen auch dann miteinander sprechen müssen, wenn der eine 20 Jahre älter ist, vielleicht sogar ein Unsympath und Wüterich mit vier Streifen auf dem Jackett oder einem Prof. auf dem Namensschild des Kittels. Und es bedeutet, dass Entscheidungsträger auch jemandem zuhören, der formal weniger qualifiziert ist. Hätten die Ärzte im Fall von Elaine Bromiley auf die Pflegekräfte gehört, wäre sie nicht gestorben.

Verfehlte Kommunikation, trotz after-landing-checklist und Interpersonal Competences 1 Human Factor-Training?

Das ist an sich eigentlich nichts Neues, aber es gibt verschiedene Wege dorthin: Sie, Herr Kapitän, das wollte ich Ihnen schon immer mal sagen, sind ein egomanisches Schwein, und außerdem im Begriff, uns in den Tod zu fliegen. Oder so: Herr Kapitän, ich fühle mich unwohl mit der Entscheidung, so schnell zu sinken, bitte erläutern Sie, was Sie tun.

Variante eins ist aggressive Kommunikation, die nicht nur das Verhalten (Sinkrate) und den Effekt (Absturz), sondern auch die Rollenverteilung (Kapitän) und Persönlichkeit (Schwein) betreffen.

Variante zwei hingegen, und das ist eine der Kernbotschaften des Kurses, ist die sogenannte assertive Kommunikation - also das freundliche, aber doch selbstsichere Ansprechen eines Problems -, die mitunter Überwindung kostet, aber womöglich eher zum Ziel führt.

Um im Lufthansa-Tagungshotel ganz praktisch zu erproben, wie sich eine solche Art der Kommunikation anfühlen kann, ziehen die beiden Trainer eine Übung aus der Pädagogik-Mottenkiste, sprachlich aufgefrischt mit dem Namen Marshmallow Spaghetti Challenge. Also bitte mal durchzählen, eins, zwei, drei vier - jede Gruppe sucht sich einen Platz im Gang. Die Teilnehmer murren ein bisschen, tuscheln ein bisschen, denn wenn es praktisch wird, kämpft der Körper gegen den Geist, besonders nach dem Mittagessen.

Mit 20 rohen Spaghetti und einem Meter Klebeband, so das Ziel der Übung, sollen vier sich unbekannte Menschen einen Marshmallow möglichst hoch in die Luft bringen. Wer am höchsten hinauskommt, gewinnt. So ist das im Leben, und plötzlich knien die leitende Ärztin und die Pflegeleitung auf dem Boden und diskutieren, ob man diese Spaghetti nun parallel oder doch besser an den Enden verklebt. Und der Oberarzt, knapp zwei Meter groß, Unfallchirurg, hat dann noch die Idee, mit einem Stück Schnur die Konstruktion zu festigen. Das Gewinnerteam stemmt den Marshmallow in 74,5 Zentimeter Höhe, besser als BWL-Studenten, aber Kindergartenkinder schaffen erfahrungsgemäß mehr. Das Ergebnis der Lerneinheit: Es braucht in kniffligen Situation ein gemeinsames Konzept und, auch wenn man für diese Aufgabe auf dem grauen Lufthansa-Teppich robben muss, Kommunikation auf Augenhöhe, egal, wo die handelnden Personen in der Hierarchie stehen.

Am Ende eines langen Tages, als die units abgearbeitet und die landing procedure in Richtung Abendessen eingeleitet wird, sagt der Arzt Matthias Münzberg noch einen bedeutungsschweren Satz, der sich nicht empirisch belegen lässt, aber ganz gut zusammenfasst, welchen Wert dieses Training haben kann: "Wenn es gelingen würde", sagt er, "das Human Factor-Training fest in der Medizin zu etablieren, wäre das gleichbedeutend mit der Erfindung der Antibiotika."

Es ist eben alles eine Frage der Kommunikation.

Die Teilnehmer sind sich in der Feedback-Runde am Ende einig, dass niemand beim nächsten Dienst darauf achten wird, ob seine Worte "assertiv" klingen, aber doch, auch das sagen alle, helfe ihnen das Training, um sich genau darüber Gedanken zu machen. Gedanken, wie auch ein Oberarzt Kritik von einem Assistenzarzt annehmen und wie man damit Patienten das Schicksal von Elaine Bromiley ersparen könnte. Also: check altitude; Fliegen wir eigentlich in der richtigen Höhe? Und: check attitude, Haltung prüfen. Wie kommuniziere ich, und welchen Effekt hat das auf meine Mitmenschen? Und dann: take action, und zwar idealerweise die richtige.

Dabei geht es - glücklicherweise - nicht immer um Leben und Tod. Verfehlte Kommunikation, trotz after landing checklist und Interpersonal Competence 1 Human Factor-Training (IC1-HFT-OL/F-H), hat manchmal auch äußerst komische Seiten. Da ist zum Beispiel die Anekdote vom bayerischen Busfahrer, der auf dem nebligen Vorfeld des Münchner Flughafens eine Crew abholen soll. Es steigt, ganz zu seiner Verwunderung, nur eine Pilotin ein. Der Mann begrüßt sie mit einem kräftigen "Aloa?", und die Pilotin, fliegerisch-polyglott, erwidert den hawaiianischen Gruß. Klar, "Aloa!"

Der Rest der Crew sieht durch die Fliegerfenster nur noch die roten Rücklichter. Der Busfahrer hatte nicht hawaiianisch gegrüßt, sondern auf Bairisch gefragt, ob die Pilotin "alleine", also ohne Begleitung unterwegs sei.

Anmerkung: In einer frühen Version des Textes war zu lesen, dass Kohlenmonoxid den Körper befällt. Richtig ist aber Kohlendioxid. Ebenso war zu lesen, dass die Signale des Instrumentenlandesystems in Katmandu ​gestört sind. Richtig ist aber ein Drehfunkfeuer. Wir haben beide Fehler korrigiert.

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