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Medizin: Schutz vor Röntgenstrahlung:Bleifrei heißt bedrohlich

Neuartige Röntgenschürzen sind leicht und umweltverträglich - aber unsicher. Deshalb wurde der DIN-Standard für Röntgenschutz verschärft. Doch einhalten müssen ihn die Hersteller nicht.

Britta Verlinden

Bei Heinrich Eder spukt es. Doch sein "Phantom", wie das Gebilde offiziell heißt, ist kein Gespenst, auch wenn es geradezu übersinnliche Fähigkeiten hat. "Alderson Rando" besteht aus einem Skelett und einem Kunststoffüberzug, der Muskeln, Haut und Fett simulieren soll.

Er dient dazu, unsichtbare Gefahren zu erforschen. Mit dem Modell lassen sich Strahlen im menschlichen Gewebe messen. Eder und seinem anthropomorphen Phantom ist es zu verdanken, dass in Deutschland seit Januar 2009 die weltweit strengste Norm für Röntgenschutzkleidung wie Schürzen, Mäntel, Westen, Röcke und Handschuhe gilt.

Seit einigen Jahren gibt es Varianten dieser Utensilien, die kein Blei mehr zum Schutz vor den Strahlen enthalten. Die von Eder initiierte Norm soll sicherstellen, dass die neuen, bleifreien Röntgenschürzen ebenso sicher wirken wie die bisherigen.

Tägliche Durchleuchtung

Doch obwohl die Bestimmungen des Deutschen Instituts für Normung (DIN) seit eineinhalb Jahren in Kraft sind, wenden sie viele Firmen, die Schutzkleidung herstellen, nicht an, wie Fachgesellschaften und Berufsverbände bestätigen.

Tausende Ärzte und medizinische Assistenten arbeiten täglich mit Röntgenstrahlen. Kardiologen durchleuchten Patienten bei der Herzkatheter-Untersuchung, Radiologen stellen mit Computertomographie und Kontrastmitteln Blutgefäße in Kopf, Bauch oder Beinen dar, Unfallchirurgen kontrollieren im Operationssaal per Röntgenaufnahme den Sitz einer Knochenprothese.

Da Strahlung in hohen Dosen Krebs verursachen und andere Organschäden hervorrufen kann, müssen sich Menschen schützen, die beruflich einer hohen Strahlendosis ausgesetzt sind.

Schürzen sind Sondermüll

Wer schon beim Zahnarzt geröntgt wurde, kennt die schweren Schürzen, die den Körper gegen Strahlung abschirmen sollen; Mediziner tragen ähnliche Schutzkleidung. Während Patienten die Schürzen selten umgelegt bekommen, streifen Mediziner die unbequeme Kluft täglich über. Bis zu fünf Kilogramm wiegt eine solche Ausrüstung.

Im Inneren einer Röntgenschürze befinden sich mehrere Lagen eines Stoffgemisches aus einer Trägermasse, beispielsweise Kautschuk, und einem Element von hoher Dichte, das Strahlen absorbiert. Dieser Schutzstoff macht bis zu 80 Prozent des Gewichts aus. Früher wurde als Strahlenschutz ausschließlich Blei verwendet; heute ist bekannt, wie giftig das Schwermetall ist.

Aus dem Alltag - etwa aus Benzin, Farben und Spielzeug - ist Blei in der Europäischen Union daher weitgehend verschwunden. Krankenhäuser müssen bleihaltige Röntgenschürzen, die sie aussortieren wollen, als Sondermüll entsorgen. Das ist teuer und belastet die Umwelt.

In Strahlenschutzkleidung, die auf Blei ganz oder teilweise verzichtet, verwendet man stattdessen Zinn, Bismut oder Wolfram. Einige Hersteller werben auch damit, dass ihre Schürzen leichter sind als Blei - ein erheblicher Vorteil für das medizinische Personal.

Doch die Ersatzstoffe sind nicht nur anwenderfreundlich und umweltverträglich. Im Jahr 2005 bemerkte Heinrich Eder, dass sie sich auf möglicherweise gefährliche Art von den bekannten Bleiverbindungen unterschieden. Gemeinsam mit Wissenschaftlern des Helmholtz-Zentrums München prüfte der damalige Strahlenschutzexperte am bayerischen Landesamt für Arbeitsschutz die Abschirmwirkung der neuen Materialien.

Zunächst schienen bleifreie Schürzen Strahlen ebenso gut abzuhalten wie herkömmlicher Schutz aus Blei. Jedoch entdeckten die Forscher, dass einige der Stoffe selbst zu strahlen begannen. Physiker nennen dieses Phänomen Sekundär- oder Fluoreszenzstrahlung.

Die Gefahr ist unklar

"Der Effekt war mit der alten Prüfmethode nicht zu erfassen", sagt Eder. Wie ein Kristall leuchtet, wenn Licht auf ihn trifft, gaben die Schürzen eigene Strahlen ab.

Wie gefährlich diese sind, ist noch unklar. Seit den Studien der Strahlenexperten steht allerdings fest, dass sich das neue Material nicht mit Blei gleichsetzen lässt - die gleiche Materialdicke hat nicht die gleiche Schutzwirkung. Der damalige Landesbeamte und seine Kollegen machten ihre Ergebnisse publik, die Politik reagierte und Anfang 2009 kam die neue DIN 6857-1 heraus.

Die Industrie kommt den empfohlenen Vorgaben allerdings kaum nach. Auch dass Röntgenschürzen nicht auf Reißfestigkeit, Hitzebeständigkeit und Langzeitstabilität geprüft werden müssen, bemängelt Eder.

Kritiker unterstellen dem Strahlenphysiker, der selbst ein Patent auf ein neues Schutzmaterial besitzt, einen Interessenkonflikt. Der Pensionär sagt hingegen, die von ihm entwickelte sterilisierbare, bleifreie Röntgenschürze werde "sicher kein großes Geschäft".

Nur eine Empfehlung

Verboten ist Röntgenschutzkleidung, die nicht dem neuen DIN-Standard entspricht, bisher noch nicht. Die deutsche Norm ist lediglich eine Empfehlung und für Hersteller nicht verpflichtend. Eine stärkere Rechtsverbindlichkeit hat die europäische Norm EN 61331-3. Nur wer diese erfüllt, darf sein Produkt in ganz Europa vertreiben.

Dabei ist die womöglich geringere Schutzwirkung bleifreier Röntgenkleidung auch auf europäischer Ebene bekannt. Unter Federführung der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt wird die Europanorm derzeit nach deutschem Vorbild überarbeitet. Bevor die neue Fassung gültig wird, vergehen nach Auskunft der Braunschweiger Behörde aber noch mindestens zwei Jahre.

So lange rät Heinrich Eder, auf das Produktlabel zu achten: "Wenn da nicht die deutsche DIN draufsteht, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie auch nicht erfüllt ist."

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Quelle:
SZ vom 10.08.2010/cosa/mikö
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