Weltweit steigt die Anzahl der diagnostizierten Schilddrüsen-Karzinome. Mit genaueren Untersuchungsmethoden werden inzwischen auch viele kleine Tumore aufgespürt, die aktuell und vermutlich auch in Zukunft keinerlei Beschwerden verursachen. Ob es Vorteile für die Patienten mit sich bringt, wenn die Tumore entdeckt werden, ist fraglich, denn die Sterblichkeit an Schilddrüsen-Krebs hat sich seit Jahrzehnten kaum verändert, und viele Tumore bleiben harmlos. Kritiker sprechen deshalb von Überdiagnose und Übertherapie.
Ein internationales Ärzteteam zeigt im Fachblatt Jama Otolaryngology - Head & Neck Surgery, dass die Mehrzahl der Patienten an der Schilddrüse operiert wird, ohne Beschwerden zu haben. Die Wissenschaftler um Mirabelle Sajisevi von der Universität Vermont haben dazu in sechzehn Kliniken in vier Ländern die Daten von mehr als 1300 Patienten analysiert, die eine Schilddrüsen-OP bekamen. "Die meisten Diagnosen werden als radiologischer Zufallsbefund oder während des Screenings entdeckt", schreiben die Autoren. "Es wäre jedoch nach wie vor sinnvoll, die Übertherapie dieser kleinen, asymptomatischen Tumore einzugrenzen."
Unabhängige Gremien wie die US Preventive Services Task Force sprechen sich gegen das Screening asymptomatischer Patienten mittels Ultraschall aus, weil ein klinischer Nutzen nicht erwiesen ist - möglicher Schaden hingegen schon. "Diese Kaskade aus Untersuchung und Therapie führt zu unnötigen Diagnosen und Behandlungen", kritisieren die Schilddrüsen-Experten Tyler Drake und Emiro Caicedo-Granados von der University of Minnesota in einem Kommentar. "Das aggressive Vorgehen muss unterbrochen werden, dazu sollten unangemessene Untersuchungen mittels Ultraschall sowie anschließende Operationen an der Schilddrüse vermieden werden."
In Deutschland sind Schilddrüsenoperationen fünfmal so häufig wie in den Niederlanden
Zwar klingt es sinnvoll, bei der Diagnose Krebs möglichst schnell Untersuchungen und baldige Therapien anzustreben. Aber Schilddrüsenkrebs hat nun mal eine exzellente Prognose, wie Experten seit Jahren betonen. Nur wenige Menschen profitieren tatsächlich von der Behandlung. In den USA hat sich die Diagnose Schilddrüsenkrebs seit 1980 verdreifacht. Allerdings kommt der Tumor nicht häufiger vor, sondern wird lediglich häufiger entdeckt.
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Den Patienten kommt das nicht zugute, wie das Beispiel Südkorea zeigt. Dort ist in den 1990er-Jahren landesweit mit der Reihenuntersuchung auf Schilddrüsenkrebs begonnen worden - seitdem ist die Häufigkeit um den Faktor 17 von vier auf 70 Fälle pro 100 000 Einwohner angestiegen. Mittlerweile wird jedes Jahr bei fast 45 000 Südkoreanern die Diagnose Schilddrüsenkrebs gestellt. Verbessert hat sich durch den erheblichen Mehraufwand an Diagnostik und Therapie nichts, die Sterblichkeit ist seit Jahrzehnten konstant geblieben. Jährlich sterben in dem asiatischen Land zwischen 300 und 400 Menschen an dem Tumor - genauso viele wie vor Beginn des Screenings.
Dafür nehmen Nebenwirkungen der Operation wie Stimmbandlähmungen oder eine Unterfunktion der Schilddrüse zu, bei der es zu Krämpfen und Lähmungen kommen kann. "Wenn bei einem Screening beschwerdefreie Schilddrüsenkrebse entdeckt und die überdiagnostizierten Tumore behandelt werden, schadet es mehr, als dass es nutzt", warnte die Ärztin Jennifer Lin schon vor Jahren, nachdem sie in einer Datenanalyse die Fehlbehandlung von Schilddrüsenkrebs dokumentiert hatte.
Und in Deutschland? Mittlerweile werden hierzulande jedes Jahr 70 000 Menschen an der Schilddrüse operiert. Dabei drohen in 90 Prozent der Fälle keine bösartigen Veränderungen, viele Eingriffe sind also überflüssig und könnten vermieden werden. Andere Länder haben das längst eingesehen: In den Niederlanden finden bezogen auf die Bevölkerung nur ein Fünftel so viele Operationen an der Schilddrüse statt wie in Deutschland.