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Medizin-Nobelpreis 2012:Zellen zurück auf Los

John Gurdon und Shinya Yamanaka ist es gelungen, Zellen in einen jungfräulichen Zustand zurückzuversetzen, in dem alle Entwicklungen wieder offen sind. Solche Alleskönner-Zellen könnten eines Tages krankes Gewebe ersetzen. Für ihre Leistungen erhielten der Brite und der Japaner den Nobelpreis für Medizin.

Von Christina Berndt

Zellen sind ein bisschen wie Menschen. Am Anfang ist noch fast alles möglich. Im Laufe des Lebens aber entwickelt man sich weiter und muss feststellen: Diese Flexibilität, die da früher einmal war, die gibt es nicht mehr. Der Mensch ist mehr oder minder festgelegt auf einen Beruf, einen Partner, einen Wohnort. Das Leben hat den Menschen geprägt, und er wünscht sich, manchmal zumindest, wenn die Situation allzu verfahren ist, die Uhr zurückdrehen und wieder ganz von vorne anfangen zu können.

Zurück auf Anfang - genau das ist einem der Träger des diesjährigen Nobelpreises für Physiologie oder Medizin zumindest mit Körperzellen gelungen. Der Japaner Shinya Yamanaka von der Universität Kyoto hat Zellen aus erwachsenen Lebewesen in ihren Urzustand versetzt - so, als wären sie noch Teil eines winzigen Embryos. Damit, so hofft der 50-jährige, könne er eines Tages auch im Leben von Menschen etwas zurückdrehen. Denn mit Hilfe dieser in den Urstand versetzten, jungfräulichen Zellen, die Yamanaka "induzierte pluripotente Stammzellen" (iPS-Zellen) nennt, lassen sich in Zukunft womöglich schwere Krankheiten lindern. Der zweite Preisträger, John Gurdon, hatte 40 Jahre zuvor wichtige Vorarbeiten dazu geleistet.

Es seien neue Möglichkeiten geschaffen worden, Krankheiten zu erforschen und neue Methoden für Diagnostik und Therapie zu entwickeln, begründete die Nobelversammlung am schwedischen Karolinska-Institut, die für den Medizin-Preis zuständig ist, ihre diesjährige Wahl. Die Entdeckungen der Preisträger "haben unser Verständnis davon, wie Zellen und Organismen sich entwickeln, revolutioniert", teilte sie mit. "Wir verstehen jetzt, dass die reife Zelle nicht für immer in ihrem spezialisierten Zustand verweilen muss." Diese beiden Preisträger seien "eine perfekte Kombination", lobte James Adjaye, Leiter des Instituts für Stammzellforschung und Regenerative Medizin an der Universität Düsseldorf.

Auch Zellen verändern sich, wie Menschen, mit jedem Tag. Am Anfang, wenn sie erst einige Zellteilungen hinter sich haben und zusammen mit wenigen anderen Zellen einen winzigen Embryo bilden, dann haben sie noch schier unerschöpfliches Potenzial. Sie können alles werden - ein Flimmerhärchen auf dem Arm, eine Zelle in der Iris der Augen, eine auf Hormonproduktion spezialisierte Zelle im Gehirn oder auch eine sich kontrahierende Zelle im Herzmuskel. Ist aus den Zellen aber etwas geworden, können sie üblicherweise nicht mehr zurück. Wenn im Gehirn durch die Parkinsonkrankheit die Nervenzellen zugrunde gehen, die den Botenstoff Dopamin produzieren, kann keine andere Zelle des Körpers für sie einspringen.

Und könnte man sie doch irgendwie dazu bringen? Diese Idee begeisterte Yamanaka, der während seiner gesamten Karriere - für Wissenschaftler insgesamt und für japanische Wissenschaftler ganz besonders - extrem unorthodox zwischen den verschiedensten Ausrichtungen seines Fachs hin und her wechselte. Begonnen hatte er als orthopädischer Chirurg, dann wurde er Pharmakologe, und seit er die Chancen der Zellforschung erkannt hat, fasziniert ihn nichts so sehr wie dieses Thema.

Nur zu gut kannte Shinya Yamanaka die Forschungsarbeiten von John Gurdon, mit dem er sich nun den Nobelpreis teilt. Gurdon, der an der Universität Oxford studierte und heute in Cambridge lehrt, hatte schon 1962 festgestellt, dass die Spezialisierung von Zellen rückgängig gemacht werden kann, wenn man nur an den richtigen Schaltern dreht.

In seinem wichtigsten Experiment entnahm Gurdon ein Ei aus dem Laich eines Afrikanischen Krallenfrosches und entfernte dessen Zellkern - jene Steuerungszentrale der Zelle also, die die Gene enthält. In die kernlose Zelle setzte er dann einen Zellkern aus dem Dünndarm eines ausgewachsenen Frosches. Und siehe da: Das Ei - halb Tier, halb Darm - entwickelte sich zu einer ganz normalen Kaulquappe.

Der heute 79-jährige Gurdon widerlegte damit ein Dogma der Biologie, wonach jede Zelle ein Schicksal habe, dem sie nicht entrinnen könne. Am Anfang war seine Arbeit mit großer Skepsis betrachtet worden. Aber dann wiederholten andere Wissenschaftler seine Experimente. Lehrbücher mussten umgeschrieben werden; die Technik wurde weiterentwickelt und führte letztlich zum Klonen von Säugetieren. Ganz offensichtlich enthielt die Darmzelle in ihrem Zellkern immer noch alle Informationen, die auch jungfräuliche Froschzellen enthalten.

Sollten diese Informationen nicht mit den Kniffen der modernen Biologie hervorzukitzeln sein? Das fragte sich Yamanaka rund 40 Jahre später. Sie sollten es. Tatsächlich gelang es ihm im Jahr 2006, Hautzellen von Mäusen in den quasi-embryonalen Zustand zu versetzen. Ein Jahr später folgte das gleiche Experiment mit Menschenzellen. Alle möglichen Zelltypen, wie Muskeln und Nerven, konnten nun aus ihnen entstehen. Die internationale Fachwelt jubelte. Der Weg schien geebnet, um eines Tages aus der Haut von Patienten Alleskönner-Zellen zu züchten, mit denen sich das kranke Gewebe der Patienten ersetzen ließe - nach einem Herzinfarkt etwa, bei Parkinson oder Diabetes. Die Technik würde auch die Gewinnung von ethisch umstrittenen Stammzellen aus Embryonen, auf die Wissenschaftler ähnlichen Hoffnungen setzen, überflüssig machen.

Yamanakas verjüngte Zellen haben den embryonalen Stammzellen gegenüber gleich zwei Vorteile: Sie sind ethisch über jeden Zweifel erhaben, weil dafür nur ein bisschen Haut des Patienten gewonnen werden muss und keine Embryonen zerstört werden; und zweitens würde der Patient Transplantate aus solchen Zellen nicht abstoßen, weil sie letztlich aus seiner eigenen Haut gewonnen wurden.

Allerdings hatte Yamanaka für sein Ziel brachiale Methoden angewendet. Er traktierte die Hautzellen mit Retroviren, in die er vier Gene namens c-Myc, Oct-4, Sox2 und Klf4 eingebaut hatte. Dieses Quartett war offenbar für die Wandlungsfähigkeit embryonaler Zellen verantwortlich und ist in ausgewachsenen Zellen normalerweise abgeschaltet. Allerdings handelt es sich durchaus um Faktoren, die kein Erwachsener gerne in seinen Genen angeschaltet hat. Denn sie können Krebs verursachen. Das wusste auch Yamanaka. Für ihn war das Experiment ohnehin nur der Anfang. Er arbeitet bereits daran, iPS-Zellen auch ohne Retroviren und gefährliche Faktoren zu gewinnen.

Anders als bei Gurdon, dessen Ergebnisse zunächst angezweifelt wurden, wurde Yamanaka von Anfang an gefeiert. "Was wir alle dachten, das unmöglich wäre, hat er möglich gemacht", sagt der Düsseldorfer Stammzellforscher James Adjaye. Gleich nach Erscheinen galt seine erste Arbeit zu den iPS-Zellen als Durchbruch. Seine Risikofreudigkeit habe ihn erfolgreich gemacht, ist Yamanaka selbst überzeugt. Er hatte sein Leben als Chirurg genossen, aber bald fühlte er sich dabei eingeengt. Er wollte lieber forschen. "Ich mochte die Freiheit der Wissenschaft", sagte er einmal. Er wollte das Risiko suchen und plötzlichen Launen folgen können, was bei der Behandlung von Patienten nun einmal unmöglich war.

Atemraubend war nicht nur, dass es ihm gelang, Hautzellen zu Embryo-ähnlichen Zellen mit gigantischem Entwicklungspotenzial zu machen, sondern auch, wie schnell ihm das glückte. Schließlich gab es Hunderte möglicher Gene, deren Kombinationen alle zu testen ein Ding der Unmöglichkeit war. Yamanaka setzte auf keine besonders wissenschaftliche Methode: Er suchte aus den Hunderten 24 Gene aus, indem er seinem Bauchgefühl folgte. Und unter diesen 24 fand er tatsächlich vier Richtige. "Ich habe einfach Glück gehabt und das richtige Los gekauft", sagt er.

An seiner Universität gilt Yamanaka als ebenso kreativer wie exzentrischer Superstar. Er ist dafür bekannt, dass er Kollegen vor den Kopf stößt, die gerne mit ihm Mittagessen gehen würden. Denn der ehrgeizige Yamanaka speist lieber allein - so kann er während der Mittagspause weiterarbeiten. Schon nach seinen Entdeckungen war er berühmt geworden. Journalisten und andere Interessierte belagerten ihn. Das gefiel Yamanaka nicht besonders. Er sei müde ob all dieser Aufmerksamkeit, weil sie ihn von seiner Arbeit abhalte, beklagte er immer wieder. In den kommenden Wochen und Monaten dürfte es ihm nicht gerade besser ergehen.

Die Verleihung des Nobelpreises erfolgt wie jedes Jahr am 10. Dezember, dem Todestag des Stifters Alfred Nobel. Die höchste Auszeichnung auf dem Gebiet der Medizin ist diesmal mit umgerechnet 930.000 Euro (acht Millionen Schwedische Kronen) dotiert. Damit vergibt die Stiftung ein Fünftel weniger Geld als in den Jahren zuvor. Das Stiftungskapital hatte unter der Wirtschafts- und Finanzkrise gelitten.

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Quelle:
SZ vom 09.10.2012/beu
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