Medizin:Der Mensch auf dem Chip

Medizin: Ein Organoid unterm Mikroskop

Ein Querschnitt durch ein Hirn-Organoid. Wissenschaftler wollen solche Mini-Organe künftig miteinander verbinden.

(Foto: Madeline A. Lancaster/dpa)
  • Forscher erschaffen mittlerweile nicht nur Mini-Organe, sondern setzten sie auch gemeinsam auf Mikrochips.
  • Sie hoffen, bald alle wichtigen Organsysteme zu verknüpfen und den ganzen Menschen auf einem Biochip zu studieren, um Krankheiten besser zu erforschen und Medikamente zu prüfen.
  • Damit können womöglich auch Tierversuche eingespart werden.

Von Astrid Viciano

Als diese Nachricht die Runde machte, weckte sie große Träume. Erstmals war ein menschliches Organ in Miniatur im Labor herangewachsen. Was würde nun alles möglich sein! Mediziner könnten künftig das Zusammenspiel verschiedener Zellen im Labor beobachten und endlich die Entwicklung sowie Funktion von Organen im Detail verstehen. Wissenschaftler züchteten nun Mini-Lebern und -Bauchspeicheldrüsen, winzige Harnblasen und Plazentas. Kürzlich gelang es erstmals, menschliche Blutgefäße als Mini-Organe im Labor zu gewinnen.

Inzwischen kombinieren Mediziner und Biologen verschiedene Minigebilde im Labor miteinander, um deren Interaktion zu verstehen. Gemeinsam mit Ingenieuren setzen sie ihre Züchtungen sogar auf Mikrochips. So wollen sie auch die natürliche Umgebung der Organe im Körper simulieren. Wenn es nach manchen Wissenschaftlern geht, können sie bald alle wichtigen Organsysteme verknüpfen und den ganzen Menschen auf einem Biochip studieren, um Krankheiten besser zu erforschen und Medikamente zu prüfen.

"Diese neuen Technologien haben das Potenzial, die Arzneimittelentwicklung zu revolutionieren", sagt Peter Loskill, Bioingenieur am Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB in Stuttgart und der Universität Tübingen.

Bislang liegen die Entwicklungskosten für ein zugelassenes, neuartiges Medikament bei bis zu 2,8 Milliarden Euro. "Diese immensen Kosten möchte die Industrie natürlich reduzieren", sagt Marlon Schneider vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) in Berlin. Noch sind Forscher auf Tierversuche angewiesen, um die Wirkungen neuer Substanzen zu prüfen. Erst wenn sie sich in den Tierexperimenten als sicher erweisen, dürfen sie am Menschen getestet werden. Doch die Testreihen im Tier sagen oft wenig über die Prozesse im menschlichen Körper aus. Von zehn Stoffen, die in Tieren wirken, fallen neun in Tests am Menschen durch. Manchmal mit schrecklichen Folgen für die Probanden.

Nach den gesetzlich vorgeschriebenen Tierversuchen gelangen die Wirkstoffe in die Phase 1 der klinischen Medikamentenprüfung, den ersten Tests am Menschen. An gesunden Probanden müssen Mediziner dann prüfen, was der Wirkstoff im Körper bewirkt und, vor allem, wie gut ihn die Menschen vertragen. Hier kommt es manchmal zu unvorhergesehenen Nebenwirkungen, zum Beispiel vor mehr als zehn Jahren mit dem Antikörper TGN1412.

Ihre Köpfe und Nacken schwollen gespenstisch an, einige erlitten ein Multiorganversagen

In Ratten und Mäusen hatte die neue Substanz Autoimmunerkrankungen wie rheumatoide Arthritis und Multiple Sklerose bekämpfen können. Nebenwirkungen waren nicht aufgetreten. Selbst in Tests an Affen mit dem 500-fachen der geplanten Dosis waren keine ungewöhnlichen Reaktionen aufgefallen. In den ersten klinischen Tests an Menschen in einem britischen Krankenhaus wanden sich jedoch die Probanden schon nach wenigen Minuten vor Schmerzen, kurz nach der Injektion des Antikörpers. Ihre Köpfe und Nacken schwollen gespenstisch an, einige erlitten ein Multiorganversagen. "Die Übertragbarkeit der Ergebnisse von Studien im Tierversuch auf den Menschen zu steigern, ist enorm wichtig", sagt Schneider.

Daher möchten Forscher neue Substanzen künftig an Mini-Organen testen. Dafür betten sie zunächst humane Stammzellen im Labor in ein Gel ein. Darin wachsen die Organoide heran, so klein, dass sie mit bloßem Auge nur als schwarze Punkte zu erkennen sind.

Unter dem Mikroskop zeigt sich, dass die Mini-Organe die wesentlichen Strukturen des echten Organs enthalten. Daher sollten die Organoide im Labor auf Medikamente genauso reagieren wie das echte Organ im Körper. Für Menschen mit Mukoviszidose, einer seltenen Erbkrankheit, konnte der niederländische Mediziner Hans Clevers das bereits zeigen.

Gemeinsam mit seinen Kollegen am Hubrecht Institut in Utrecht züchtete er Stammzellen aus dem Enddarm der Patienten und prüfte an den daraus entstandenen Mini-Organen neue Wirkstoffe. "Was im Organoid Wirkung zeigte, half tatsächlich auch den Patienten", sagt Clevers. In einer europaweiten Studie wollen sie das an den Minidärmen von 500 Mukoviszidose-Patienten untersuchen und damit eine der dringendsten Fragen endgültig beantworten: Ob die Mini-Organe tatsächlich das Innenleben der echten Organe abbilden.

Eine Pumpe soll Flüssigkeit durch die winzigen Blutgefäße auf dem Biochip strömen lassen

Sollten sie sich auszeichnen, könnten die Organoide künftig eine Art Vorstufe zu den gesetzlich vorgeschriebenen Tierversuchen darstellen: "Nur diejenigen Wirkstoffe, die sich im Organoid bewähren, würden tatsächlich im Tierversuch geprüft werden", sagt der Tiermediziner Marlon Schneider. Das allein würde die Anzahl der Experimente an Ratten und Mäusen drastisch reduzieren.

Viele Forscher möchten aber noch mehr erreichen. Sie wollen mehr darüber wissen, wie eine Substanz auf verschiedene Organe wirkt und auf deren Zusammenspiel untereinander. Daher beginnen Wissenschaftler heute, die winzigen Gebilde im Labor miteinander zu verbinden. Der Biotechnologe Reiner Wimmer vom Institut für Molekulare Biotechnologie in Wien hatte im Januar im Fachblatt Nature über die ersten Miniblutgefäße aus dem Labor berichtet. Nun will er diese mit anderen Organoiden kombinieren. "Blutgefäße sind für die Instandhaltung aller unserer Organe essenziell, da sie unsere Zellen mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgen oder auch Immunzellen transportieren", sagt Wimmer.

Dabei möchte er sich möglichst nahe an der menschlichen Entwicklung orientieren. Das Gehirn zum Beispiel entsteht in der Embryonalentwicklung anfänglich ohne Blutgefäße. Erst später sendet das Hirngewebe Botenstoffe aus, um Blutgefäße anzulocken. Die wandern dann von außen ins Hirngewebe ein. Diesen Prozess möchte Wimmer in der Kulturschale nachspielen, indem er seine Miniatur-Blutgefäße mit Minigehirnen verbindet. "Wir erwarten, dass die Gehirn-Organoide ähnliche Signale produzieren wie in der menschlichen Entwicklung", sagt Wimmer.

Der Biotechnologe möchte aber noch einen Schritt weiter gehen. Er wird sein Miniblutgefäß auf einen Biochip setzen, um es über Minipumpen mit Flüssigkeit zu durchströmen. So kann er unter sehr kontrollierten Bedingungen zum Beispiel herausfinden, wo und wann sich die Immunzellen bei einer Entzündungsreaktionen an die Gefäßwand heften. In Zukunft, da ist sich Wimmer sicher, werden Organoide und Organ-on-a-chip-Technologien miteinander verschmelzen.

Damit hat der Bioingenieur Peter Loskill bereits begonnen. Er arbeitet daran, Leberzellen und Fettgewebe miteinander zu kombinieren. Auch die Netzhaut und die Aderhaut des menschlichen Auges versucht er derzeit, auf einem Chip miteinander zu verbinden. "Wir wollen das Wachstum der Stammzellen und deren Entwicklung in Organoiden gezielt steuern", sagt Loskill. Im Gegensatz zum Labor spielen im menschlichen Körper bei der Organentwicklung nicht allein Wachstumsfaktoren eine Rolle, sondern auch Einflüsse des benachbarten Gewebes.

Erst dann können die Wissenschaftler verschiedene Szenarien im Körper exakt nachahmen. "Wenn wir die Prozesse im Organ genau kennen, dann können wir sie gezielt aus dem Gleichgewicht bringen, Krankheiten erforschen und Medikamente testen", sagt Loskill. Am Wyss-Institut in Boston etwa haben Forscher bereits ein Lungenmodell entwickelt, das nicht nur die Atmung in den Lungenbläschen simuliert. Selbst ein Lungenödem konnten sie in einem solchen Mikrochip auslösen und erfolgreich behandeln.

Die Firma TissUse in Berlin hat bereits 16 einzelne Organmodelle entwickelt, zum Teil direkt mit Zellen aus dem menschlichen Körper, zum Teil mit Zellverbänden, die weniger komplex sind als die klassischen Organoide. Chips mit maximal vier Gewebekombinationen sind bereits gelungen. Jedes Mal brauchen die Wissenschaftler zwei bis drei Monate, um ein Nährmedium zu finden, das allen Geweben der Kombination gut bekommt. "Ähnlich wie die Haut im Körper andere Bedürfnisse im Körper hat als die Leber, gilt das auch auf dem Mikrochip", sagt der Geschäftsführer der Firma, Uwe Marx.

Noch sind Tierversuche nötig. Doch die Firmen setzen die Chips bereits in Experimenten ein

Bald möchte Marx zehn Organsysteme miteinander kombinieren, darunter die Lunge, den Darm, die Niere, das Immunsystem. Dieser Human-on-a-chip, also Mensch auf dem Chip, wäre über einen künstlichen Kreislauf versorgt. Bislang können Bioingenieure in kleinen Kanälen der Mikrochips den Blutfluss der echten Organe simulieren.

Marx möchte aber auch die Kapillaren, haarfeine Blutgefäße, des menschlichen Körpers nachbauen, um die Verästelungen der Blutversorgung auf den Chips zu imitieren. "Geben Sie uns noch ein Jahr, dann sind wir soweit", sagt Marx. Längst arbeitet er mit der Pharmaindustrie zusammen, um auf deren Wunsch immer neue Verknüpfungen zu schaffen. Die Firmen setzen die Biochips dann für interne Experimente ein, für die Arzneimittelzulassung müssen sie bislang noch immer Experimente an Tieren nachweisen.

Bis zum Jahr 2030 könne man 70 Prozent aller Tierversuche durch Multi-Organchips ersetzen, glaubt Marx. Andere Kollegen wie Marlon Schneider vom BfR sind hingegen skeptisch. Im Jahr 2017 fanden allein 50 Prozent der Experimente an Versuchstieren in der Grundlagenforschung statt, ergab der aktuellste Bericht des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Biochips sind aber bislang überwiegend für Tests zur Wirksamkeit gedacht oder zu möglichen Risiken von Medikamenten. "Für die Grundlagenforschung sind sie bislang weniger geeignet", sagt Schneider. Langfristig sieht der Tiermediziner durchaus ein enormes Potenzial der Chip-Technologien, doch seien sie noch nicht so weit. "Man kann Tierversuche nicht um jeden Preis ersetzen", sagt er. Schließlich gehe es um die Sicherheit der Patienten.

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