Süddeutsche Zeitung

Medizin des Schreckens:Operiert bei vollem Bewusstsein

Lesezeit: 6 Min.

Es ist eine Horrorvorstellung, aber real: Trotz aller Bemühungen von Anästhesisten werden immer wieder Patienten während der Narkose wach.

Werner Bartens

Der Eingriff verlief erfolgreich - zumindest aus Sicht der Ärzte. Wie der Patient die Operation verkraftete, ist nicht genau überliefert. Der 20-jährige schwindsüchtige Buchdrucker Gilbert Abbott gilt als der erste Kranke, der eine Vollnarkose bekam. Am 16. Oktober 1846 ließ ihn der Zahnarzt William Morton im Massachusetts General Hospital zu Boston Äther inhalieren - und Abbott verfiel in einen Dämmerschlaf.

Der Chefarzt der Chirurgie, John Collins Warren, nahm den Eingriff selbst vor und entfernte dem Patienten vor Publikum im Hörsaal eine Zyste am Hals. Gegen Ende der fünfminütigen Operation regte sich Abbott jedoch und gab unklare Laute von sich. Anschließend berichtete er, dass er während des Eingriffs zwar schmerzfrei war, aber Geräusche und "undeutlich das Schaben eines Messers gehört" habe.

Seit ihren Anfängen kämpft die Anästhesie damit, dass Patienten während der Betäubung wach werden und sich noch lange danach an grausige Details erinnern können. Dies ist keineswegs nur ein Problem aus den Pioniertagen der Disziplin, als die Narkosetiefe oft Glückssache war und manche Patienten Qualen litten, weil sie zu wenig Betäubungsmittel erhielten, während andere zu viel bekamen und nie wieder das Bewusstsein erlangten.

Auch heute noch werden jährlich bis zu 16.000 Patienten in Deutschland während einer Vollnarkose wach, für kurze Phasen oder auch über einen längeren Zeitraum. Im Extremfall erleben sie die ganze Operation bei vollem Bewusstsein mit - ohne sich bewegen, reden oder anderweitig äußern zu können.

"Das ist eine der schlimmsten Befürchtungen von Patienten und trifft eine Urangst", sagt Martin Sack, Oberarzt für Psychosomatik an der TU München und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychotraumatologie. "Das möchte man auf keinen Fall erleben." Mit dem Anästhesisten Gerhard Schneider hat Sack ein Buch über unerwünschte intraoperative Wachheit geschrieben - darin geht es um Wahrnehmungen während der Anästhesie und mögliche Folgen wacher Phasen auf die Psyche, die eine traumatherapeutische Behandlung erforderlich machen können.

Bekannt ist das Problem Ärzten schon lange. In den 1970er und 1980er Jahren nahmen Anästhesisten an, dass ein Prozent der Patienten während eines chirurgischen Eingriffs während der Narkose wache Momente hatte. Bezogen auf jährlich ungefähr acht Millionen Operationen mit Vollnarkose allein in Deutschland würde dies bedeuten, dass bis zu 80.000 Patienten während der Betäubung nicht durchgängig in den wahrnehmungslosen Dämmerschlaf verfielen, der ihnen Schmerzfreiheit garantieren sollte.

Jährlich 500 Menschen sind nach einer OP traumatisiert

Mittlerweile haben aktuelle Studien aus Skandinavien, Australien und den USA gezeigt, dass wohl "nur" 0,1 bis 0,2 Prozent der Patienten die von Medizinern als Awareness bezeichneten Wachphänomene erleben. Beständig wurden Narkosemittel verbessert und Dosierungen verfeinert. Anästhesisten wissen um das Risiko zu leichter Narkosen und bestimmter Betäubungsmittel.

Doch für den Narkosearzt ist es nicht leicht, Phasen der Wachheit während der Operation zu erkennen. Der Patient bewegt womöglich die Zehen ein wenig, die Narkose ist dann etwas flacher und der Anästhesist dosiert das Betäubungsmittel nach. Doch was bekommt der Patient gerade mit? Es wird Ärzten empfohlen, die Narkosegaskonzentration und das EEG eng zu überwachen, um zu verhindern, dass die Betäubten etwas spüren. Eine allgemein anerkannte Maßeinheit für die Tiefe der Narkose oder gar Normwerte existieren jedoch nicht. Blutdruck, Herzfrequenz und Schwitzen zeigen nur ungenau an, ob Patienten keine Schmerzen empfinden, ihre Muskeln nicht mehr angespannt sind und wie hoch der Grad ihres Bewusstseinsverlusts gerade ist.

Kinder scheinen doppelt so häufig wie Erwachsene von wachen Phasen während der Operation betroffen zu sein, was daran liegt, dass sich Medikamente schneller in ihrem Körper umverteilen und eine konstante Konzentration daher schwieriger zu erreichen ist. Auch bei Notoperationen, Eingriffen in der Nacht und Entbindungen per Kaiserschnitt kommt unerwünschte Wachheit statistisch häufiger vor, denn in allen drei Fällen wird öfter eine zu geringe Dosis Betäubungsmittel gewählt.

Bei Drogenabhängigen wirken Anästhetika oft schlechter. Von bedauerlichen Einzelfällen mag man bei unerwünschter Wachheit während der Narkose nicht sprechen. Eine Häufigkeit von 0,1 bis 0,2 Prozent hört sich zwar niedrig an. Es bedeutet aber, dass es jährlich immer noch bei 8000 bis 16.000 Patienten in Deutschland zu wachen Phasen während der OP kommt.

"Es gibt eine große Spannbreite der Awareness-Erfahrungen", sagt Sack. "Manche Patienten erleben die Operation bei vollem Bewusstsein, andere bekommen für kurze Zeit unterschwellig etwas mit und können die Ängste, Unruhe und Schlafstörungen, die nach dem Eingriff auftreten, nicht zuordnen." Schwer betroffen von langen Phasen der Wachheit während der Narkose ist aber nur ein kleiner Teil der Patienten - Experten schätzen, dass jährlich 500 Menschen in Deutschland trotz Betäubung so viel von dem Eingriff mitbekommen, dass sie traumatisiert sind und therapeutischer Behandlung bedürfen, weil sie sich immer wieder quälend an das Erlebnis erinnern.

Nicht bei allen Betroffenen ist die Erfahrung so traumatisch wie bei jener medizinischen Fachangestellten, die vor längerem im British Journal of Anaesthesia ihre Operation beschrieben hat: Die junge Frau wurde für den Kaiserschnitt narkotisiert, doch nach ein paar Minuten hörte sie verschiedene Stimmen. "Ich verstand augenblicklich meine Lage: Ich lag hier intubiert, bedeckt mit grünen Tüchern, mein Bauch aufgespalten, fremde Leute in mir grabend, Blut, Tupfer in den Klemmen. Der beste Vergleich, der mir dazu einfällt, ist in einem Sarg zu liegen, lebendig begraben."

Dass sie während der Narkose wach werden, befürchten viele Patienten. "Diese Bedenken sind nicht ganz unbegründet, denn trotz modernster anästhesiologischer Technik kommt Wachheit während der Narkose immer wieder vor", schreiben die Anästhesistinnen Petra Bischoff vom Universitätsklinikum Bochum und Ingrid Rundshagen von der Charité in Berlin im Deutschen Ärzteblatt von nächster Woche. Am häufigsten nehmen Patienten während der Betäubung Geräusche wahr - das ist plausibel, denn Anästhetika wirken nicht direkt auf die Hörfunktion, sondern nur indirekt auf die Signalverarbeitung im Gehirn.

"Akustische Abschirmung vom Geräuschpegel im OP-Bereich oder Musikangebote über Kopfhörer scheinen überaus wichtig zu sein, um Awareness vorzubeugen", so Bischoff und Rundshagen. Um unangenehme Erlebnisse und Erinnerungen der Patienten zu vermeiden, ist auch eine erhebliche Selbstdisziplin der Ärzte und Pflegekräfte im Operationssaal nötig. Laute Gespräche oder gar der berüchtigte Kasernenton mancher Chirurgen können bis zu den narkotisierten Patienten vordringen und sie dauerhaft verschrecken.

Der Kasernenton mancher Chirurgen erschreckt die Patienten

Für den praktischen Umgang im OP empfehlen Bischoff und Rundshagen zudem, auf die Wortwahl zu achten. Einzelne Wörter kommen in der Narkose offenbar eher an als ausformulierte Sätze. Wenn der Patient in den Dämmerzustand entgleitet, ist der Satz "Sie werden keine Schmerzen haben" ungünstig, weil das negative Reizwort "Schmerz" zu dem Kranken vordringen könnte.

"Gleich werden Sie nichts mehr spüren" vermittelt - neutraler ausgedrückt - die gleiche Botschaft. "Negative Begriffe wie Schmerz, Krebs, inoperabel oder zwecklos können daher als Negativsuggestion auf die anästhesierten Patienten wirken." Genau weiß man das nicht, doch Forscher haben erkannt, dass implizite Erinnerungen auch bei fehlendem Bewusstsein im Gedächtnis platziert werden können. Bischoff und Rundshagen sprechen von "Grauzonen in den Grenzbereichen der Wahrnehmung".

Damit Patienten, die während der Narkose wach geworden sind, ihre Erfahrungen gut verarbeiten, ist der behutsame Umgang damit in der Klinik wichtig. "Viele Betroffene zweifeln an sich und geben sich selbst die Schuld", sagt Sack. Solche Patienten gelten im Krankenhaus schnell als schwierig, dabei haben sie nur Furchtbares erlebt - oft, ohne davon zu wissen. "Wenn das Personal nachfragt, wie die Operation erlebt wurde, öffnen sich die Patienten zumeist", sagt Sack. "Viele Patienten realisieren erst dann, dass bei dem Eingriff wohl etwas schief gelaufen ist." Reagieren Ärzte und Pflegende hingegen ruppig und der Zwischenfall wird übersehen, verfestigt sich das Trauma bei den Patienten und sie verlieren ihr Vertrauen in die Mediziner.

Bischoff und Rundshagen empfehlen fünf Standardfragen nach jeder Operation, um unerwünschte Wachheit zu erfassen: Was war das Letzte, an das Sie sich erinnern vor dem Einschlafen? Was das Erste nach dem Aufwachen? Erinnern Sie sich an etwas dazwischen? Haben Sie etwas geträumt oder wahrgenommen? Und was war das Unangenehmste während der Operation? "Völlig ausschließen lässt sich unerwünschte Wachheit aber leider nicht, auch wenn von medizinischer Seite alles richtig gemacht wird", sagt Sack. "Aber man kann das Risiko vorher minimieren - und für die Belastungen hinterher ist der Umgang nach einem solchen Ereignis entscheidend."

Noch ist es in Deutschland nicht vorgeschrieben, vor einer Operation über das Risiko wacher Phasen aufzuklären - in Österreich hingegen schon. Einiges spricht für die Information der Patienten. Zwar ängstigen sie sich womöglich stärker, wenn ihnen gesagt wird, dass sie während der Narkose wach werden können. Andererseits kann es die Patienten beruhigen, wenn sie um diese Möglichkeit wissen und darum, dass die Erfahrung zwar unangenehm, aber nicht lebensbedrohlich ist - und dass sie nicht an sich zweifeln brauchen und auch keine Sorge haben müssen, den Verstand zu verlieren.

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Quelle:
SZ vom 08.01.2011
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