Medizin:Blick ins Blut

Ein paar Milliliter des Lebenssaftes reichen, um Zustand und Zukunft eines Menschen zu analysieren? Solche Versprechen sind unseriös, warnen Experten.

Wiebke Rögener

Das Konzept klingt Erfolg versprechend. Man warnt vor einem möglichst bedrohlichen Unheil und bietet dann eine einfache Lösung an. Die Kundschaft lässt garantiert nicht lange auf sich warten.

"Allein in den USA wird in diesem Jahr bei 1,4 Millionen Menschen Krebs diagnostiziert. Weitere 17 Millionen werden herzkrank", prophezeit die texanische Biophysical Corporation - und verspricht dem besorgten Publikum ihrer Webseite eine nahezu einmalig große Chance: Für je 3400 Dollar untersucht die Firma das Blut ihrer Kunden in 250 verschiedenen Tests auf Substanzen, die Infarktrisiken, Krebsleiden, Stoffwechselstörungen, Infektionen oder Vitaminmangel anzeigen können.

Es ist weltweit wohl das größte Angebot einer Branche, die nicht nur in Amerika gewaltig boomt. Nach einem Blick ins Blut verraten private Diagnosezentren auch in Europa angeblich, wie es um die gesundheitliche Zukunft ihrer Kunden steht. Seit einigen Jahren wächst die Zahl äußerlich kerngesunder Menschen, die in Deutschland auf solche Offerten vertrauen, auf Manager-Check-ups und Gesundheitskontrollen, die man bereits als Gutschein zum Geburtstag verschenken kann. Krankenkassenangebote zur Früherkennung bleiben derweil ungenutzt. Nicht einmal jeder zehnte Berechtigte ließ sich in den vergangenen Jahren etwa zur Krebsvorsorge den Darm spiegeln.

Jeder zwanzigste Gesunde liegt außerhalb der Norm

Denn für eine Extrasumme bekommt man vermeintlich umfassendere Prognosen auf bequemere Weise. Darin sehen Experten eine Gefahr: Die Bluttests seien oft unnütz und nicht ohne Risiko, sagt Jürgen Windeler, Leitender Arzt des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen. "Wenn man 250 Laborwerte bestimmen lässt, ist statistisch sehr wahrscheinlich ein pathologisches Ergebnis dabei." Weil Werte in der Regel als normal gelten, wenn sie bei 95 Prozent aller Gesunden anzutreffen sind, liegt rechnerisch jeder zwanzigste Gesunde außerhalb der Norm.

Wer ohne Beschwerden zum Arzt geht, um sich nur mal checken zu lassen, wird so schnell vom Gesunden zum behandlungsbedürftigen Patienten. So schafft der private, "zweite Gesundheitsmarkt" neue Kunden - und wächst stetig: von 4,2 Prozent am Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2000 auf 6,6 Prozent bis 2010, erwartet das Deutsche Institut für Privatmedizin. Der Anteil des ersten, von den Krankenkassen finanzierten Gesundheitsmarkts werde dagegen bei etwas mehr als sechs Prozent stagnieren.

Die Hersteller von Diagnosemitteln sehen die Entwicklung ähnlich: Für das Jahr 2007 erwarten sie ein Umsatzplus von fünf Prozent, zugleich aber ein rückläufiges Geschäft mit den gesetzlichen Krankenversicherungen. Unter "Individuelle Gesundheitsleistungen", kurz Igel, firmieren die privaten Zusatzangebote, die Ärzte ihren Patienten am Rande der Kassenvorsorge immer häufiger unterbreiten.

Die Kasse übernehme nur die Bestimmung von Cholesterin- und Blutzuckerwerten, sagen die Mediziner, dabei seien noch viele andere Blutwerte bedeutsam: Zu den gesuchten Substanzen, Biomarker genannt, gehören Eiweiß- und Zuckermoleküle, die von Krebszellen produziert werden.

Homocysteinwerte zählen dazu, die etwas über Herzinfarktrisiken verraten sollen. Antikörper sollen auf Allergien hinweisen. Das prostataspezifische Antigen soll über den Zustand der Vorsteherdrüse genaueren Aufschluss geben als bloßes Abtasten und viel C-reaktives Protein soll Entzündungen anzeigen.

Wer wissen will, ob solche Risikomoleküle in seinem Blut kreisen, muss die Untersuchung selber zahlen - auf Empfehlung von Unternehmen wie der Biophysical Corporation am besten alle zwei bis drei Jahre. Wird es also frühzeitige Diagnostik und damit rechtzeitige Therapie bald nur noch für Besserverdienende geben? Und sollten die Kassen nicht auch zum eigenen Vorteil mehr in die Prävention durch Bluttests investieren und so an späteren Behandlungskosten sparen?

Jürgen Windeler bezweifelt das. Früherkennung lohne sich für Patienten nur, wenn es auch eine wirksame Therapie gebe: "Ohne geeignete Handlungsoptionen ist es ja nichts Gutes an sich, wenn ich erfahre, dass ich möglicherweise irgendeine Krankheit habe oder wahrscheinlich bekommen werde." Ob die ständig wachsende Schar neuer Biomarker wirklich sinnvolle Prognosen ermöglicht, ist aus vielen Gründen ohnehin fragwürdig. So weist etwa das C-reaktive Protein kaum eindeutig auf nur eine einzige Erkrankung hin. Das Eiweiß wird in der Leber gebildet. Ist zu viel davon im Blut, kann sich gerade eine Blinddarm-, Hirnhaut- oder Lungenentzündung entwickeln oder ein grippaler Infekt oder ein Tumor.

Auch Hormone werden gegen Geld gemessen

Hohe CRP-Werte gelten als Risikofaktor für Herz-Kreislauf- Erkrankungen, und auch bei Rauchern sind die Werte erhöht. Selbst die Hoffnung, anhand von CRP-Werten zwischen einer Virusinfektion und einer durch Bakterien ausgelösten Entzündung unterscheiden zu können, hat sich nach einer Studie niederländischer Forscher nicht bestätigt. Die Bestimmung von CRP im Blut ist daher unsinnig, wenn kein konkreter Verdacht auf eine Erkrankung besteht. Im Rahmen von Manager- Check-ups, Anti-Aging-Profilen oder Immunstatus- Bestimmungen wird der CRP-Test Selbstzahlern trotzdem angeboten.

Auch Hormone werden gerne gegen Geld gemessen - etwa Testosteron beim Mann oder Östradiol bei der Frau. Anti- Aging-Diagnostik heißt die Prozedur. Das Altern kann sie nicht verhindern, sondern nur bestätigen, was ohnehin jeder weiß: Mit den Jahren lässt die Produktion der Sexualhormone nach. Krankhaft ist das jedoch nicht und bedarf keiner Behandlung, solange keine starken Beschwerden auftreten.

Als ebenso wenig aussagekräftig hat sich die Bestimmung des sogenannten Rheumafaktors erwiesen. Er ist auch bei vielen Gesunden erhöht, aber längst nicht bei allen Rheumakranken. Spezifischer sind zwar die Antikörper gegen ein Peptid, das bei rheumatoider Arthritis oft im Blut nachweisbar ist. Doch auch dieser Marker allein beweist noch keine Erkrankung.

Bei Menschen ohne Symptome ist die Bestimmung daher sinnlos. Unsinnig, vergebens, ohne Zweck: Die Kritik trifft auf den Nachweis vieler Biomarker zu - auch auf jene, die vor Gefahren für Herz und Kreislauf warnen sollen.

Im Rahmen der sogenannten Framingham-Studie, die seit mehr als einem halben Jahrhundert Ursachen für den Herzinfarkt nachgeht, ermittelten amerikanische Mediziner: Selbst wenn zehn Biomarker im Blut gleichzeitig bestimmt werden, erfahren Arzt und Patient dadurch kaum mehr als durch eine herkömmliche Untersuchung. Gemessen wurden unter anderem CRP und verschiedene Peptide, die ein Infarktrisiko anzeigen sollen.

Zusätzlich bestimmten die Forscher das Verhältnis von Albumin und Kreatinin im Urin, um die Nierenfunktion zu prüfen. Das Ergebnis: Viele dieser Moleküle, darunter CRP, sagten überhaupt nichts darüber aus, welche der 3200 Studienteilnehmer einen Herzinfarkt erleiden würden. Bei fünf Markern war zwar ein schwacher statistischer Zusammenhang nachweisbar. Für den einzelnen Patienten aber ist das eine Erkenntnis fast ohne Wert. Denn der Einfluss durch Rauchen, Übergewicht oder einen hohen Cholesterinspiegel ist so viel größer, dass die Biomarker kaum etwas Zusätzliches verraten.

Bevor solche Biomarker individuelle Prognosen gestatten werden, bleibe noch viel zu tun, sagt der Biostatistiker James Ware von der Harvard School of Public Health in Boston. Seine Kritik ist auch auf Bluttests gemünzt, in denen die Aminosäure Homocystein gesucht wird: ein angeblich Infarktrisiken anzeigender Biomarker mit sehr beschränktem Wert, wie die Framingham- Studie zeigt, der aber heute bei kaum einem Manager-Check-up oder einem Vorsorge- Plus-Paket ausgelassen wird.

Tumormarker-Tests als "Schrotschuss"

Wenn die Bluttests auf so breiter Basis versagen, können sie dann wenigstens Tumore aufspüren helfen? Krebszellen produzieren eine Reihe charakteristischer Moleküle, und ein breites Spektrum von Tumormarker-Tests werde mittlerweile "quasi als Schrotschuss" vermarktet, sagt Jürgen Windeler.Einige Praxen werben im Internet für "Krebsvorsorge mit Tumormarkern" in Bezug auf Prostata, Dickdarm, Magen, Leber, Bauchspeicheldrüse, Nieren, Blase und Lunge. Wie viele Menschen von entsprechenden Angeboten Gebrauch machen, ist zwar unbekannt.

Fest stehe jedoch, dass es "keine geeignete und sinnvolle Methode der Krebsfrüherkennung" sei, solche Marker im Blut zu bestimmen, sagt die Ärztin Andrea Gaisser vom Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg. Denn auch diese Marker lassen keine eindeutigen Rückschlüsse auf eine Erkrankung zu. Auch wenn keine Krebstumore im Körper wachsen, können solche Tests erhöhte Werte zeigen und Ängste auslösen.

"Ernsthaft diskutiert wird derzeit eigentlich nur noch der Test auf das Prostata-Antigen PSA", sagt Andrea Gaisser. Dieser seit Jahren umstrittene Test, der wohl am häufigsten angeboten wird, verfeinert die Diagnostik von Prostatakarzinomen. Doch fehle es bisher an Studien, die seinen Nutzen zweifelsfrei nachweisen, sagt die Medizinerin vom DKFZ. "Es werden durch den PSA-Test zwar mehr Tumore frühzeitig entdeckt, aber ob PSA-Reihenuntersuchungen die Sterblichkeit durch Prostatakrebs verringern können, ist nicht sicher."

Andere Kritiker mahnen, dass der PSA-Test zur Überbehandlung von kleinen, für den Patienten völlig harmlosen Tumoren führen könne, die ohne den Test niemals bemerkt worden wären. Noch weniger als vom PSA-Test halten die Experten des DKFZ allerdings von der "vorsorglichen Bestimmung" weiterer Tumormarker bei Menschen, die nicht an einer Krebserkrankung leiden und familiär auch kein besonders erhöhtes Risiko haben.

Unauffällige Werte geben nicht einmal Sicherheit, dass der Betreffende kein Krebsleiden hat. Dennoch wird vor allem älteren Menschen gerne eine Blutuntersuchung etwa auf karzinoembryonales Antigen (CEA) zur frühzeitigen Entdeckung von Darmkrebs und anderen Tumoren angepriesen.

Andrea Gaisser sagt: "CEA hat in der Früherkennung keinen Stellenwert." Denn CEA kann alles Mögliche anzeigen - vom Tumor in verschiedenen Organen über eine Lungenentzündung bis zur alkoholbedingten Zirrhose. Auch bei Rauchern sind die Werte oft erhöht. Für die Früherkennung von Darmkrebs sei eine Darmspiegelung daher sehr viel aussagekräftiger.

Warum also können solche Bluttests beworben und mit großen Versprechen Hoffnungen geweckt werden? Weil es für Diagnostika kein Zulassungsverfahren gibt wie bei Medikamenten. Wie gut und nützlich die Verfahren sind, ist bislang noch viel schlechter untersucht als der Nutzen und die Nebenwirkungen von Arzneimitteln. Kein Hersteller muss bislang nachweisen, wie groß der Vorteil für die Untersuchten ist und wie häufig die Bluttests in die Irre führen. "Ich arbeite seit 25 Jahre auf diesem Gebiet und in dieser Zeit hat sich bei der Bewertung von Diagnostika nicht viel getan", sagt Jürgen Windeler.

Der verlockende prophetische Blick ins Blut

"Man geht nach wie vor ungeprüft davon aus, dass es nicht schaden könne, 'mal nachzugucken'" - und dass mehr Informationen in jedem Fall etwas Gutes seien. Die Gefahr, gesunde Menschen durch einen abweichenden Wert in Angst zu versetzen, oder gar weiteren Eingriffen auszuliefern, "machen sich Ärzte wie Patienten viel zu wenig bewusst". Bei Nachfolgeuntersuchungen zum Beispiel kann durchaus etwas schiefgehen - etwa bei einer Prostatabiopsie aufgrund eines hohen PSA-Werts: Blutungen aus Darm oder Harnröhre oder eine Entzündung können die Folge sein.

Auch wenn erhöhte Laborwerte auf möglichen Eierstockkrebs oder einen Tumor in der Bauchspeicheldrüse hinweisen, sind Eingriffe nötig, um den unsicheren Befund eindeutig zu klären. Wie bei jeder Operation können dabei Komplikationen auftreten. Ob der potenzielle Nutzen dieses Risiko überwiegt, ist jedoch nicht bekannt.

Geschäftskonzepte wie jenes der texanischen Biophysical Corporation mögen Erfolg versprechend klingen, ein prophetischer Blick ins Blut für viele Gesunde noch so verlockend sein angesichts der langen Liste bedrohlicher Krankheiten: Die Risiken derartiger Angebote für den Kunden sind im Geschäftsplan bislang nicht einkalkuliert.

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