Süddeutsche Zeitung

Medikamentensucht:Arme Schlucker auf Rezept

Schleichend und im Verborgenen werden Menschen medikamentenabhängig. Dass ihre Sucht oft lange Zeit unentdeckt bleibt, hat auch mit den Ärzten zu tun.

Nadeschda Scharfenberg

Vor vielen Jahren war das Leben des Manfred Weidemann so geordnet, dass er sich noch um die Ordnung im Leben anderer kümmern konnte. Weidemann, heute 60 Jahre alt, arbeitete als Dienstgruppenleiter bei der Polizei, ständig unterwegs im Namen von Sicherheit und Ordnung. Das sei anstrengend gewesen, erzählt er, aber er habe den Stress gemocht.

Weidemann war ein glücklicher Mensch, bis 1986 der Unfall passierte, ein Crash im Dienstwagen. Quietschende Reifen, berstende Scheiben. Das Auto schleuderte aus der Spur und mit ihm das Leben des Herrn Weidemann.

Seine Halswirbelsäule war verletzt worden, aber das diagnostizierten die Ärzte erst später. Zunächst war da nur dieser diffuse Kopfschmerz, Weidemann schluckte Pillen, wurde fahrig. Man schickte ihn in den Innendienst, er langweilte sich, und die Schmerzen, die nun auch aus der Seele kamen, wurden immer schlimmer.

Weidemann bekam andere, stärkere Tabletten verschrieben, dann wurde er in den Vorruhestand versetzt, klagte dagegen und verlor. "Meine Töchter waren aus dem Haus, meine Frau bei der Arbeit", sagt Weidemann. "Ich saß da, hatte nichts, nur meine Schmerzen." Und seine kleinen Tröster aus der Schachtel.

Weidemann, ein etwas blasser Mann mit Igelfrisur, hat einen Block mitgebracht zum Termin in der Suchtklinik in Lippstadt, hat sich Notizen gemacht. In den letzten Jahren konnte er sich nicht auf sein Gedächtnis verlassen, plötzlich sind ihm Wörter nicht eingefallen oder zeitliche Abläufe.

Jetzt aber ist der ehemalige Polizist dabei, sein Leben wieder in Ordnung zu bringen, da sichert er sich vor sich selbst lieber schriftlich ab, damit nicht wieder etwas schiefgeht. "Ich war nicht mehr der, der ich früher war", sagt er. Allerdings hat er selbst das bis vor wenigen Wochen, bis vor dem Entzug, weit von sich gewiesen. "Vieles", gibt er zu, "verstehe ich erst in der Rückschau".

Die Medizin selbst hat ihn krank gemacht

Vor allem versteht er jetzt, dass nicht die kaputte Wirbelsäule sein Hauptproblem war und nicht die "schmerzbedingte Depression", die ihm Ärzte attestiert und zu deren Bekämpfung sie ihm Beruhigungsmittel verordnet hatten. Weidemann weiß jetzt, dass es die Medizin selbst war, die ihn erst richtig krank gemacht hat.

22 Jahre lang hat er Tabletten eingeworfen, Thomapyrin zunächst, dann den Tranquilizer Lexothanil und verschiedene Schmerzmittel. Wenn er eine Pille wegließ, waren sofort wieder Schmerzen da, und die Traurigkeit. Was Weidemann nicht wusste: Es waren nicht die ursprünglichen Krankheitssymptome, die er spürte - sondern Entzugserscheinungen.

Zwischen 1,4 und 1,9 Millionen Menschen sind in Deutschland abhängig von Medikamenten, hinzu kommen mehr als eine Million Suchtgefährdete, Tendenz steigend. Zum Vergleich: Die Zahl der Alkoholkranken liegt bei 1,6 Millionen, schätzungsweise 150000 Menschen nehmen harte Drogen.

Trotzdem hört und liest man viel mehr von Alkoholikern und Junkies als von den Pillenschluckern, auch im Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung, der an diesem Montag vorgestellt wird, wird der Abschnitt "Medikamente" eher kurz gehalten sein. Über Arzneimittelsucht in einer sich ständig selbst überholenden Gesellschaft, die jedes Wehwehchen gerne mit Medizin bekämpft, hat Manfred Weidemann erst einen einzigen Artikel in die Finger bekommen - und ist ins Grübeln geraten.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Medikamentensüchtige von anderen Abhängigen unterscheidet.

Medikamentenabhängigkeit ist eine Sucht im Verborgenen, und das hat viel mit den Süchtigen selbst zu tun. Sie sind unauffällig, stehlen nicht für ihre Abhängigkeit, haben keine Fahne. Die Sucht macht sie nicht aggressiv, sondern in sich gekehrt. Matthias Ulbrich, der zusammen mit Weidemann in Lippstadt war, kann sehr plastisch von seiner zugedröhnten Zeit berichten. Seit fünf Tagen ist das Gift raus aus seinem Körper. "Die Lebensqualität ist wieder da", sagt er, "ich sitze hier ohne Schmerzen, es ist ein kleines Wunder." Er hört die Vögel wieder tschilpen, wenn er durch den Klinikpark spaziert.

Ulbrich, 56, auch er Frührentner, ist nach mehreren Hüftoperationen nicht mehr losgekommen vom Morphin, zwei bis drei Tabletten hat er am Tag geschluckt, dazu zwei, drei Valium. "Ich war energielos und antriebsschwach", sagt er, "ich bin dumpfbackig durch die Welt gestolpert". Er verlor die sexuelle Lust, und irgendwann war er so abseits von der Welt, dass er sogar das Trinken vergaß.

Sucht mit Alterserscheinungen verwechselt

Im Dezember kam er mit Nierenversagen ins Krankenhaus - und zog die Reißleine. Bei Manfred Weidemann verwechselte die Familie die Anzeichen seiner Sucht mit Alterserscheinungen. Vergesslichkeit, Schwindel, Müdigkeit. Als er einmal seine Töchter im Auto mitnahm und sehr unaufmerksam lenkte, sagten die Töchter zur Mutter: "Man merkt, dass der Papa älter wird." Weidemanns Frau hat die Dumpfheit ihres Mannes irgendwann nicht mehr ausgehalten. Sein westfälischer Singsang wird leise, als er sagt: "Sie weiß nicht, ob sie mich noch liebt."

Rüdiger Holzbach ist Chefarzt der Abteilung Suchtmedizin in der Lippstädter Klinik. Sein Haus hat sich auf die Behandlung Medikamentenabhängiger spezialisiert - als einziges in Deutschland. Überall sonst werden Pillen- und Pullensüchtige zusammen entgiftet, obwohl das beim Entzug hinderlich ist. Trinker sind zum Beispiel längst aus dem tiefsten Tal raus, wenn es den Medikamentensüchtigen gerade am dreckigsten geht.

Holzbach ist auf seinem Gebiet das, was man eine Koryphäe nennt. "Medikamentenabhängigkeit ist das Problemkind der Suchtmedizin", sagt er, "man wird gerne nicht ernstgenommen." Das liegt am Wesen dieser Sucht und an ihren Protagonisten. An den unauffälligen Abhängigen und an denen, welche die Droge unters Volk bringen. Ärzte. Holzbachs Kollegen.

Viele Patienten erkennen lange nicht, dass sie süchtig sind. Sie tun ja nichts Verbotenes. Sie nehmen nur das, was der Arzt ihnen aufschreibt. Der Doktor als Dealer?

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was viele Hausärzte und Apotheker bei der Verschreibung von Medikamenten falsch machen.

Es gibt eine Leitlinie für die Verschreibung von Beruhigungsmitteln aus der Wirkstoffgruppe der Benzodiazepine. Die Pillen, die Tafil, Tavor oder Valium heißen, machen leicht abhängig. Die Leitlinie besagt, dass sie höchstens acht Wochen lang verabreicht werden sollen. Holzbach hat Kassen-Rezepte ausgewertet, um herauszufinden, ob die Ärzte sich an die Empfehlung halten. In zwei Dritteln der Fälle taten sie es nicht.

"Mein Hausarzt hat mir die Schmerzmittel blanko verordnet", sagt Manfred Weidemann - obwohl im Überweisungsbericht der Klinik gestanden habe, dass er sie nach sechs Wochen absetzen solle. Jahrelang deckte er sich bei Hausarzt, Neurologe und Notdienst mit Rezepten ein, und keiner wies ihn auf die Nebenwirkung Sucht hin.

Ein verführerischer Griff

Ähnlich ging es Christoph Liedhegener, einem ehemaligen Abhängigen, der seine Schlaflosigkeit mit Chemie bekämpfte und sich zum Schluss bis zu 20 Tabletten am Tag einschmiss. "Ich bin im Quartal zu 15 Ärzten gegangen, auch in anderen Städten", erzählt er.

Es wird einem ja nicht besonders schwer gemacht, das Gesundheitswesen auszutricksen, weil ein Arzt nicht weiß, was der andere verschrieben hat. Aber auch von den Apothekern hörte Liedhegener kein einziges Mal: Stopp! Im Gegenteil. Er fand eine Apotheke, in der er seinen Stoff sogar ohne Rezept bekam: "Ich bin mit einer Wunschliste hingegangen - und mit einer Tüte Pillen wieder raus."

Sabine Bätzing, die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, hat jahrelang dafür geworben, die Apotheker und Ärzte "ins Boot zu holen". Jetzt sind die Apothekerverbände immerhin dabei, einen Leitfaden zum Thema Medikamentensucht zu verfassen, die Bundesärztekammer hat etwas Ähnliches im vergangenen Jahr veröffentlicht. Vom unübersichtlichen Arzneimittelmarkt mit seinen 10000 verschreibungspflichtigen Präparaten ist in dem Büchlein die Rede, vom Zeitdruck in den Praxen und vom "verführerischen Griff zum Rezeptblock".

Bisher wurde der Leitfaden allerdings nur an Suchtmediziner verschickt und nicht an die Hausärzte. "Leitfäden werden aber erst durch ihre breite Implementierung in Praxen und Apotheken wirksam", sagt Bätzing.

"Jeder Arzt sollte sich ein paar Tage lang eine Suchtstation anschauen", findet Manfred Weidemann. Drei harte Wochen Entzug hat er hinter sich, ihm geht es besser jetzt. Aber ein bisschen mulmig ist ihm doch zumute. Weil da ja noch die Sache mit seiner Frau ist. Weidemann sagt: "Ich hoffe, dass sie mir irgendwann wieder vertrauen kann."

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SZ vom 05.05.2008/aho
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