Süddeutsche Zeitung

Mathematik in der Finanzkrise:"Alle Modelle sind falsch"

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Ihnen sollte der Zutritt zu Banken verwehrt werden, ihre Arbeit wurde als "Verbrechen gegen die Menschheit" beschimpft. Doch inwieweit sind Mathematiker und ihre Modelle schuld am Wirtschaftschaos?

Patrick Illinger

In Deutschland kamen sie noch relativ glimpflich davon. In Frankreich kannte die Wut kaum noch Grenzen. Mathematikern sollte der Zutritt zu Banken generell verwehrt werden, war dort zu hören, und der ehemalige Premierminister Michel Rocard nannte die Finanzmathematik gar ein "Verbrechen gegen die Menschheit". Doch inwieweit sind Mathematiker und die von ihnen entwickelten Formelwerke verantwortlich oder gar schuld an der 2008 losgebrochenen Finanzkrise?

Eine Tagung im Deutschen Museum, getragen von der Carl-von-Linde-Akademie der TU München und kenntnisreich moderiert von dem Philosophen Klaus Mainzer, lieferte Einblicke in die Gedankenwelt der Wissenschaftler, die sich mit Risiken, extremen Ereignissen und deren Statistik befassen.

Dass Finanzmathematiker ein Gespür für die Größe ihrer Aufgabe haben, zeigten nicht nur biblische Metaphern, wie sie offenbar in der Zunft gebräuchlich sind. Da ist vom Noah-Effekt die Rede, wenn unerwartete, monströse Geschehnisse eintreffen, und vom Josef-Effekt, wo langfristiges Denken gefragt ist, in Anspielung auf die sieben fetten und die sieben mageren Jahre aus dem Alten Testament. "Natürlich hat die Finanzkrise auch im Milieu der Finanzmathematiker zu denken gegeben", erklärte der Berliner Mathematiker Hans Föllmer. Und mehrmals war auf dem Symposium zu hören: "Alle Modelle sind falsch."

Das klingt wie ein Geständnis für totales Versagen. Es ist aber von den Mathematikern als Gebrauchsanleitung gemeint. Modelle seien Werkzeuge, unvollständig an die Realität angepasst, manche falscher als andere. Aber ohne Modelle gehe es in der Finanzwirtschaft nicht. Der Begriff Modell umschreibt in diesem Fall statistische Instrumente, die Verlustrisiken im Wertpapierhandel beziffern. Nicht gemeint sind jene oft kritisierten Algorithmen, die den Handel mit Wertpapieren automatisieren und menschliche Käufer und Verkäufer ersetzen.

Doch allein die Risikomodellierung stellt Mathematiker vor Grundsatzfragen: Vermeiden die statistischen Instrumente täglich zerstörerische Crashs oder haben die Formelwerke menschliche Verantwortung ausgeblendet und die Katastrophe von 2008 erst ermöglicht? Es ist wie die Frage, ob mit Alfred Nobels Erfindung Tunnel oder Bomben gebaut werden. Wahrscheinlich beides.

Mangelhafte Statistik ist Usus in Banken

Hinzu kommt, dass die moderne Bankenwelt vielfach veraltete mathematische Werkzeuge verwendet. Beharrlich wiesen die Münchner TU-Mathematikerin Claudia Klüppelberg und ihr Kollege Stefan Mittnik von der Ludwig-Maximilians-Universität auf die Mängel allzu einfacher Statistik-Formeln wie der Gauß'schen Normalverteilung hin. Die berühmte, früher sogar auf dem Zehnmarkschein abgebildete Glockenkurve sei ungeeignet, die Geschehnisse auf Finanzmärkten zu modellieren. Das zeigt schon eine einfache Analyse der täglichen Schwankungen eines Index wie dem Dax. Trägt man die tägliche prozentuale Änderung des Index in ein Histogramm ein, erhält man zwar eine Art Glockenkurve (da kleine Schwankungen häufiger sind als große), doch sind extreme Ausreißer in realen Börsendaten viel häufiger als es die Normalverteilung besagt.

Mittnik zeigte, dass Gauß zufolge ein Tagesgewinn oder -verlust von mehr als fünf Prozent nur alle 964 Jahre vorkommen dürfte. Tatsächlich gibt es solche Kurssprünge alle anderthalb Jahre. Ein Crash mit zweistelliger Verlustrate wie am "schwarzen Montag" im Oktober 1987 dürfte gemäß der Normalverteilung zuletzt vor dem Urknall passiert sein.

Doch in vielen Banken ist die mangelhafte Statistik gebräuchlich, beklagt Claudia Klüppelberg, in diesen Fällen werde ein willkürlicher Sicherheitsfaktor auf die Verlustrisiken aufgeschlagen. Dass es in Deutschland den Finanzinstituten überlassen bleibt, ihre Risiken zu managen, dürfte die Situation nicht bessern. Klüppelberg präsentierte ausgefeiltere Methoden für die Statistik von Extremwerten, betont jedoch, dass auch neue Rechenverfahren grundsätzlich auf der Basis von Daten aus der Vergangenheit geschätzt werden müssten. Das schließt naturgemäß Einflussfaktoren aus, die jenseits des aktuellen Vorstellungsvermögens liegen. Oder wie sie der Philosoph Bertrand Russell mit einer Metapher vom Truthahn illustrierte: Das tägliche Füttern festigt in dem Tier ein Weltbild, das an Weihnachten plötzlich revidiert werden muss.

Wolfgang Kröger, der in der Schweiz die Anfälligkeit komplexer Systeme wie Stromnetze erforscht, nennt einen Faktor, der in den Risikoberechnungen seiner Branche bis vor kurzem nicht vorkam: die Möglichkeit einer absichtlichen Attacke. Die Banken betreffend, sagen die Mathematiker, hätten sie die Risikobereitschaft der Händler unterschätzt.

Zudem dürfte es ein grundsätzliches Problem mathematischer Modelle sein, dass sie Präzision suggerieren, auch dort, wo die (laut Gebrauchsanweisung) nötigen Voraussetzungen für ihre Gültigkeit weggefallen sind. So wie in der Klimaforschung bunte Weltkarten mitunter den Eindruck erwecken, die klimatische Zukunft des Planeten lasse sich auf Jahrzehnte hinaus berechnen, können auf Prozentbruchteile bezifferte Risikoangaben einem Finanzhändler falsche Sicherheit vorgaukeln. "Modelle können wie Scheinwerfer wirken", sagt der Berliner Hans Föllmer, sie beleuchten manches, aber anderes hüllen sie erst recht in Dunkelheit. Klaus Mainzer gab dem Münchner Auditorium daher einen klaren Rat mit auf den Weg: "Seien Sie keine Truthähne!"

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SZ vom 20.11.2010
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