Mathematik des Schlangestehens:"Beim Warten sind wir wie Moleküle"

Lesezeit: 7 min

Der Mathematiker Thomas Hanschke kämpft gegen das Schlangestehen - an Kassen, vor Schaltern, in Fertigungsstraßen. Und zur Haupteinkaufszeit des Jahres spendet er Trost: mit verblüffenden Theorien für gestresste Kunden.

Philip Wolff

Ungefähr 20 Prozent seines Jahresumsatzes macht der deutsche Einzelhandel während der sieben Wochen vor Weihnachten. Für die Kunden bedeutet das: lange Parkplatzsuche in den Städten, Gedränge in den Fußgängerzonen - Stau an allen Nadelöhren des Verkehrs. Die wohl empfindlichsten Stellen sind die Kassen in den Läden. Wäre Stau dort vermeidbar? Thomas Hanschke von der Technischen Universität Clausthal beschäftigt sich wissenschaftlich mit der Frage, wie sich Warteschlangen bezwingen lassen - allerdings nicht als Psychologe, sondern als Mathematiker: Er errechnet zum Beispiel, wie man Staus in Produktionsstraßen der Industrie verhindert oder Flugpläne optimiert. Er ist Experte für die Wissenschaft des Wenigerwartens. Dabei ist kaum Alltagserfahrung gefragt, aber viel Albert Einstein.

Mathematik des Schlangestehens: Das Warten durchdacht: Mathematiker Thomas Hanschke.

Das Warten durchdacht: Mathematiker Thomas Hanschke.

(Foto: Foto: oh)

SZ Wissen: Müssen Sie eigentlich selbst manchmal Schlange stehen oder kennen Sie mittlerweile alle Tricks?

Thomas Hanschke: Ich muss warten wie jeder andere auch, für mich persönlich hat sich daran nichts geändert. Das liegt an der Theorie: Die Statistik kann zwar Aussagen für die Allgemeinheit treffen, aber nicht über das Einzelschicksal. Wenn ich die Frage stelle: Wie wird die durchschnittliche Wartezeit unter diesen und jenen Umständen sein, dann komme ich zu einem recht zuverlässigen Ergebnis. Aber wenn es darum geht, eine individuelle Wartezeit vorherzusagen, ist das nicht möglich.

SZ Wissen: Aber Trost finden Sie vielleicht trotzdem. Mit welchem Wissen lässt sich denn der Ärger runterschlucken, wenn man in einer Schlange steht? Verkehrspsychologen sagen ja, Stau mache Menschen gegeneinander aggressiv, weil viele um dieselbe Sache konkurrieren.

Hanschke: Es sind nicht unbedingt andere Wartende schuld an meiner Situation. Die Theorie besagt: Die Länge der Wartezeit hängt allein von den Unregelmäßigkeiten im System und von dessen Auslastung ab. Je größer beides ist, desto länger muss gewartet werden. Der Idealfall wäre eine sogenannte getaktete Linie in einem Produktionsprozess: Wenn alle Teile im selben Takt ankommen, in dem sie auch bedient werden können, kommt es zu gar keiner Wartezeit. In dem Moment aber, in dem einer dieser Takte gestört wird, entsteht eine gewisse Unordnung und die führt dann zum Stau.

SZ Wissen: Unordnung bedeutet also: Leute legen unterschiedlich viele Waren aufs Kassenband?

Hanschke: Genau, oder ein Preis ist nicht ausgezeichnet oder Gemüse muss noch einmal nachgewogen werden. Unordnung könnte aber auch bedeuten, dass die Kunden in sehr unregelmäßigen Zeitabständen ankommen. Mal sind viele vor mir und mal nur ganz wenige, dafür haben die wenigen aber vielleicht viele Waren in ihren Körben.

SZ Wissen: Also sind es doch die anderen, die mich warten lassen.

Hanschke: Nein, es ist nicht unbedingt der menschliche Faktor, sondern es sind zunächst einmal die Auftragsvolumina. Je größer deren Variationsbreite, desto länger die Wartezeit.

SZ Wissen: Sollte ich mich also in eine Schlange stellen, in der die Leute ungefähr gleich viel im Einkaufswagen haben?

Hanschke: Das wäre eine Möglichkeit, die aber vor allem Geschäftsbetreiber nutzen könnten, indem sie ihre Kunden kategorisieren: in Kunden mit nur wenigen Teilen im Korb und solche mit halb vollem oder ganz vollem Korb. Man könnte sie an jeweils unterschiedliche Kassen führen.

SZ Wissen: So wie das an den Expressschaltern der Bahn AG gehandhabt wird, an die sich nur Kunden anstellen, die kein langes Beratungsgespräch brauchen?

Hanschke: Richtig. Die schnellen Kunden, die nur wenig Service brauchen, kommen an den einen, die anderen an andere Schalter. Eine solche Segmentierung hilft, Wartezeiten für die Allgemeinheit zu reduzieren.

Zur SZ-Startseite