Das Verführerische am Kristall ist seine Struktur. In schöner Regelmäßigkeit sind die Atome angeordnet, dreidimensional und mit immer gleichem Abstand zueinander. Kristallgitter nennt sich das, und es macht das Material so wertvoll: Wärme, Licht und Elektronen finden mühelos ihren Weg hindurch. Gleichzeitig behalten Kristalle auch bei hohen Temperaturen ihre mechanische Festigkeit. Beides Eigenschaften, die in Industrie und Technik hochbegehrt sind.
Der LED-Bildschirm des Flachbildfernsehers, der piepende Scanner der Supermarktkasse, die Positronen-Emmissions-Tomografie, mit der Krebszellen sichtbar gemacht werden können - all das funktioniert nur dank der Hilfe von Kristallen. Es ist kein bisschen übertrieben zu sagen, ohne Kristalle wäre die Welt heute eine andere. Denn unsere komplette Kommunikations- und Medientechnik basiert auf diesen Bausteinen: im Auto und im Smartphone, in der Solarzelle und in der Gasturbine, in Bohrern und in Lasern, in Uhren, Messgeräten, Leuchtdioden - wir sind umgeben von Kristallen. Und wissen es kaum.
"Für den Laien sind Kristalle hauptsächlich schöne Steine, ihre technische Bedeutung ist den meisten völlig unklar. Manch einer kennt noch den Begriff Halbleiter, aber kaum einer weiß, dass das ein Kristall ist", sagt Jochen Friedrich. Er leitet die Abteilung Kristallzüchtung des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Systeme und Bauelementetechnologie in Erlangen (IISB) und versucht mit Kollegen herauszufinden, wie man Kristalle synthetisch so herstellen kann, dass sie optimale Eigenschaften aufweisen. Heißt: Das Kristallgitter sollte möglichst frei von Verunreinigungen sein.
Rein theoretisch kann ein Kristall aus jedem Element hergestellt werden
"Diese Fehler müssen bereits bei der Züchtung vermieden werden, die Chancen, das hinterher ausgleichen zu können, sind für die Bauelementehersteller gering", sagt Friedrich. Je besser das Ausgangsmaterial ist, desto weniger Verunreinigungen werden in den Kristall eingebaut. Für die Mikroelektronik braucht es beispielsweise sehr saubere Kristalle, während eine Solarzelle auch funktioniert, wenn der Halbleiter gewisse Verunreinigungen aufweist.
In der Natur finden sich wenige Kristalle, die für die Technik verwendbar sind. "Deshalb machen wir die lieber selber", sagt Jochen Friedrich. Rein theoretisch kann ein Kristall aus jedem Element hergestellt werden. Rein praktisch ist das in den allermeisten Fällen zu aufwendig, zu teuer oder einfach noch nicht erforscht.
Das mit Abstand bekannteste Material zur Kristallzüchtung ist Silizium. Die Kristalle werden aus der Schmelze gewonnen. Dafür wird das Material in einem Tiegel geschmolzen und kurz über dem Schmelzpunkt gehalten - bei Silizium sind das 1414 Grad Celsius. Ein sogenannter Impfkristall wird an die Oberfläche der Schmelze gehalten und langsam nach oben gezogen. Die Schmelze kühlt sich ab und es wächst nach und nach mehr Material an dem Impfkristall an.
Tüfteleien brauchen nun mal ihre Zeit
In einem weiteren Verfahren wird das aufgeschmolzene Rohmaterial von unten nach oben zum Erstarren gebracht. Die meisten Kristalle entstehen aus Schmelzen, sie können aber auch - wie Quarz-Kristalle - aus Lösungen oder der Gasphase gezüchtet werden. Siliziumcarbid zum Beispiel wird direkt aus der Gasphase als dünne, kristalline Schicht auf einen Träger abgeschieden. Wird dabei die Struktur des Ausgangsstoffes übernommen, sprechen Experten von einer epitaktischen Schicht.
Das klingt alles nach einfachen physikalischen Prozessen. Aber: "Schmelzen sind in der Regel turbulent, wir müssen überlegen, wie wir das in den Griff kriegen", sagt Jochen Friedrich. Denn Turbulenzen erzeugen die gefürchteten Verunreinigungen, "Versetzungen", wie Wissenschaftler dazu sagen. Ein Grund für solche Turbulenzen sind sogenannte Dotierstoffe wie Arsen, Bor oder Phosphor. Diese werden der Schmelze zugegeben, um den Widerstand des Materials herabzusetzen. Aber sie verteilen sich beim Kristallwachstum nicht gleichmäßig. Forscher wie Jochen Friedrich wollen den Kristall nicht nur möglichst sauber züchten, sondern auch möglichst viel von dieser sauberen Masse herstellen können.
Solche Tüfteleien brauchen ihre Zeit. So haben die Erlanger Forscher schon in den 90er-Jahren gemeinsam mit einer Firma im sächsischen Freiberg ein neues Verfahren zur Herstellung von Galliumarsenid entwickelt. "Es hat fast zehn Jahre gedauert, bis das Material so groß und so reproduzierbar herstellbar war, dass es für die Industrie verwendet werden konnte", sagt Friedrich, der auch Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Kristallwachstum und Kristallzüchtung ist. "So ein Produkt müssen sie ja auch zu einem vernünftigen Preis herstellen können, damit es sich langfristig durchsetzen kann." Heute steckt Galliumarsenid, das mit diesem Verfahren hergestellt wird, in fast jedem Handy.
Auch Arne Cröll interessiert sich dafür, wie Versetzungen in Kristalle kommen. Der Leiter der Kristallografie am Institut für Geo- und Umweltwissenschaften der Universität Freiburg tüftelt am fast perfekten Kristall. "Absolut perfekt gibt es nicht, da sind die drei Hauptsätze der Thermodynamik dagegen", sagt der Forscher, der mit seinem Team vor allem Silizium, Germanium, Zinnsulfid und Wismutsulfid zu Halbleitern wachsen lässt. Für die Unruhe beim Kristallwachstum, sagt Cröll, sorgen vor allem Strömungen. Solche, wie sie auch im Kochtopf entstehen, wenn kaltes Wasser von unten her heiß gemacht wird. Diese Strömungen verursachen Streifen, also Versetzungen. Um diese von der Schwerkraft abhängige Strömung auszuschalten, gibt es nur eine Lösung: Die Kristallzüchter müssen ins Weltall.
Seit 1983 haben die Freiburger Kristallografen an mehr als 20 Missionen teilgenommen. Jede Mission hat meist mehrere Experimente aus dem Breisgau mit an Bord. Es gibt vier Varianten dieser Forschungsausflüge ins All: Bei einem Parabelflug dauert die Schwerelosigkeit 21 Sekunden. Das reicht für ein paar Messungen, aber nicht, um einen Kristall zu züchten. Dafür braucht es mindestens sechs Minuten - so lange dauert die Schwerelosigkeit in den ballistischen Raketen, die im nordschwedischen Kiruna in die Atmosphäre geschossen werden.
Ein Siliziumkristall wächst zwei bis fünf Millimeter in der Minute, zwei bis drei Minuten dauert allein das Aufschmelzen des Materials bei 1414 Grad Celsius. So entsteht pro Flug etwa ein Zentimeter Siliziumkristall. Deutlich länger Zeit zum Wachsen haben die Kristalle auf unbemannten Raumkapseln wie dem russischen Forschungssatelliten Foton-M4, der bis zu neun Monate unterwegs ist, und den bemannten Raumflügen wie in den früheren Spacelab-Missionen der Nasa.
"Wir haben festgestellt, dass sich starke Vibrationen auf das Kristallwachstum auswirken"
Die ersten Ausflüge in die Schwerelosigkeit haben den Freiburger Forschern gezeigt: Durch das Ausschalten der irdischen Strömung kommen sie dem perfekten Kristall zwar näher, aber nicht nah genug. Denn eine weitere Strömung namens Marangoni-Konvektion existiert unabhängig von der Schwerkraft. Hierbei findet die Bewegung vom Ort niedriger Oberflächenspannung zum Ort hoher Oberflächenspannung statt. Ein neues Problem also. Gelöst haben die Wissenschaftler um Arne Cröll immerhin ein anderes Rätsel: Sie wollten eine Germaniumschmelze in einem schmalen Tiegel so wachsen lassen, dass der entstehende Kristall keinen Kontakt zur Tiegelwand hat. Dieses sogenannte wandablösende Wachstum hat in der Schwerelosigkeit wunderbar funktioniert. "Wir haben außerdem gerade festgestellt, dass sich starke Vibrationen auf das Kristallwachstum auswirken, das werden wir jetzt weiter untersuchen", sagt Cröll.
Die Forschungen in Sachen Kristallzüchtung werden von der Industrie vorangetrieben. Mit leistungsfähigeren Kristallen kann kompakter gebaut werden, das spart Geld. Schon heute können Kristallografen für die Industrie Kristalle mit 100 Millimetern Durchmesser wachsen lassen, auch wenn das natürlich seine Zeit dauert. Bei etablierten Materialien wie Silizium sind Kristalle von bis zu 300 Millimetern Durchmesser möglich. "Die Bauelementehersteller wünschen sich Scheiben mit 450 Millimetern - sie bekommen so mehr Einzelteile auf einer Halbleiterscheibe unter, der Preis pro Bauelement sinkt", sagt Jochen Friedrich vom IISB in Erlangen.
Entscheidend für den Preis ist auch, wie selten das Ausgangsmaterial ist. Während Silizium als zweithäufigstes chemisches Element - knapp 26 Prozent der Erdkruste bestehen daraus - noch lange zur Verfügung stehen wird, gehen die Indiumressourcen stetig zur Neige. Das silberweiße Schwermetall wird als Indiumzinnoxid zum Beispiel bei der Produktion von Flachbildschirmen oder Touchscreens benötigt.
Die große Herausforderung: Kristalle zu finden, mit denen man Energie sparen kann
Wichtig für die industrielle Herstellung von Kristallen ist auch der Faktor Zeit. Galliumnitrid zum Beispiel ist ein gemächlich wachsender und deshalb noch sehr teurer Kristall. Ein Exemplar mit einem Durchmesser einer Kaffeetasse, etwa fünf Millimeter hoch, 60 Gramm schwer, braucht eine rund 20 Kubikmeter große Anlage zum Wachsen. Das dauert zwei bis drei Tage. In drei Tagen kann man 300 Kilogramm Silizium für die Mikroelektronik herstellen. Jährlich werden in Deutschland nach einer Schätzung der Deutschen Gesellschaft für Kristallwachstum und Kristallzüchtung etwa 5000 Tonnen Kristalle und epitaktische Schichten großtechnisch hergestellt. Sie werden weltweit von der atomaren bis zur makroskopische Ebene eingesetzt.
Die große Herausforderung der Kristallografie liegt derzeit darin, Kristalle zu finden, mit denen man effizient mit Energie umgehen und diese einsparen kann. In Elektroautos wird beispielsweise Spannung mithilfe von Kristallen umgewandelt. "Momentan passiert das noch mit Silizium. Wenn wir das jedoch mit Siliziumcarbid oder Galliumnitrid hinbekommen, haben wir deutlich weniger Energieverlust", sagt Jochen Friedrich. Er fasst die Forschungsziele seines Faches so zusammen: die Kristalle größer und schwerer wachsen lassen zu können, ihre Qualität zu verbessern und neue Materialien wie Galliumnitrid oder Siliziumcarbid zu prüfen. Auch ganz oben auf der To-do-Liste: Saphirkristalle für Handydisplays züchten.