Schlachten im Millisekundentakt:432.000 Hühnchen. Am Tag

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Die Geflügelindustrie hat die Massenproduktion perfektioniert. Denn die Ware muss billig sein. Ein Blick hinter die Kulissen.

Silvia Liebrich

Es ist ein Ort, der tiefes Unbehagen auslöst. Das Firmengelände ist abgeschirmt wie ein Hochsicherheitsgefängnis. Direkt an der Straße entlang haben sie mächtige Eisengitter in die Erde gerammt, mehrfach durchzogen von Stacheldraht. Dann folgen ein Graben und ein noch höherer Palisadenzaun.

Tausende Tiere auf engstem Raum, jeweils 15 ausgewachsene Hühner auf einer Fläche, die so groß ist wie ein Badehandtuch. Kann es den Vögeln unter diesen Umständen gut gehen? (Foto: Patrick Pleul/dpa)

Was sich dahinter abspielt, darüber geben nur nackte Zahlen Auskunft: 27.000 Tiere in der Stunde, das ist die maximale Schlachtkapazität. Das macht 432.000 am Tag, 134.784.000 über das Jahr gerechnet - Töten im Millisekundentakt. "Celler Land Frischgeflügel", steht auf dem Schild neben der streng bewachten Einfahrt im niedersächsischen Wietze. Es ist der größte Geflügelschlachthof Europas.

Gerd Helmers, 65, blickt auf den Zaun und legt seine Stirn in Falten. "Auch wenn nichts zu sehen ist, den Tod kann man riechen", sagt der Mann mit dem weißen Haarschopf und der randlosen Brille. Der Geruch sei unverkennbar, süßlich und ekelerregend. Helmers muss es wissen. Er wohnt ein paar Straßen weiter, in einer ruhigen Siedlung, schmuckes Einfamilienhaus mit Garten.

Doch die Idylle trügt, denn der Schlachthof hat einen Keil zwischen die Menschen im Ort getrieben. Bis in die sechziger Jahre haben sie hier ganz gut von einem Ölvorkommen im sandigen Untergrund gelebt. Doch der Schatz ist längst gehoben, und es gibt immer weniger Arbeit in der ländlichen Region.

Seit die Schlachtanlage im vergangenen September in Betrieb ging, herrscht Hochbetrieb. "Jeden Tag kommen Lastwagen voll mit Geflügel, einige von ihnen sogar aus Dänemark", sagt Helmers. Er hat sich engagiert, als 2009 erste Gerüchte über die Baupläne kursierten. Seine Frau Uschi ist Vorsitzende der Bürgerinitiative Wietze. Doch gegen die Versprechen von Franz-Josef Rothkötter kamen sie nicht an. Der Geflügelunternehmer versprach tausend Jobs.

Da ließ sich die Landesregierung von Niedersachsen nicht lange bitten und spendierte 6,5 Millionen Euro als Fördergeld für den Bau. Das Geld hat Rothkötter gern genommen. Besucher oder Journalisten sind dagegen in seiner Fabrik nicht willkommen. Ein Gespräch lehnt die Geschäftsleitung auf Anfrage ab.

Der Megaschlachthof in Wietze ist auch ein Sinnbild für die tiefe Entfremdung zwischen Verbrauchern und Geflügelindustrie. Zu den Großen in der Branche gehören neben der Rothkötter-Gruppe der Wiesenhof-Eigner PHW sowie Stolle, Sprehe und Borgmeier. Sie produzieren Massenware, die vor allem eines sein muss: billig. So wollen es angeblich die Konsumenten. Dass dabei Tiere gequält und mit Antibiotika vollgestopft werden, und dass die Umwelt schwer strapaziert wird, will zwar niemand. Trotzdem wird es billigend in Kauf genommen, klagen Kritiker der Massentierhaltung.

Fest steht: Das Misstrauen sitzt tief. Konsumenten fühlen sich hinters Licht geführt, aufgeschreckt durch Horrorbilder aus Geflügelställen, Berichte über Antibiotikamissbrauch und Hygienemängel. Mäster und Verarbeiter sehen sich zu Unrecht an den Pranger gestellt, betrachten sich als Opfer militanter Tierschützer und sensationsgieriger Medien.

Doch in den Chefetagen der Geflügelindustrie wird jede Form von Kritik lieber ausgesessen, anstatt sich ihr zu stellen. Von Selbstkritik keine Spur. Die wird allenfalls im Hintergrund geübt. "Die Branche hat den Fehler gemacht, nicht zu zeigen, wie die Realität aussieht", räumt ein Insider ein, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will.

Während sich die Großkonzerne hinter hohen Zäunen verschanzen, wächst bei Geflügelmästern die Sorge um ihre Reputation. Einer von ihnen ist Rainer Wendt. Am Ortsrand von Groß Oesingen, 70 Kilometer nordöstlich von Hannover, mästet er 120.000 Hühner. Auf seinen Äckern wachsen Kartoffeln, die ein Chips-Hersteller abnimmt. Hier ist das Land flach, durchzogen von langen Alleen. Die Dörfer sind sauber, die Felder gepflegt. Wendt ist in der Region aufgewachsen, ein sympathischer Mann, Mitte 50, mit tiefen Lachfalten um die Augen und sorgfältig gestutztem Vollbart.

"Ich habe hier nichts zu verbergen", sagt er und öffnet die Tür zu einem seiner drei Ställe. Doch wer auf den Anblick nicht gefasst ist, dem kann leicht der Atem stocken. Hühner, so weit das Auge reicht. Dicht an dicht sitzen sie auf dem Boden oder drängen sich um Futter- und Wasserspender. Beißender Ammoniakgeruch hängt in der Luft. 34.000 Tiere drängen sich in einer Halle, die knapp halb so groß ist wie ein Fußballfeld.

Bis zu 39 Kilogramm Lebendgewicht dürfen deutsche Mäster pro Quadratmeter halten. Das bedeutet 15 ausgewachsene Hühner auf einer Fläche, die so groß ist wie ein Badehandtuch. Wendt findet, das reiche aus, und er verweist darauf, dass das Gedränge in anderen EU-Ställen noch größer sei. Europaweit sind 42 Kilogramm pro Quadratmeter erlaubt. Tierschützer finden solche Zahlen bedrückend. Weil klar ist: Mehr Platz bedeutet weniger Stress für die Tiere, weniger Krankheiten, weniger Medikamente.

Wendt ist überzeugt davon, dass es seine Hühner trotzdem gut haben. "Ich bin ein Tiermensch und fühle mich wohl im Stall", sagt er. Mehr Platz für die Hühner, das könnte er sich auch nicht leisten. 2,99 Euro kostet ein Tiefkühlhuhn im Supermarkt, davon bleiben nur ein paar Cent bei ihm hängen, und ein neuer Stall ist teuer.

Den dritten hat er erst vor zwei Jahren gebaut, für 500.000 Euro, moderne Technik inklusive. Futter, Wasser, Raumtemperatur, Luftfeuchtigkeit, Beleuchtung - all das wird rund um die Uhr von einem Computer gesteuert. Für den Mäster bleibt trotzdem genug zu tun. Mindestens zwei Mal am Tag bahnt er sich den Weg durch die Hühnerschar, sortiert kranke und tote Tiere aus. "Zwei bis drei Prozent bleiben auf der Strecke", stellt er fest. Was für Wendt normal ist, mag für Laien schockierend klingen.

Auf den ersten Blick wirken die Tiere gesund. Das Gefieder sieht weiß und sauber aus, auch wenn manche Stellen kahl sind. "Das ist normal bei dieser Rasse", sagt der Landwirt und zerstreut damit den Verdacht, dass sich die Hühner gegenseitig womöglich aus Stress die Federn ausreißen. "ROSS 308", steht groß auf dem Formular, das im Kontrollraum auf dem Schreibtisch liegt. So heißt die Hühnerrasse. Sie gilt als robust, wächst rasch und setzt viel Fleisch an.

Jeden Tag im kurzen Leben seiner Hühner, das maximal 35 Tage dauert, muss Wendt dokumentieren, für den Tierarzt und seinen Vertragspartner, den Geflügelkonzern. Der lässt die Tiere abholen, sobald sie ihr Schlachtgewicht erreichen. Bei wem er unter Vertrag steht, darf Wendt nicht sagen. Der Abnehmer will es so.

Vor den Toren des Schlachthofs in Wietze hoffen die Gegner auf ein Wunder. Jeden Montag treffen sie sich zu einer Mahnwache. Noch ist die Anlage nicht ausgelastet. "Von zwei Schlachtlinien ist erst eine in Betrieb", sagt Helmers. Offenbar kann nicht genügend Frischfleisch herbeigeschafft werden. Mehr als 400 neue Mästereien müssten in der Region entstehen, damit der Schlachthof voll produzieren kann. "Das müssen wir verhindern. Wir wollen hier keine Emslandisierung", sagt er.

Das Emsland, gut 150 Kilometer westlich von Wietze, ist für ihn Inbegriff der exzessiven Massentierhaltung. In kaum einer anderen Region Deutschlands werden so viele Hühner und Schweine auf so engem Raum gehalten, mit fatalen Auswirkungen für Umwelt und Mensch. Ans Aufgeben denkt Helmers nicht. Das Verwaltungsgericht Lüneburg könnte dem Schlachthof nachträglich die Betriebsgenehmigung entziehen. Auch wenn die Erfolgschancen gering sind, noch ist nichts entschieden.

© SZ vom 07.07.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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