Süddeutsche Zeitung

Malereien von Tassili n'Ajjer:Wo Wesen auf den Felsen fliegen

In der algerischen Wüste zeugen Tausende prähistorische Malereien von einer uralten Zivilisation - die Datierung ist schwer.

Von Josef Schnelle

Gigantische Götterwesen mit überdimensionalen Rundköpfen, gewaltige Auerochsen, meterhohe Giraffen, tanzende und jagende Menschen, fliegende Traumfeen, kleine Teufelchen mit Baströckchen und eine große weiße Frau mit aufwendigem Haarschmuck. Das alles in zarte Aquarellfarben getaucht, eine ganz neue, unentdeckte Zauberwelt der Kunst, eben abgemalt von der Felsenwelt des Tassili n'Ajjer in Südostalgerien.

Die Originale, so versicherte Expeditionsleiter Henri Lhote, seien bis zu 12 000 Jahre alt. Er war 1956 mit einem Dutzend Zeichnern anderthalb Jahre im Zentralmassiv von Tassili unterwegs gewesen und hatte von ihnen die neolithischen Felsmalereien - mit ihren Zeichentischen direkt vor den Wandmalereien - aufs Trefflichste kopieren lassen.

Es war die Sensation des Jahres, als Ende 1957 im Pavillon de Marsan des Louvre vorübergehend eine Art Weltausstellung der Kunst des Neolithikums in der Sahara entstand. Gewiss, es waren nur Kopien, aber mit begleitenden Fotografien war die tatsächliche Existenz der Kunstwerke belegt.

Entdeckung in den 1930er Jahren

Durch den genialen Gedanken, Maler ans Werk zu setzen, wurde auch die Räumlichkeit und Farbenpracht abgebildet. Manche Zeitgenossen wiesen auf den betörenden Realismus der Menschen und Tierporträts aus grauer Vorzeit hin. Andere zeigten sich überrascht, dass in den Kunstwerken der Urzeit schon so viele Bezüge zur gerade ihre Wiedergeburt feiernden expressionistischen Malerei zu erkennen seien.

Für den Entdecker, Abenteurer und Sachverständigen für alte Kunst Henri Lhote war der große Auftritt mit ganz viel Publikum jedoch erst der späte Höhepunkt seiner Entdeckungsreisen. So feierte er die Auffindung der Felsbilder aus der entlegensten Gegend der Sahara mit einem großen Bericht.

Auf einem Foto in diesem Buch ist er selbst mit Hund, Esel und Kamel in der steinigen Wüste um die Oase Djanet zu sehen. Schon 1933 war er vom Meharistenleutnant Benans, einem Kamelreiter der Kolonialarmee, auf den Formen- und Darstellungsreichtum der Kunstwerke aufmerksam gemacht worden.

Schließlich handelt es sich bei den mittlerweile zirka 15 000 erfassten Felsbildern im heutigen Nationalpark von Tassili n'Ajjer um Kunstwerke nicht aus einer einzigen Geschichtsperiode, sondern um Artefakte, die vermutlich aus der Zeit zwischen 12 000 und 1000 v. Chr. stammen, also aus verschiedensten Epochen.

Die Datierung der schwer erreichbaren und noch schwerer freizulegenden Funde ist nicht leicht, da die Malereien mit anorganischen Gesteinsfarben und das Gestein selbst nicht mit der Radiokarbon-Methode untersucht werden kann, die sich nur auf organische Überreste anwenden lässt.

Neben sehr subjektiven Vermutungen kommt vor allem die seit den Fünfzigerjahren übliche Thermolumineszenzdatierung zum Einsatz, die, vereinfacht gesagt, die letzte Belichtung durch Sonnenlicht zu messen versucht. Die Ungenauigkeit der Methode soll etwa zehn Prozent betragen, was bei den infrage kommenden Zeiträumen eher zu vernachlässigen ist. Die ältesten Bilder von Großtieren wie Büffeln, Nashörnern und Giraffen samt Antilopenarten, Krokodilen und Flusspferden stammen aus der Zeit bis 6000 v. Chr.

Kurz vor Ende der letzten Malerei-Periode begann die Austrocknung

Gegen Ende dieser Periode tauchen die Menschendarstellungen mit obskuren Rundköpfen auf. Bis 2500 v. Chr. überwiegen Abbildungen domestizierter Rinder und Ziegen sowie Menschen in Alltagsszenen.

Von 1500 v. Chr. an werden die Menschenbilder immer verrückter, und von Pferden gezogene Wagen tauchen auf. Gemeinsam ist allen Perioden, dass die heute knochentrockene Steinwüste eine von Wasserläufen durchzogene Landschaft mit Wäldern und Steppengras gewesen sein muss.

Kurz vor Ende der letzten Periode begann die Austrocknung der Region. So lebt diese Zeit der Fruchtbarkeit auch in den Mythen und Märchen der Tuareg-Stämme der Kel Ajjer fort, nach denen das 1982 als Unesco-Weltkulturerbe anerkannte Gebiet des Nationalparks benannt ist.

Schon Ende des 19. Jahrhundert tauchen erste Berichte über die Felszeichnungen und Gravuren auf, aber erst Henri Lhote setzte die Überreste der rätselhaften Kultur auf die Agenda der Ethnografen und Archäologen. Er rief aber auch gleich die Rätseldeuter auf den Plan. Schon in seinem berühmten Reisebericht fragt er: "Haben wir Atlantis entdeckt?", um es später zu verneinen.

In der Tat sehen manche der sogenannten Rundkopfdarstellungen so aus, als hätten die Figuren einen bleischweren Taucherhelm übergezogen.

Erich von Däniken blieb es vorbehalten, in einer sternenköpfigen Großfigur den Beweis für die vorzeitliche Anwesenheit von Außerirdischen in der Sahara zu vermuten.

Bleibt die Frage: Was bedeutet Tassili n'Ajjer?

Ist es nur eine schlichte Botschaft aus dem Neolithikum mit vielen Zeugnissen einer blühenden Kultur in der heutigen Steinwüste, über die wir vielleicht nur in griechischen Mythen Näheres erfahren? Oder handelt es sich um Fälschungen?

Schon Henri Lhote beklagt, dass Fundstätten von Abenteurern und Touristen verunstaltet wurden. Er berichtet, wie seine Mitarbeiter die Felsmalereien gelegentlich durch Waschungen auffrischten, bevor sie sie abzeichneten. Einmal erzählt Lhote, wie ihnen die Wasserfarben ausgegangen waren.

Wie die ursprünglichen Künstler benutzten sie die an Ort und Stelle vorkommenden Erdfarben und schufen auf Sandsteinplatten eigene Schöpfungen. "Nun weiß also die ganze Welt, dass wir gefälscht haben", verkündet er ironisch, um zu beteuern: Man brauche nur die Wand abzuwaschen, um die Echtheit festzustellen.

Die Fälschungen verschwinden. Die alten Farben aber sind tief ins Gestein eingedrungen.

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SZ vom 21.04.2018/odg
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