Männerleiden:Der Griff in den Schritt

Harndrang, Potenzschwäche, vergrößerte Prostata - Männerleiden wurden lange tabuisiert. Jetzt kommt die literarische Lust zum Bekenntnis.

Werner Bartens

Ein Panoptikum unglücklicher Frauen - anders kann man große Teile der Literaturgeschichte kaum auffassen. Ungewollt werden sie schwanger, verführt mit falschen Versprechen von den falschen Männern, denen nur die gutgläubige Heldin nicht anmerkt, dass die Kerle nur das Eine wollen und sie danach sitzen lassen.

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Alle reden über den Kopf als wichtigstes Organ des Menschen. Diese Fußballspieler zeigen, worauf es Männern tatsächlich ankommt. Der Mann  rechts hält noch andere Körperteile für schützenswert.

(Foto: dpa/dpaweb)

Die Frauen werden aus Liebesblödigkeit und Kummer wahnsinnig, zur Kindsmörderin oder beides. Sie leiden an stümperhaften Abtreibungen, an Selbstverstümmelungen und der Ächtung der Gesellschaft. Ohne die Figur der Frau am Rande des physischen wie psychischen Zusammenbruchs wäre ein Großteil der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts ungeschrieben geblieben.

In moderneren Werken sind es gerne teuflische Kindsfrauen oder fiese Verführerinnen, die jeden Mann mit Leichtigkeit um Verstand und Vermögen bringen. Aus der Femme fragile wird die Femme fatale. Frauen im mittleren Alter leiden zwar an mannigfaltigen Problemen, die aber nur mühsam verbergen, dass sie keinen, einen zu späten oder unerfüllten Kinderwunsch verspüren.

Viele miese Beziehungen und Paartherapien sind nötig, bis sie, von Wechseljahresbeschwerden gepeinigt, die Alterswerke und Menopause-Ratgeber bevölkern. In denen werden sie immerhin gefeiert, weil sie endlich ihren höchsten Reifegrad als lebenskluge Grandes Dames erreicht haben. Bis es soweit ist, gilt allerdings: Die Frau, das hormongeplagte Wesen.

Und der Mann? Reitet auf Âventiure, erobert fremde Ländereien und fremde Frauen und denkt nur an das Eine? Ist die allzeit potente Samenschleuder, dem jede Frau sofort verfällt?

Von wegen. In Romanen und Sachbüchern und gerne auch in den im Selbstverlag herausgegebenen Erinnerungen pensionierter Chefärzte dominiert der verbale Griff in den Schritt. Da tröpfelt und trieft es, da kann das Wasser nicht mehr gehalten werden oder es fließt zu selten und zu spärlich. Es drückt und schmerzt und kneift und zwickt und man möchte sich nicht ausmalen, welche Wendungen der Alltag unentrinnbar bereit hält, wenn erst der Strahl schwächer und die nächtlichen Toilettenbesuche häufiger werden.

"Natürlich geht es um Männlichkeit und um das männliche Selbstverständnis, alles da unten hat damit zu tun", sagt Tim Parks, der britische Schriftsteller, der seit Jahrzehnten mit seiner Familie in Verona lebt. "Ich fand es überraschenderweise aber ganz einfach, über diese Organe zu schreiben, geradezu entspannend." In seinem neuen Buch "Die Kunst stillzusitzen" schreibt Parks über seine ebenso hartnäckigen wie unerklärlichen Unterleibsbeschwerden - und das, obwohl er "nicht damit gerechnet hat, je ein Buch über den Körper zu schreiben. Schon gar nicht über meinen eigenen Körper."

Parks sagt das leise und gelassen. Er sieht zufrieden und in sich ruhend aus und wenn er die Stirn runzelt, weiß man nicht, ob das heitere Sorgenfalten oder melancholische Lachfalten sind. Kaum zu glauben, dass der freundliche Brite immer noch diese Schmerzen hat, "aber eher so als Hintergrundgefühl". Und sich damit einreiht in die Galerie der Unterleibs-Autoren, die sich nach Jahrhunderten der Tabuisierung einer Lust zum urologischen Bekenntnis und manchmal auch zum Selbstmitleid hingeben.

Leidensliteratur

In Philip Roths Roman "Der menschliche Makel" beginnt der 71-jährige Coleman Silk eine Affäre mit einer viel jüngeren Frau. Sein Freund ist nach einer Prostata-Operation impotent und inkontinent, während Silk von Viagra und seinen Qualitäten als Liebhaber schwärmt. In "Exit Ghost" steht das Leiden an Impotenz und Inkontinenz von Roths Romanfigur Nathan Zuckerman sogar im Mittelpunkt.

Max Frisch schreibt in "Montauk" über das Gefühl, im Alter eine Zumutung für Frauen zu sein und über seine Impotenz. Ben Turnbull, der alternde Held in John Updikes "Gegen Ende der Zeit" begehrt seine Schwiegertochter, sucht erotische Bestätigung bei einer Prostituierten und erkrankt schließlich an Prostatakrebs. Ein typischer Lebenslauf des alternden Mannes in der Literatur.

Und im Sachbuchgenre? Men's Health ohne Waschbrettbauch, dafür mit Andrologie. Viel über Kürbiskerne, Sägepalmenextrakt und die natürliche Kraft von Feigen, Austern und Artischocken. Und elegisch bis läppisch aber dafür auch für Kinder verständlich porträtiert der belgische Urologe Bo Coolsaet im "Pinsel der Liebe" das "Leben und Werk des Penis".

Dabei sind genital-urologische Leiden keineswegs nur eine Alterserscheinung. Es fängt ja schon bei Kleinkindern an: Sind die Hoden tatsächlich ordnungsgemäß aus der Bauchhöhle hinabgewandert? Oder bleiben sie als Gleit- oder Pendelhoden ungewöhnlich mobil mit der allzeit drohenden Gefahr einer durch zu viele Drehungen um die eigene Achse ausgelösten Torsion - ein Notfall, gegen den jede Kastrationsphantasie verblasst. Im Grundschulalter hat etwa die Hälfte aller Jungen eine verengte und verklebte Vorhaut. Bei den meisten löst sich das Problem allerdings buchstäblich von allein.

Es gibt daher offenbar nur eine kurze Phase im Leben eines Mannes, in der er nicht mehr von vorzeitigem Samenerguss und allerlei testikulären Verwicklungen geplagt ist - und noch nicht an vergrößerter Prostata und dadurch eingezwängter Harnröhre oder an Potenzschwäche leidet.

Nur die notorisch "weiche Leiste" erinnert ihn auch in dieser Zeit an den Schwachpunkt in seiner südlichen Körpermitte. Wahrscheinlich rühren aus diesem kurzem Sommer des Vergnügens die Potenzprahlereien und Größenvergleiche, die Kurt Tucholsky zu der Erkenntnis veranlasst haben: "Wenn ein Mann weiß, dass die Epoche seiner stärksten Potenz nicht die ausschlaggebendste der Weltgeschichte ist - das ist schon sehr viel."

Auf seiner Suche nach Heilung von den Verspannungen und Verkrampfungen im Unterleib oder wenigstens Linderung hätte der 56-jährige Tim Parks sich gewünscht, dass "die Ärzte ehrlicher sind über ihre begrenzten Möglichkeiten". Es hat gedauert, bis er auf einen Mediziner traf, der ihm sagte, dass er auch nicht weiter wisse - aber eine Krebserkrankung ausschließen könne. Parks hat sich zwar vielfältig untersuchen lassen, aber nicht unters Messer begeben. "Eine Operation ist eine rohe Antwort auf sehr komplexe Probleme", so Parks und schöner lässt sich kaum sagen, warum Chirurgen nicht immer die Lösung sind.

Parks schildert in seinem - ja was, ein Roman, ein Sachbuch? - auch eine Blasenspiegelung und zeigt die Instrumente. Ein Literaturkritiker war angewidert. "Mit täglichen Selbstmordanschlägen und Splitterbomben in der Zeitung hat er offenbar keine Probleme", wundert sich Parks, der erkannt hat, was seine Beschwerden mit ihm zu tun hatten, ohne dass er Schuld daran war. "Man ist sein Körper und man braucht ihn", sagt er. Gewinnen Männer solche Einsichten, ist es nur zu begrüßen, wenn sie weiterhin darüber schreiben, wo es besonders drückt.

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