Luftfahrt:Überirdisch

Einst flogen Kanzler und Kanzlerin in dem Airbus A310, jetzt dient er als fliegendes Labor: Auf Parabelflügen nutzen Forscher am Boden unerreichbare Zustände.

Von Alexander Stirn

Die Ansage aus dem Cockpit klingt harmlos: "Hochziehen." Die Folgen sind gewaltig. Schlagartig wird der Kopf schwer. Das Kinn drückt gegen den Hals, Blut strömt in die Beine, Atmen macht Probleme. Wangen und Mundwinkel ziehen nach unten.

Angela Merkel ist diese Erfahrung erspart geblieben - oder vorenthalten, je nach Sichtweise. Dabei ist das Flugzeug, das soeben in Bordeaux gestartet ist und nun in den Himmel schießt, ihr ehemaliger Dienstjet, die Konrad Adenauer, Luftwaffen-Kennung "10+21". Mehr als zwei Jahrzehnte lang hat der Airbus A310, einst aus Beständen der DDR-Gesellschaft Interflug übernommen, Kanzler und Minister zu ihren Zielen gebracht. Jetzt bringt er deutsche Wissenschaftler auf Achterbahnfahrten, an deren Höhepunkten die Schwerelosigkeit steht. 22 Sekunden lang. 31-mal hintereinander. Wie ein geworfener Stein fliegt der ehemalige Kanzlerjet, und wird jedesmal wieder abgefangen. Parabelflüge nennen Luftfahrer das.

Während des Schwungholens steht Ulrike Friedrich im hinteren Teil der Maschine und stemmt sich gegen die in dieser Phase doppelten Schwerkraft. Seit 1999 leitet die Biologin das Parabelprogramm des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). In der 100 Quadratmeter großen Experimentierzone des Jets standen noch vor einem Jahr Schlafgemach und Badezimmer der Kanzlerin - ausgestattet mit hellem Holz und golden schimmernden Wasserhähnen. Jetzt finden sich hier Plasmakammern und Schmelzöfen, biologische und medizinische Experimente. Der feine hellblaue Teppich wurde durch weiße Schaumstoffmatten ersetzt. Gummizellenatmosphäre.

Zwischen den Geräten liegen und hocken 29 Forscher und acht Probanden. Während des Hochziehens der Maschine nur nicht den Kopf bewegen, ist ihnen eingebläut worden. Andernfalls beschwert sich das Gleichgewichtsorgan - und der Griff zur Spucktüte wird obligatorisch.

Vom Kanzlerjet zum Kotzbomber? "Ich mag diesen Begriff überhaupt nicht", sagt Friedrich barsch. Außerdem sei er maßlos übertrieben. Von 40 Leuten werde am ersten Flugtag lediglich zwei bis vier übel. 26 Kampagnen, wie die Blöcke aus drei, manchmal auch vier oder fünf Flugtagen genannt werden, hat die Projektleiterin bereits hinter sich. Alle in einem Airbus A300, Baujahr 1973. Nun leitet sie die erste deutsche Kampagne im ehemaligen Regierungsflieger.

Der Proband, der gerade noch apathisch vor der Bordwand saß, beginnt zu schweben

"Natürlich hätten wir den A300 weiter nutzen können, aber nach 41 Jahren wurde die Beschaffung der nötigen Ersatzteile teurer und teurer", sagt Friedrich. Deshalb beschloss die französische Firma Novespace, die für europäische Raumfahrtagenturen den Parabelflieger betreibt, eine neue Maschine zu beschaffen. Bei der Flugbereitschaft der Luftwaffe wurde sie fündig. Allerdings waren mehr als 1300 Modifikationen nötig, um aus dem Kanzler-Airbus einen Parabelflieger zu machen. Nur etwas schwarz-rot-goldene Farbe, die unter dem weißen Rumpf hervorschimmert, verrät noch die Herkunft.

Photographer:S. ROUQUETTENASA

Ein Flugzeug während eines Parabelfluges.

(Foto: ESA/Montage SZ)

"Dreißig." "Vierzig." Die Ansagen aus dem Cockpit kommen immer schneller. Mit einem Anstellwinkel von mehr als 40 Grad klettert der Airbus in die Höhe. Pilot Stéphane Pichené hat das Steuerhorn mit dicken Handschuhen zu sich herangezogen. Vom Mont Saint-Michel, über den der A310 gerade noch hinweg geflogen ist, ist nichts mehr zu sehen. "Natürlich wissen wir, dass wir im ehemaligen Kanzler-Airbus unterwegs sind, und wir wissen es auch zu schätzen", sagt Pichené diplomatisch. "Im Flug ist dabei beim besten Willen aber nichts zu spüren." Für den erfahrenen Testpiloten, der in seinen zehn Jahren bei Novespace gut 5000 Parabeln absolviert hat, zählt etwas anders: Verglichen mit dem A300 hat der neue Flieger weichere Tragflächen. Das garantiert bessere Parabeln.

Pichené drückt das Steuerhorn leicht nach vorne. Der mehr als 100 Tonnen schwere Flieger folgt nun der Flugbahn, die auch ein Ball im Vakuum nehmen würde. "Injection", quakt es aus den Bord-Lautsprechern. Schwerelosigkeit.

"Dank des neuen Fliegers ruckeln die Parabeln nicht mehr so sehr, das ist für unser Experiment von Vorteil", sagt DLR-Materialphysiker David Heuskin, während er sich an einem bordeauxfarbenen Schrank festhält, um nicht planlos davonzuschweben. Es ist die Tempus-Anlage, das Ur-Experiment der deutschen Schwerelosigkeitsforschung. Bereits 1984 diente es der Materialforschung an Bord eines amerikanischen Parabelflugzeugs. Inzwischen gibt es Varianten davon für Höhenforschungsraketen und für die Internationale Raumstation ISS. Auf einem Monitor ist in starker Vergrößerung ein sechs Millimeter großes Kügelchen zu sehen, das sich gerade in der Anlage befindet. Ein Magnetfeld hält es an seinem Platz, ein zweites Feld bringt es zum Schmelzen. Das Kügelchen leuchtet auf, tänzelt hin und her, schwingt und erstarrt wieder. Alles in 22 Sekunden. Eine Hochgeschwindigkeitskamera, die 30 000 Bilder pro Sekunde macht, registriert jedes Detail. Die Forscher können daraus die Oberflächenspannung, Viskosität und Leitfähigkeit des Materials bestimmen - ohne störende Schwerkraft, die auf der Erde Messungen beeinträchtigt. Die Erkenntnisse sollen zum Beispiel helfen, Gießprozesse am Boden zuverlässiger zu simulieren.

Die Nachfrage nach Parabelzeit ist groß - trotz der hauseigenen Konkurrenz: Auf der Forschungsrakete, die im Schnitt alle zwei Jahre startet, bekommt Tempus sechs Minuten Schwerelosigkeit; es lassen sich aber nur zwei Proben analysieren. Auf der ISS ist die Zahl der Versuche praktisch unbegrenzt, die Experimente sind aber teuer und aufwendig. An Bord des ehemaligen Kanzler-Airbus können pro Flug hingegen sechs Proben auf je fünf Parabeln untersucht werden. "Das geht hier alles sehr spontan", sagt Heuskin.

Vor allem aber können die beteiligten Wissenschaftler mitfliegen. "Die Astronauten auf der ISS machen ohne Frage einen tollen Job, aber es ist natürlich etwas anderes, wenn Forscher selbst an den Reglern drehen", sagt Ulrike Friedrich. Gerade kämpft das Tempus-Team mit einem Halbleiter aus Silizium und Germanium, einer besonders hartnäckigen Probe, die viel Fingerspitzengefühl verlangt. "Parabel 23: zu lange erhitzt", wird das Protokoll später vermerken. Als die Schwerkraft wieder einsetzt, ist das Kügelchen noch nicht erstarrt. Kein Problem. Es war ja nicht die letzte Parabel an diesem Tag.

Parabelflug

Wie im Weltall: Teilnehmer eines DLR-Parabelfluges genießen das Gefühl, für einen Moment ihre Erdenschwere vergessen zu dürfen.

(Foto: dpa/ESA)

"Und los!" Wie ein Dirigent gibt Stefan Schneider von der Deutschen Sporthochschule in Köln das Startsignal für sein Experiment. Ein Proband, der zuvor etwas apathisch an der Bordwand saß, beginnt zu schweben. Er strampelt leicht.. Eine weiße Kappe mit 64 Elektroden misst seine Hirnströme. Vielflieger Schneider hat die Hypothese aufgestellt, dass das Gehirn in der Schwerelosigkeit effizienter arbeitet. Um das zu überprüfen, hören seine Probanden während des Flugs unterschiedliche Töne. Bei den hohen müssen sie einen Knopf drücken. Reaktionszeit und Gehirnwellen werden registriert, einmal mit und einmal ohne Schwerkraft.

"Zwanzig." "Dreißig." Die Stimme aus dem Cockpit ist zurück. Längst hat der Airbus den Scheitelpunkt der Parabel überschritten und befindet sich nun in zunehmend steilem Sturzflug. Sechs Meter kürzer als der A300 ist der neue Flieger."Das Flugzeug reagiert nun direkter", sagt Stéphane Pichené. Sein Blick klebt auf einem ausklappbaren Monitor im Cockpit. Darauf sind Balken mit den Beschleunigungswerten des Flugzeugs zu sehen. Während der Schwerelosigkeit sollten sie möglichst Null anzeigen.

Parabelfliegen ist Handarbeit. Der Luftwiderstand, der den freien Fall stört, muss ständig durch aktive Flugmanöver kompensiert werden. Pichené teilt sich die Arbeit mit zwei Kollegen. Einer zieht die Nase nach oben und lässt sie wieder sinken. Der zweite hält die Tragflächen in der Waagerechten. Der Dritte kontrolliert den Schub, was beim neuen Flieger besonders anspruchsvoll ist, da die Leistung bereits vor Beginn der Parabel reduziert werden muss. "Gut möglich, dass die Qualität unserer Schwerelosigkeit mit etwas mehr Übung noch besser wird", sagt Pichené. "Jede Parabel ist anders, mal exzellent, mal nicht ganz so perfekt", erklärt er, während das Flugzeug ungebremst auf die Normandie zurast.

Perfekt kristallisierter Zement - damit könnte man eines Tages Mondsiedlungen bauen

"Achtzehn, neunzehn." Johann Plank zählt die Sekunden seit Beginn der Schwerelosigkeit. Nebenan schwebt ein Kollege und mischt Zement. Plank will herausbekommen, wie Baustoffe kristallisieren, die eines Tages die Grundlage für Mondsiedlungen sein könnten. "Auf der Erde kommt es bei der Reaktion mit Wasser immer zu Defekten und fehlerhaften Anordnungen, man findet so gut wie nie einen perfekten Kristall", sagt der Bauchemiker von der TU München.

Luftfahrt: SZ-Grafik: Bucher; Quelle: Novespace

SZ-Grafik: Bucher; Quelle: Novespace

Im vergangenen November konnte Plank zeigen, dass in der Schwerelosigkeit perfekter Zement gemischt werden kann. Deshalb darf er nun wieder schweben: Für jede der etwa 1,5 Millionen Euro teuren Parabelflug-Kampagnen sucht ein Expertengremium die viel versprechendsten Versuche aus.

Drei miteinander verbundene Spritzen hat Planks Team in versiegelte Plastikbeutel gepackt, für jede Parabel einen. Zu Beginn der Schwerelosigkeit drücken die Forscher Wasser aus einer Spritze in eine andere. Dort ist der Zement. Nach zehn Sekunden wird das Gemisch mit beherztem Druck auf die zweite Spritze entwässert. Dann muss ein Hahn umgelegt werden, um Aceton aus der dritten Spritze in den beinahe trockenen Zement zu pressen. Das stoppt die Reaktion. Bei all dem gilt: Schütteln nicht vergessen.

"Abfangen!" Das Kommando aus dem Cockpit ist kurz und präzise. Mit einem Anstellwinkel von minus 42 Grad saust die ehemalige "Konrad Adenauer" dem Boden entgegen, 7600 Meter hoch, 570 Kilometer pro Stunde schnell. Pichené zieht kraftvoll das Steuerhorn zu sich her. Weitere 1500 Höhenmeter wird das Flugzeug verlieren, weitere 250 Kilometer pro Stunde wird es an Tempo zulegen, bis Pichené den Parabelflieger endlich abgefangen hat. Zwanzig Sekunden lang zerrt dabei wieder das Zweifache der Erdbeschleunigung an allem und jedem.

Die Forscher liegen, hocken, verharren. Niemand bewegt sich - mit einer Ausnahme: Johann Planks Zement wird noch immer geschüttelt.

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