Süddeutsche Zeitung

Lichtverschmutzung:Wenn der Mensch der Natur die Nacht stiehlt

Am Stechlinsee in Brandenburg ist es so dunkel wie nur an wenigen Orten Europas. Dort untersuchen Forscher, wie die Lichtverschmutzung ganze Ökosysteme durcheinanderbringt.

Von Esther Göbel

Noch taucht die Abenddämmerung den Stechlinsee in rosa-weiches Herbstlicht, noch ist der Mond nicht mehr als eine sachte Andeutung am Himmel, unter ihm schimmert das Wasser scheinbar bewegungslos wie eine silbergraue Folie im letzten Sonnenlicht des Tages. Doch schon bald wird es hier nicht nur dunkel sein - sondern stockfinster. Dann wird der Biologe Gabriel Singer aufstehen, herzhaft gähnen und noch etwas schlaftrunken, aber doch zügig seine Butterbrotbox packen; Vollkornbrot, ein großes Stück Gebirgskäse, ein klein geschnittener Apfel.

Zeitgleich werden sich fünf junge Kollegen aus ihren Betten quälen, ein sechster wird heute verschlafen, trotz der drei Wecker, die er sich gestellt hatte. Doch es gilt, keine Zeit zu verlieren, die anderen müssen sich beeilen und noch die nötigen Utensilien aus dem Geräteschuppen zusammensuchen, bevor sie in einem kleinen Motorboot hinüberschiffen zu ihrem Experiment mitten im See, das aussieht, als hätte jemand ein achteckiges, beleuchtetes Ufo mit darin eingelassenen Kreisen ins Wasser gesetzt. Die Uhr zeigt 5.30 Uhr. Für Gabriel und seine Kollegen beginnt genau jetzt der Arbeitstag.

"Und nun setzten wir uns an den Rand eines Vorsprungs und horchten auf die Stille"

Schon der Dichter Theodor Fontane beschrieb einst den Stechlin bei Tage in seinem gleichnamigen Roman. "Und nun setzten wir uns an den Rand eines Vorsprungs und horchten auf die Stille. Die blieb, wie sie war: kein Boot, kein Vogel; auch kein Gewölk. Nur Grün und Blau und Sonne." Der Blick, den Fontane auch des Nachts auf den See in Brandenburg hatte, dürfte nicht viel anders gewesen sein als jener, der sich dem nächtlichen Besucher von heute offenbart. Kein Großstadtlicht dringt vom knapp 90 Kilometer entfernten Berlin hindurch, kein Geräusch und kein Lampenschein vom angrenzenden Dörfchen Neuglobsow hinüber, wo zu Fontanes Zeiten die Arbeiter einer nahegelegenen Glashütte lebten und heute in den Sommermonaten Touristen ihr Quartier beziehen.

Nur der schmale Turm des ehemaligen Kernkraftwerks Rheinsberg, der über dem Wald seine dunkle Silhouette in den Himmel schiebt, verrät dem Betrachter, dass der Stechlinsee doch nicht allein von Einsamkeit umgeben ist. Dieser liegt in einem Naturschutzgebiet - und in Dunkeldeutschland: Nur noch an wenigen Orten Europas ist das Schwarz der Nacht so tief und vakuumisierend wie hier. Wer gegen 22 Uhr den Versuch wagt, die paar hundert Meter asphaltierten Weges von Neuglobsow durch den Wald zum Bootshaus hinüberzuspazieren, kann bei bewölktem Himmel die eigene Hand vorm Gesicht nicht mehr erkennen, so dunkel ist es. Als hätte jemand ein großes Fass schwarzer Tinte über die Szenerie gegossen.

"Himmelsglühen", so lautet der poetische Name für das, was Forscher auch "Lichtverschmutzung" nennen

Deswegen haben die Forscher des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) gleich am und auf dem Stechlinsee ihr Quartier bezogen: Weil es hier nach Sonnenuntergang so finster wird wie es vor der Erfindung des elektrischen Lichts im späten 19. Jahrhundert war. Und weil dieser Grad der Dunkelheit den Wissenschaftlern ermöglicht, die Konsequenzen künstlicher Beleuchtung bis ins kleinste Detail zu erforschen.

"Himmelsglühen", so lautet der poetische Name für das, was Forscher versachlicht auch "Lichtverschmutzung" nennen: Weil der Mensch seine industrialisierte Umgebung mittels Leuchtreklame, Straßenlaternen und privatem Lichtschalter zum Strahlen bringt wann immer er will, wird die Nacht zusehends zum Tag; in den vergangenen Jahrzehnten hat die künstliche Lichtemission im globalen Durchschnitt pro Jahr um drei bis sechs Prozent zugenommen. Das rötliche Glühen, das jeder am Himmel beobachten kann, der in einer mittelgroßen Stadt lebt, entsteht, weil von der Erde abstrahlendes Licht sich in Luftmolekülen und Wolken-Aerosolen bricht und zur Erde zurückgestrahlt wird.

Erst wenn es dunkel genug ist, kommen die Tierchen an die Wasseroberfläche

Forscher wissen, welche Regionen der Welt besonders betroffen sind. Erst im Juni hat das Helmholtz-Zentrum in Potsdam einen Weltatlas des Himmelsglühens veröffentlicht. Dieser verrät: Besonders hell ist es in den Nachtstunden in Westeuropa, Nordostamerika, den Küstengebieten Asiens und im Nildelta. Was die Forscher jedoch bislang nicht wissen: Welche Konsequenzen die diffuse Strahlung für das sensible Zusammenspiel der Natur hat, beispielsweise für die Nahrungsketten in Binnengewässern.

Das Seelabor soll im wörtlichen Sinne Licht ins Dunkel bringen. Es ist ein riesiges Projekt, das unter dem Namen "ILES - Illuminating Lake Ecosystems" für zwei Monate 60 Forscher aus verschiedenen Nationen in den Norden Brandenburgs beordert hat. Gabriel Singer und seine Kollegen wollen untersuchen, wie Fische, Algen und Bakterien reagieren, wenn ihnen die Dunkelheit der Nacht zusehends genommen wird.

Dazu haben Physiker und Techniker ein ausgeklügeltes System erdacht, ein Freiluftlabor, das jetzt vor Singer und seinen Kollegen lautlos und fast bewegungslos in der Dunkelheit schwimmt: eine begehbare Aluminiumkonstruktion aus 24 kreisrunden und bis auf den Grund voneinander abgedichteten Becken, die sich um ein größeres von 30 Metern Durchmesser im Zentrum herumlagern - so entstehen 25 künstliche Seen im großen Stechlinsee. Fünf Millionen Euro hat das schaukelnde Labor gekostet.

Auf zehn der Becken haben die Forscher filigrane Lichtringe aus LED-Röhren installiert, jeweils einen inneren, einen äußeren. Fünf Becken werden in einer Intensität von 0,6 Lux bestrahlt, die etwa dem Himmelsleuchten außerhalb Berlins entspricht, die anderen fünf sind einer deutlich höheren Intensität von sechs Lux ausgesetzt, was dem Lichtdom über einer asiatischen Großstadt nachempfunden ist. Fünf weitere Versuchszylinder dienen als Kontrolle und bleiben unbeleuchtet. So testen die Wissenschaftler anhand von 15 Becken die unterschiedlichen Einflüsse von künstlichem Licht auf den Tag-/Nachtrhythmus der Organismen.

150 Insekten

durchschnittlich sterben in Deutschland an einer einzigen Straßenlaterne in einer Sommernacht. Da es in Deutschland 6,8 Millionen Laternen gibt, bedeutet das den Tod von einer Milliarde Insekten. Kunstlicht stört außerdem die Orientierung von Zugvögeln und Meeresschildkröten. Auch die astronomische Beobachtung ist gestört. In sehr dunklen Gegenden sieht man mit bloßem Auge 6500 Sterne. In Innenstädten nur noch einige Dutzend.

Gabriel Singer, 40 Jahre alt und trotz der frühen Stunde an diesem Morgen ein Witzchen nach dem anderen reißend, hat sich auf die bakterielle Gemeinschaft des Sees spezialisiert. Die schwindende Nacht ist fast wolkenlos, der Mondschein macht es den Wissenschaftlern leicht, als sie am Seelabor anlegen und ihr Zubehör aus dem kleinen Motorboot laden: Schläuche, Bottiche, Kanister und Trichter. In jedes der fünfzehn Seebecken wird ein Schlauch hinuntergelassen und eine Wasserprobe genommen, die, gut verpackt, an Land geschifft und dort im Labor filtriert und direkt weiter untersucht wird. Gleichzeitig messen Sensoren in den einzelnen Becken über die komplette Tiefe von knapp 20 Metern und rund um die Uhr Parameter wie den pH-Wert, die Lichtstärke, die Temperatur des Wassers und Fluoreszenz verschiedener Pigmente sowie die Leitfähigkeit. Die Daten werden direkt ins IGB-Hauptquartier nach Berlin gefunkt.

Singer entlässt das Wasser aus Becken "1e" in einen Kanister, zieht den Schlauch heraus, seine Assistentin schraubt den Kanister zu. Das nächste Becken ist dran. Das Team arbeitet zügig, die Handgriffe sitzen, nach knapp einer Stunde sind alle Wasserproben eingetütet. "Das Neue an diesem Versuchssetting ist, dass wir die indirekte Veränderung eines ganzen Ökosystems über eine einzelne Population hinaus bestimmen können", erklärt Singer. Im Osten steigt langsam die Sonne über dem Stechlinsee auf. Jetzt erst mal zurück an Land, die Proben schnell aufarbeiten und dann: Kaffee für alle.

"Wir sind überrascht, dass wir die Effekte der LED-Beleuchtung schon jetzt sehen können"

Wer als Laie auf einen See schaut, der sieht: ein großes Becken gleichfarbigen Wassers. Manchmal einen Fisch, hier und da eine Alge. Das war's. Limnologen aber, die Seen wissenschaftlich untersuchen, wissen, wie komplex dieses Ökosystem ist. Wie die einzelnen Wasserschichten mit dem Licht der Sonne interagieren, wie sie sich im Takt der Jahreszeiten umwälzen, wie das Phytoplankton in der Oberflächenschicht Sauerstoff und Nährstoffe produziert, wie zahllose Kleinstlebewesen mit den größeren, für das menschliche Auge sichtbaren Organismen in sensiblen Nahrungsketten vernetzt sind. In einer großen Choreografie greifen die einzelnen Prozesse ineinander, um am Ende in aller Stille eine perfekte Kür der Natur entstehen zu lassen.

Was aber, wenn ein Störfaktor wie nächtliches Licht in diese Kür hinein- grätscht? Singer nimmt zum Beispiel an, dass die LED-Beleuchtung bei Wasserflöhen Veränderungen im physiologischen Verhalten hervorruft. Normalerweise begeben sich die Tierchen im Tages- und Nachtrhythmus auf eine Wanderung: Erst nachts, wenn es dunkel genug ist, kommen sie an die Wasseroberfläche, um dort Algen zu fressen. Und wenn es durch das Himmelsglühen zu hell wird, und die Flöhe ihre Vertikalwanderung einstellen würden? Dann könnte das Gleichgewicht schnell durcheinandergeraten: Den Algen würde ein natürlicher Fraßfeind fehlen, was wiederum weitere Rückwirkungen hätte wie eine verstärkte Substratproduktion.

"Wir sind überrascht, dass wir die Effekte der LED-Beleuchtung schon jetzt in einigen Parametern sehen können", sagt Singer. Mittlerweile ist seine Truppe im Labor angekommen. Dort werden die Proben zunächst filtriert, die Bakteriengemeinschaft wird genau charakterisiert und DNA-Proben werden genommen. In einem weiteren Raum wird das gesamte organische Material der einzelnen Wasserproben extrahiert, während Assistent Lucas in einem kleinen Labor im zweiten Stock über eine feine Sonde den Gehalt an Sauerstoff und später noch die Enzymaktivität misst.

Unweit von ihm entfernt sitzt in einem kleinen Büro schräg unterm Dach die Biologin Stella Berger, 50 Jahre alt, blondes langes Haar, Abteilung "Experimentelle Limnologie". Sie koordiniert das ILES-Projekt; den Boots-Shuttle-Service vom Seelabor zum Ufer und wieder zurück, Apparaturen und Plätze im Labor, welche Gastwissenschaftler wann zu Besuch kommen: All das muss organisiert werden. Berger kümmert sich aber nicht nur um die logistischen Herausforderungen des Projekts, sondern auch um das Phytoplankton im See, also um die Algen in der Oberflächenschicht des Wassers. Sie untersucht die Populationsdynamik sowie die Artenzusammensetzung. "Grob gesagt schauen wir uns an, wer da ist, wie viele Algen von welcher Sorte und wie sie sich verändern über unseren Versuchszeitraum von zwei Monaten", erklärt sie.

Dunkeldeutschland ist im politischen Kontext ein Fluch, für die Natur aber ein Segen

Dabei hilft ihr im Labor eine sogenannte "Flowcam", die die unsichtbare Welt des Phytoplanktons sichtbar macht: Die Apparatur sieht aus wie ein großer, schwarzer Koffer. Darin: Filtrierte Wasserproben, die durchleuchtet werden, ein quer gelegtes Mikroskop, das Algen in der Größe von beispielsweise 20 bis 300 Mikrometer vergrößert und eine Kamera. Die schießt Bilder der Algen und schickt sie direkt weiter auf Bergers Computer. Dort öffnet sich ein Kaleidoskop der Vielfalt: Fotos von Algen in verschiedenen Formen und Farben. Die kreisrunde Grünalge Eudorina, die flächige Kieselalge Fragilaria, die aussieht wie ein Stück zarte Gaze, oder die sternförmige Asterionella formosa, Bergers Lieblingsalge. "Das Phytoplankton ist sehr sensibel", sagt sie, "das reagiert sehr schnell auf veränderte Verhältnisse."

Gabriel Singer sitzt derweil draußen in der Morgensonne. Zeit für ein Zwischenfrühstück aus seiner Butterbrotbox. Und fürs Philosophieren. Natürlich lasse sich das Himmelsglühen nicht auf die Schnelle ausschalten, da macht sich der Experte keine Illusionen. Trotzdem ist er hoffnungsvoll. "Durch selbstfahrende Autos würde zum Beispiel die Straßenbeleuchtung obsolet, oder man kann die Lichtfarbe von Laternen verändern", sagt er. Diese Maßnahmen würden der Natur helfen, zu ihrer Nachtruhe zurückzufinden. "Wir müssen aufhören, Licht in der Nacht als etwas durchweg Positives zu betrachten", findet Singer. Denn der Wissenschaftler weiß: Das Wort Dunkeldeutschland ist nur im politischen Kontext ein Fluch. Für die Natur aber ist es ein Segen.

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Quelle:
SZ vom 01.10.2016/beu
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