Die Nationale Akademie der Wissenschaften hat am Mittag des Ostermontags ihre dritte Ad-hoc-Stellungnahme zur Bewältigung der Coronakrise in Deutschland vorgelegt. Das 19-seitige Papier, an dem dieses Mal Rechtsexperten, Ökonomen, Psychologen, Modellierer und Bildungsfachleute beteiligt waren, umfasst unter anderem Vorschläge für eine behutsame Rückkehr in den Schulbetrieb und für schrittweise Lockerungen oder Veränderungen der eingeführten Maßnahmen in der Coronavirus-Krise.
Es ist die dritte Ad-hoc-Stellungnahme der Nationalen Akademie seit dem 21. März, Kanzlerin Angela Merkel hat die Einschätzung der Leopoldina als "sehr wichtig" für das weitere Vorgehen in der Krise bezeichnet. Das neue Papier soll die beiden vorherigen, eher naturwissenschaftlich orientierten Einschätzungen der Virologen dabei nicht ersetzen, sondern ergänzen. "Bisher ging es im System Virus-Mensch vor allem um das Virus", erläutert der Physiker Dirk Brockmann von der Humboldt-Universität Berlin, der zu den Verfassern der Stellungnahme zählt. Nun habe man sich ganz gezielt "dem anderen Ende des Systems" zugewandt, den Menschen und der Gesellschaft.
Als Voraussetzung für eine nachhaltige Bewältigung der Krise nennen die Experten der Akademie als ersten von sechs Punkten die Erhebung von mehr Daten, um die Zahl der akuten und durchgemachten Infektionen in der Bevölkerung besser einschätzen zu können. So soll eine "optimierte" Entscheidungsgrundlage für eine "differenzierte Risikoeinschätzung" geschaffen werden. Bisher seien Maßnahmen aufgrund der großen Wissenslücken eher pauschal getroffen worden, dies soll sich mit Blick auf Risikogruppen und die Erfordernisse der verschiedenen Regionen in Deutschland ändern. Im Klartext bedeutet dies, dass verstärkt Datenspenden der Bevölkerung ausgewertet und regionale Langzeitstudien durchgeführt werden müssten. Damit keinesfall gemeint seien jedoch überhastete Veröffentlichungen von Daten wie aus dem nordrheinwestfälischen Heinsberg, erklärte Brockmann.
Corona-Krise:Kritik und Zweifel an Studie aus Heinsberg
Die Erhebung sollte eine beginnende Herdenimmunität gegen das Coronavirus belegen. Doch offenbar gibt es erhebliche Mängel.
Erste Zwischenergebnisse von Befragungen und verschiedenen Tests waren am Donnerstag vor Ostern auf einer Pressekonferenz vorgestellt worden. Sowohl die Präsentation als auch die Methodik der Studie erntete in Expertenkreisen jedoch heftige Kritik. So hatte das Team der Universität Bonn zum Nachweis der Immunität etwa einen Test eingesetzt, der belegbar auch auf ein harmloses Erkältungsvirus anschlägt. Die Heinsbergstudie kam mit dem Test auf eine angebliche Immunität von 15 Prozent in der Bevölkerung gegenüber Sars-CoV-2. Nach der Präsentation hatte Ministerpräsident Armin Laschet Lockerungen der Maßnahmen angekündigt.
"Diese Studien sind wichtig, aber sie brauchen, wenn man sie sorgfältig macht, Zeit", sagt Brockmann. In Echtzeit untersuchen lasse sich die Pandemie samt Maßnahmen jedoch anhand der Datenspenden, um die das Robert-Koch-Institut in der Woche vor Ostern gebeten hatte. Laut Brockmann, der als Modellierer an der Untersuchung der gespendeten Daten beteiligt ist, haben sich bislang mehr als 400 000 Menschen die Datenspende-App auf ihr Handy geladen. "Das ist ganz toll, denn niemand, der da mitmacht, tut es zum reinen Selbstschutz", sagt Brockmann. Kommende Woche will der Physiker die erste Auswertung versuchen.
Doch es geht auch um konkrete Änderungen der Maßnahmen, die für die stark in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkte Bevölkerung Erleichterung schaffen, ohne die Zahl der Infektionen wieder in die Höhe zu treiben. So sollen Schulen "so bald wie irgendwie möglich" öffnen, um Kinder und Jugendliche wieder einem strukturierten Alltag und der notwendigen professionellen Betreuung durch die Lehrkräfte zuzuführen. Dies muss nach Ansicht der Akademie jedoch nach Jahrgängen abgestuft erfolgen, wobei den Grundschulen Priorität einzuräumen sei. Außerdem seien Hygiene- und Distanzierungsmaßnahmen wie zeitlich gestaffelte Pausenzeiten oder das Tragen von Masken zu berücksichtigen.
Die Akademie geht in ihrem Papier auch auf Vorkehrungen ein, welche die ökonomischen Folgen der Krise abfedern. Ferner hat sich das Gremium mit der Sozialpsychologie der Maßnahmen befasst. "Alles, was Menschen selbst aktiv tun können, steigert ihr Kontrollgefühl", schreiben die Experten. Es gehe deshalb darum, den eigenverantwortlichen Umgang mit der Situation zu fördern. "Paternalistische Bevormundungen" gegenüber einzelnen Bevölkerungsgruppen, selbst wenn sie schützend gemeint sind, seien zu vermeiden.
Für viele Menschen in Deutschland, die eine baldige Lockerung der Maßnahmen erwarten, dürfte die Stellungnahme der Leopoldina einen Nerv treffen. Die Experten betonen jedoch mehrmals in ihrem Papier, dass zunächst die Voraussetzungen stimmen müssten, um die skizzierten Anpassungen vorzunehmen. Darüber, wann es soweit sein könnte, schweigt die Akademie. "Es ist schlicht nicht möglich, einen zeitlichen Rahmen für diese Änderungen vorzugeben", sagt Brockmann. Diese Entscheidungen seien Sache der Politik. Und so heißt es auch aus Sicht der Leopoldina weiter, sich in Geduld zu üben.