Leoparden in Mumbai:Besucher in der Nacht

On a hill overlooking Mumbai a man-made water hole attracts one of an estimated 35 leopards living in and around Sanjay Gandhi National Park.

Im Sanjay Gandhi Nationalpark leben geschätzte 35 Leoparden. Nachts treibt es sie in die Stadt, die den Park einschließt.

(Foto: National Geographic/Getty Images)

Dutzende Leoparden streifen nachts durch die indische Metropole Mumbai. Meist lassen die Raubtiere Menschen in Frieden - aber manchmal wird es brenzlig.

Von Arne Perras, Mumbai

Hätte der Forscher Nikit Surve einen Wunsch frei wie im Märchen, dann würde er losziehen, um Jack Sparrow zu finden, draußen in der Nacht. Der Inder würde ihm gegenübertreten, in die Augen schauen und fragen: "Wie machst du das, mein Junge? Dich ständig unter die Leute zu mischen, ohne dass irgendeiner etwas davon mitbekommt?" Und wer weiß, vielleicht würde ihm sein gewieftes Gegenüber sogar antworten und das große Geheimnis preisgeben.

Für Surve wäre das ein Traum.

Nur dass dieser Jack Sparrow nicht zu den Menschen reden kann. Er ist nicht der berühmte Pirat. Er ist ein Leopard.

Der Wildbiologe Surve hat die Raubkatze so getauft, weil sie aussieht, als trage sie eine Augenklappe. Auf Fotos der Kamerafalle kann man gut erkennen, dass der Leopard einen schwarzen Fleck rund um sein Auge hat. Jede Katze ist etwas anders gefleckt, die Zeichnung so individuell wie ein menschlicher Fingerabdruck. 41 Leoparden haben Forscher auf diese Weise in der indischen Metropole Mumbai gezählt. Unter 24 Millionen Menschen. Das ist weltweit ein einzigartiges Szenario.

Sie laufen durch Gassen, schnuppern in die Gärten, schleichen sich durch Türen

Von allen Großkatzen sind die Leoparden die anpassungsfähigsten. Sie haben sehr unterschiedliche Lebensräume in Afrika und Asien erobert: Halbwüsten, Savannen, Regenwälder. Bis hinauf ins Hochgebirge des Himalaja sind sie - in Gestalt der Schneeleoparden - vorgestoßen. Und anders als Löwen, Tiger oder Jaguare haben sie es geschafft, dauerhaft in unmittelbarer Nachbarschaft mit Menschen zu existieren. Heimlich, still und leise.

Den Tag verbringen die Tiere im Wald, die meisten Leoparden Mumbais stammen aus dem Sanjay Gandhi National Park, einem 104 Quadratkilometer großen Schutzgebiet, wie eine grüne Perle liegt es im Herzen der Stadt. Auf drei Seiten ist der Wald von der Metropole umschlossen, im Norden grenzt er an einen Fluss. Wenn es dunkel ist, schleichen sich die Katzen in den Großstadtdschungel, wo sie oft dieselben Wege wie die Menschen nehmen. Sie laufen durch Gassen, schnuppern in die Gärten, schleichen sich durch Türe und Tore. Die Zweibeiner bekommen davon meist nichts mit.

Und wenn doch? Von den seltenen Begegnungen zwischen Raubkatzen und Menschen wird noch die Rede sein, ein Mann, der sie zu spüren bekommen hat, wird davon erzählen. Immer sind das große Dramen, Ausgang ungewiss. Doch Leoparden streifen sicher nicht durch die Stadt, weil sie die Neugierde auf Menschen antreibt. Es lockt sie etwas anderes in die Hochhausschluchten: leichte Beute. Überall streunen herrenlose Hunde herum, nachts schlafen sie zusammengerollt auf dem warmen Asphalt. Meistens bilden sie kleine Rudel, aber das schützt sie nicht vor Angriffen. "Leoparden springen schon mal mitten hinein in eine Gruppe und holen sich einen Hund heraus", sagt Surve. Der Angriff kommt so schnell und aus dem Hinterhalt, selbst große Hunde haben keine Chance.

Der Biologe Surve hat an diesem Abend sein Motorrad vor einer lärmenden Kneipe in Mulund geparkt, einem quirligen Viertel, das direkt an den Nationalpark grenzt. Der Inder kommt gerade aus dem Wald, wo die Forscher ihre Fotofallen installiert haben, und das tun sie inzwischen auch an bestimmten Punkten in der Stadt. Sie wollen mehr über die Gewohnheiten und Routen der Leoparden erfahren. Der 26-jährige Inder mit dem dichten, schwarzen Bart findet, dass er einen der aufregendsten Jobs hat, den man in Mumbai finden kann. Selbst dann, wenn es nur darum gehen sollte einzusammeln, was die Leoparden so alles fallen lassen. Erst durch Untersuchungen des Kots konnten die Wissenschaftler belegen: "Die Leoparden von Mumbai ernähren sich überwiegend von Hund."

Nun ließe sich vermuten, dass sie in ihrem Wald vielleicht keine Beute mehr finden. Doch das ist ein Mythos, sagt Surve. "Es gibt jede Menge Wildtiere im Park, die als Beute infrage kommen." Gerade erst hat er Sambar-Hirsche da draußen gesehen. Außerdem leben dort Hasen, verschiedene Affenarten und Schweine. Paradiesische Zustände für ein großes Raubtier, könnte man glauben. "Tatsächlich ist Beute im Wald schwer zu fangen", sagt Surve. "Das ist eine simple Kosten-Nutzen-Rechnung. Wie viel Energie muss die Katze aufwenden, um zu fressen?" In der Wildnis braucht sie viele Anläufe, bis sie erfolgreich ist. Weit mehr als ein Dutzend Versuche können das sein. Denn Hase, Affe und Schwein sind auf blitzschnelle Flucht gepolt. Anders als die trägen Tiere in der Stadt. Das macht das betonierte Labyrinth als Jagdrevier attraktiv. Ein Hund ist immer leicht zu holen. "Mumbai bietet Fast Food für die Raubkatzen. Schnell rein und mit dem Burger wieder raus, so ungefähr ist das."

"Weil Mumbai seinen Müll nur schwer in den Griff bekommt, gibt es so viele Straßenhunde", sagt der Umweltjurist Pawan Sharma, der sich mit seiner Organisation RAWW um das Wohlergehen der Tiere in Mumbai kümmert. Es wird geschätzt, dass etwa 95 000 streunende Hunde in der Metropole leben. Das dürfte die hohe Dichte der Leoparden im Nationalpark erklären, sie liegt etwa zwei bis dreimal höher als in der Savanne von Sri Lanka.

Gefährlich wird es, wenn den Tieren der Fluchtweg versperrt ist

Die Raubkatzen haben gelernt, zwischen Wald und Stadt zu pendeln, beide Bereiche gehören zu ihrem Territorium, sie scheren sich nicht um Grenzen, die der Mensch zieht. Manchmal ist es sogar so, dass sie zur Paarung in die Stadt ziehen, und sich dort ein lauschiges Plätzchen suchen. Man wird daraus schwerlich ableiten können, dass sie eine romantische Ader für das Urbane haben, warum sie das tun, müsse noch genauer erforscht werden, sagt Surve. Auf jeden Fall wunderte sich der Direktor der Technischen Universität von Mumbai, dass in einer Nacht plötzlich zwei Leoparden in seinen Garten sprangen, wie sein Wächter atemlos berichtete. Die Katzen kamen, um Nachwuchs zu zeugen, und sie verbrachten dort mehrere Stunden, ohne dass sie sich gestört fühlten.

Er war wie gelähmt vor Schock, als er das Tier auf seinen Laken im Schlafzimmer lümmeln sah

Surve erzählt sogar von einem Leoparden, der es sich in einem Bett im ersten Stock einer Wohnung gemütlich gemacht hatte, weil der Besitzer nicht da war. Als der Mann am frühen Morgen die Treppe hinaufstieg, war er wie gelähmt vor Schock, als er das Tier auf seinen Laken lümmeln sah. Vielleicht machte es einen Powernap nach anstrengender Jagd. Der Leopard verdrückte sich dann blitzschnell durch eine Öffnung in der Mauer. Die Tiere fürchten sich vor ausgewachsenen Menschen, sie fliehen immer, wenn sie eine Chance dazu sehen.

Gefährlich wird es, wenn ihnen der Weg versperrt ist. Der Versicherungsverkäufer Suraj Gawai hat das erlebt, 29 Jahre alt, ein freundlicher, bedächtiger Mann. Er zählt zu den wenigen Menschen, die schon mal mit einem Leoparden kämpften. Er würde das auf gar keinen Fall wiederholen wollen, sagt er, und senkt den Kopf. Er zeigt die Narben zwischen dem Haar.

Gawai erzählt von der Nacht des 29. Juli. Gegen zwei Uhr morgens erwacht er, weil er einen gequälten Laut von draußen vernimmt. Schnell wird ihm klar, dass das sein Hund sein muss, den er draußen vor der Tür angeleint hat. Sein Rottweiler heißt Mac. Er ist alles andere als ein Schoßhündchen. Bullig, wachsam, unerschrocken. Und doch klingt das, was Gawai hört, gar nicht gut.

Er hastet zur Tür und reißt sie auf. Da sieht er einen Leoparden, der seinen Hund am Kopf gepackt hat, die beiden kämpfen. Gawai liebt seinen Hund, er will, dass er überlebt, also versucht er, die Leine loszumachen, damit der Hund noch eine Chance hat. Dann geht alles blitzschnell, der Leopard schießt auf ihn zu, schlägt ihm mit den Tatzen auf den Kopf und ins Gesicht. Dann sucht er mit einem riesigen Satz über den Zaun das Weite.

Der Forscher Surve sitzt an diesem Abend mit dem Attackierten an einem Tisch, er lässt sich erzählen, wie das war. Und nun wird ihm einiges klar: Denn im Moment, als der Mann die Tür nach außen öffnet, versperrt sie der Katze den Weg, rundherum sind Mauern, sie sieht zunächst keinen Fluchtweg - und greift an. Suraj Gawai hat überlebt, trotz tiefer Wunden im Kopf und schweren Blutungen am Augenlid. Mit einem Blutdruck von 240 kam er ins Krankenhaus, Ärzte retteten sein Auge, doch er sieht nicht mehr so gut. Mac, der Rottweiler, überlebte den Kampf, aber er starb später an der Infektion, verursacht durch die Wunden. Gawai lebt nun bei seinem Bruder in einem Apartment, nur seine Eltern sind geblieben in dem Haus am Waldrand. "Ich könnte dort niemals mehr schlafen", sagt Gawai.

In sehr seltenen Fällen töten Leoparden auch Menschen. Vor einigen Jahren holte eine Raubkatze ein vierjähriges Mädchen im Slum. Es war nachts von seiner Mutter hinausgeschickt worden, um sich im Freien zu erleichtern. Eine Toilette gab es nicht. Das Kind kauerte am Boden. "Der Leopard hat es sehr wahrscheinlich mit einem Affen verwechselt", sagt Surve.

Häufiger schon kommt es vor, dass sich Leoparden während der Jagd in eine Falle manövrieren. Einmal jagte eine Raubkatze einen Hund, der war clever und flüchtete in einen Keller, flitzte durch die Gänge und schlüpfte durch ein schmales Fenster hinten wieder hinaus. Das aber war zu klein für den Leoparden. In solchen Fällen ist das ganze Geschick der Wildhüter erforderlich, um ihn einzufangen oder zu betäuben, bevor Menschen ihn in ihrer Angst oder Wut töten. "Wir Inder sind gewöhnlich äußerst tolerant gegenüber wilden Tieren", sagt der Forscher Surve, "viele akzeptieren deren Nachbarschaft." Aber das bedeutet auch, dass die Rettungsteams bei Problemen schnell zur Stelle sein müssen. Sonst kann die Lage eskalieren. Was meistens der Leopard nicht überlebt.

"Wir wissen gar nicht, ob dieses Virus nicht irgendwann auf die Raubkatzen überspringt."

Die Hunde reagieren auf ihre eigene Art auf die Gefahr nächtlicher Attacken. Sie rücken jetzt nahe an die Häuser der Menschen heran, um besser geschützt zu sein. Da Hunde in Indien immer wieder die tödliche Tollwut übertragen, glauben manche, Leoparden seien nützlich, um das Übertragungsrisiko auf den Menschen zu reduzieren. Immerhin starben allein in Mumbai in zwei Jahrzehnten mindestens 420 Menschen an Tollwut nach Hundebissen. Tatsächlich hat man herausgefunden, dass es deutlich weniger Streuner nahe dem Wald gibt als in anderen Bezirken - dank der Leoparden. Doch der Vizechef der Forstbehörde, Jitendra Ramgaokar, warnt davor, daraus allzu kühne Schlüsse zu ziehen, Leoparden seien sicher kein Allheilmittel gegen Hundeplagen oder Tollwut. "Wir wissen gar nicht, ob dieses Virus nicht auch irgendwann auf die Raubkatzen überspringt", sagt der Tierarzt. Aus Afrika weiß man, dass etwa die Staupe von Hunden auf Löwen übertragen wird, mit verheerenden Folgen für die Wildtiere. "Wir setzen auf die Sterilisation von Hunden, um ihre Zahl zu begrenzen", sagt Ramgaokar.

Und wenn Mumbai es irgendwann schaffen sollte, sein Müllproblem zu beherrschen, würde das die Vermehrung der Hunde wohl am wirksamsten bremsen. Die Leoparden wären dann wieder zurückgeworfen auf das Dickicht des Waldes, mit seinen Hasen, Rehen, Schweinen. Dort müssten sie sich dann das Fast Food wieder abgewöhnen.

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