Leben in der Tiefe:"Partnersuche ist schwer, wenn man nichts sieht"

Dunkelheit, Druck, Nahrungsarmut - Forscher Carsten Lüter spricht über die Widrigkeiten der Tiefsee und die Überlebensstrategien der Tiere.

Barbara Galaktionow

Carsten Lüter ist Kurator für wirbellose Meerestiere am Museum für Naturkunde in Berlin. Das Haus zeigt derzeit die Sonderausstellung "Tiefsee". Konzipiert wurde sie vom Naturhistorischen Museum Basel, dem Senckenberg Forschungsinstitut und dem Naturmuseum Frankfurt am Main. Lüter stellte den Kollegen allerdings zahlreiche Exponate aus den Beständen des Berliner Hauses zur Verfügung. Der Biologe mit Schwerpunkt Zoologie forscht auch selbst in der Tiefsee und hat bereits an einigen Expeditionen teilgenommen.

Leben in der Tiefe: Großes Maul, auffallende Zähne: Wenn die Nahrung knapp ist, muss auch der Fangzahnfisch zusehen, was er bekommen kann.

Großes Maul, auffallende Zähne: Wenn die Nahrung knapp ist, muss auch der Fangzahnfisch zusehen, was er bekommen kann.

(Foto: Foto: Naturhistorisches Museum Basel)

sueddeutsche.de: Die Tiefsee reicht an ihren tiefsten Stellen bis etwa elf Kilometer unter den Meeresspiegel. Sie beginnt bei etwa 1000 Metern Tiefe. Ist das eine willkürliche Definition?

Carsten Lüter: Nein, bei 1000 Meter Tiefe beginnt der Bereich, in den definitiv kein Sonnenlicht mehr vordringt. Die vollständige Dunkelheit hat den Effekt, dass von dieser Tiefe an auch keine Photosynthese mehr möglich ist. Das bedeutet: Es gibt in der Tiefsee keine Pflanzen und entsprechend auch keine pflanzliche Primärproduktion.

sueddeutsche.de: Welche weiteren Besonderheiten zeichnen diesen Lebensraum aus? Zwischen 1000 Meter und 11.000 Meter Tiefe besteht ja doch ein enormer Unterschied.

Lüter: Eine weitere Besonderheit ist die relativ konstante Temperatur. Hier ist die absolute Tiefe nicht entscheidend. Normalerweise herrschen in der Tiefsee Temperaturen von unter vier Grad Celsius - das kann auch schon von 1000 Metern Tiefe an der Fall sein. In manchen Meeresgebieten sinkt die Temperatur des Tiefenwassers sogar bis auf den Gefrierpunkt. Aber was sich natürlich ändert, ist der Druck. Je tiefer man kommt, umso höher wird der Druck, er nimmt pro zehn Meter um ein Bar zu. Mit diesem Druck müssen die Organismen dort unten zurechtkommen. Da die Körper der Organismen aber im wesentlichen flüssigkeitsgefüllt sind und keine freien Gase enthalten, werden die Tiere durch den hohen Druck nicht geschädigt.

sueddeutsche.de: Gibt es im Bereich der Tiefsee Strömungen?

Lüter: Ja, sogar zum Teil sehr starke, insbesondere in den Bereichen, wo sich untermeerische Höhenzüge oder Rückenstrukturen befinden, wie zum Beispiel der Mittelatlantische Rücken. Dort wird durch aus dem Erdinneren aufsteigendes Magma neue Ozeankruste gebildet, es entsteht ein linienförmiges Gebirge entlang dessen zum Teil sehr starke Strömungen herrschen können. Trotz der Strömungen sind die Lebensräume in der Tiefsee relativ stabil. Das macht sie auch empfindlich gegenüber Veränderungen, zum Beispiel Temperaturerhöhungen.

sueddeutsche.de: Welchen Einfluss haben Klimawandel und Umweltzerstörung in den Meerestiefen?

Lüter: Die Lebenswelt in der Tiefsee ist angepasst an die konstanten, relativ niedrigen Temperaturen. Eine Erhöhung um nur wenige Grad, also zwei oder drei Grad Celsius, hätte daher verheerende Folgen. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Wasser in der Tiefsee um mehrere Grad aufheizt, relativ gering - jedenfalls im Moment noch. Größer ist derzeit die Gefahr durch Umweltgifte. Denn die Tiefsee ist kein geschlossenes System - alle Ozeane stehen miteinander in Verbindung. In den Polregionen des Atlantiks sinkt kaltes und daher "schweres" Oberflächenwasser in die Tiefsee, um im Indischen und Pazifischen Ozean wieder aufzusteigen und oberflächennah zurückzufließen. Über diese sogenannte globale Wasserpumpe gelangen auch Schadstoffe von der Oberfläche mit in die Tiefe oder werden an anderen Stellen wieder nach oben gebracht. Hinzu kommt, dass in den sechziger und siebziger Jahren in entlegenen Meeresregionen hochgiftige, zum Teil radioaktive Abfälle einfach irgendwo abgeladen wurden - und auf diese Weise in die Tiefsee gelangt sind. Wie sich das genau auswirkt, weiß man jedoch nicht.

sueddeutsche.de: Weil die Forscher über den Lebensraum insgesamt noch zu wenig wissen?

Lüter: Das ist ein grundsätzliches Problem: Unser Wissen über die Tiefsee ist sehr gering. Sie ist der am wenigsten untersuchte Lebensraum auf der Erde. Denn die Erforschung der Tiefsee ist mit einem enormen technischen Aufwand und dadurch natürlich enormen Kosten verbunden. Hinzu kommt, dass wir nicht flächendeckend Proben aus der Tiefsee nehmen können. Wissenschaftler machen punktuelle Aufnahmen mit einem Tauchroboter oder Tauch-U-Boot - und wissen dann über diesen einen Punkt Bescheid, das sind im Normalfall nur wenige Quadratmeter.

Spitze Zähne, riesige Augen - die Tiere der Tiefsee

sueddeutsche.de: Welche Forschungsinteressen verfolgen Wissenschaftler in der Tiefsee heutzutage?

Carsten Lüter, oH

An Bord: Tiefseeforscher Carsten Lüter 2007 auf Expedition mit dem Forschungsschiff

Sonne

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(Foto: Foto: oH)

Lüter: Vor etwa hundert Jahren war es schon eine Sensation, dass da unten überhaupt Tiere leben. Die wurden beschrieben. Auch heutzutage finden wir noch neue Tierarten. Es ist längst nicht alles erforscht. Nichtsdestotrotz ist die Wissenschaft inzwischen mehr an Zusammenhängen interessiert. Sie möchte wissen: Wie funktionieren diese Lebensräume? Wie sind Tiefseelebensräume mit Lebensräumen im Flachwasser vernetzt? Aufgrund der Ressourcenknappheit gibt es inzwischen auch wieder Überlegungen, den Tiefseeboden zu erkunden und dort Rohstoffe abzubauen - trotz des Aufwands und der enormen Kosten. Das wäre für die Lebewelt da unten natürlich fatal.

sueddeutsche.de: Die Tiefsee-Tiere, die bekannt sind oder deren Abbildungen jetzt auch in der Ausstellung zu sehen sind, sehen sehr archaisch aus, als seien sie von der Evolution unberührt.

Lüter: Durch die besonderen Bedingungen in der Tiefsee - insbesondere die kalten Temperaturen - laufen Stoffwechselprozesse langsamer ab. Das führt dazu, dass viele Tiere sehr alt werden, bevor sie geschlechtsreif sind. Die Generationen folgen in sehr großem Abstand aufeinander. Da das Durchmischen der Erbsubstanz der Schlüssel ist, um Variation zu erzeugen, läuft das also enorm langsam ab. Das bedeutet aber lediglich, dass Prozesse in der Tiefsee durch die niedrigen Temperaturen gebremst ablaufen. Das vermeintlich archaische Aussehen der Organismen hat dabei aber nicht zwangsläufig etwas mit ihrer Urtümlichkeit zu tun.

sueddeutsche.de: Spitze Zähne, riesige Augen - sind das typische Merkmale der Tiere in der Tiefsee? Oder gibt es auch unscheinbarere Organismen?

Lüter: Das kommt darauf an, was für Lebewesen man sich anschaut. Die Fische haben tatsächlich vielfach diese Besonderheiten. Bei fast keinem Licht ist es hilfreich, besonders große Augen auszubilden. Gleiches gilt für die Zähne. Beute zu machen, ohne etwas zu sehen, ist relativ schwierig. Zudem gibt es nicht so viel Beute in der Tiefsee. Mit einem großen Kiefer mit langen Zähnen ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass die Tiere ihren Beuteorganismus erwischen. Das sind Anpassungen an einen Lebensraum, in dem der Tisch nicht eben üppig gedeckt ist.

sueddeutsche.de: Pflanzen gibt es ja nicht. Wovon ernähren sich die Tiere?

Lüter: Für die Tiefsee ist der Spruch sehr zutreffend: Alles Gute kommt von oben. Die Organismen in der Tiefsee sind im Wesentlichen darauf angewiesen, dass Reststoffe, abgestorbenes Pflanzenmaterial, Algen oder auch abgestorbenes Tiermaterial den Weg nach unten nehmen. Von diesem sogenannten marinen Schnee ernähren sich viele Tiere. Eine Ausnahme bildet der Bereich der Hydrothermalquellen, in denen Wasser, das zuvor in den Meeresboden eingedrungen ist, durch Aufheizung im Erdinneren wieder aufsteigt und dabei jede Menge Mineralien löst. Dort gibt es Bakterien, die mit Hilfe von anorganischer Substanz in der Lage sind, Biomasse aufzubauen. Das ist etwas Besonderes. Diese Bakterien sind die Grundlage für die Lebewelt dort, sie ersetzten quasi die Pflanzen.

sueddeutsche.de: Und wie orientieren sich die Tiere in der völligen Dunkelheit?

Lüter: Zum Teil mit anderen Sensoren: Fische haben ein sogenanntes Seitenlinienorgan, durch das sie wissen, wie sie im Wasser stehen. Fische, die am Grund leben, haben häufig verlängerte Flossen, die zum Tasten benutzt werden können. Aber es gibt natürlich auch die Möglichkeit - und das machen nicht nur Fische, sondern auch wirbellose Tiere -, sich leuchtende Untermieter irgendwo an den Körper zu setzen. Das sind Bakterien, die durch einen chemischen Prozess ein sogenanntes kaltes Licht erzeugen. Diese Bakterien werden gezielt genutzt, indem sie an speziellen Körperstellen vermehrt werden. Manche Fische haben zum Beispiel unter dem Auge ein Säckchen, wo solche Bakterien drin sind. Dieses Säckchen ist mit einer Haut verschließbar, so dass die Tiere durch das Öffnen und Schließen dieser Haut Lichtsignale geben können - um zum Beispiel einen Partner zu finden. Das ist ja auch nicht ganz einfach, wenn man ansonsten nichts sehen kann.

sueddeutsche.de: Haben Sie selber diese Tiere und Phänomene auch schon live gesehen?

Lüter: Ich habe an verschiedenen Expeditionen teilgenommen, bin aber selber als Taucher nie tiefer als 40 Meter gekommen. Normalerweise operieren wir komplett vom Schiff aus und setzen unbemannte Sammelgeräte ein. Damit sind wir schon mehr als sieben Kilometer in die Tiefe vorgedrungen. Aber ich würde die Tiefsee natürlich gerne mal mit eigenen Augen sehen.

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