Landwirtschaft:Kellergemüse

Underground horticulture

Da wächst etwas im Untergrund.

(Foto: Louise Murray/SPL/Focus)

Tief unter London, in einem alten Luftschutzbunker, bauen britische Agrarpioniere Kräuter und Erbsen an. Ist das die Zukunft der Landwirtschaft?

Von Björn Finke

Krachend schließen sich die zwei Gittertüren des Aufzugs. Er rumpelt abwärts und entlässt seine Fahrgäste in eine Umkleide. Straßenschuhe werden durch Gummistiefel ersetzt, lange Laborkittel und Haarnetze übergezogen. Dahinter beginnt der Bauernhof.

Ein Bauernhof in der Tiefe, in einem alten Luftschutzbunker 33 Meter unterhalb der Clapham High Street, einer belebten Einkaufsstraße im Süden Londons. Die Luft ist warm, der Boden nass. Popmusik dudelt, regelmäßig übertönt vom Gedonner der U-Bahn, die nicht weit entfernt durch einen Tunnel rast. In einem langen Raum stehen Regale an den Wänden, auf vier Ebenen wachsen dort grüne Pflänzchen. LED-Röhren tauchen alles in rosa Licht; diese Farbe taugt am besten als Sonnenersatz: Kellerdisco für Sprösslinge.

Die Pflanzen gedeihen nicht auf Erde, sondern auf besonderen Wollmatten. Mit Nährstoffen angereichertes Wasser flutet die Regale und wird von den Matten aufgesogen. Die Lüftung brummt. Sanft wiegen sich die nur wenige Zentimeter hohen Pflanzen im künstlichen Wind. "Wir haben hier perfekte Bedingungen", sagt Steven Dring, der Tunnelfarmer. "Das Licht hat genau das richtige Spektrum und scheint die richtige Zahl an Stunden, wir kontrollieren die Temperatur und die Feuchtigkeit." In freier Natur oder in einem Treibhaus sei der Anbau schwieriger. Da es in einem Bunker keine Schädlinge gibt, sind keine Pestizide nötig. Geerntet wird das ganze Jahr über.

Der 42-Jährige und seine Firma Zero Carbon Food lassen in dem Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg Mikrokräuter wachsen. Das sind Setzlinge, nur wenige Wochen alte Pflanzen, die voller Geschmack stecken und von immer mehr Profi- und Hobbyköchen zum Verfeinern genutzt werden. Unternehmensgründer Dring vertreibt zehn dieser Microherbs unter der Marke "Growing Underground", etwa Erbsensprossen und Senf-Pflänzchen, Mini-Fenchel und Mini-Koriander. Der britische Online-Supermarkt Ocado verkauft 80-Gramm-Mischungen für umgerechnet 2,70 Euro, ein stolzer Preis. Seit dieser Woche führt auch die Handelskette Marks & Spencer das Grünzeug aus der Tiefe.

Die Farmen sollen den Druck mindern, unberührte Natur in Agrarland umzuwandeln

Der Kräuterhof im Bunker ist ein Beispiel für Urban Farming. Hinter diesem Modebegriff, zu deutsch: städtische Landwirtschaft, steht die Idee, mehr Nahrungsmittel direkt in den Metropolen anzubauen. Das spart lange Transporte vom Land. Der Name von Drings Firma, Zero Carbon Food - Essen ohne Kohlendioxid-Ausstoß -, bezieht sich darauf, dass die Londoner Mikrokräuter einen kurzen Weg zum Abnehmer haben und daher Lastwagen weniger Klimagase in die Luft blasen. Der Strom für die Lampen stammt aus erneuerbaren Quellen. In Schwellenländern mit schnell wachsender Bevölkerung sollen solche Großstadt-Farmen den Druck mindern, unberührte Natur in Agrarland umwandeln zu müssen.

Nun werden Lebensmittel schon seit Langem mitten in der Stadt angebaut - in Schrebergärten. Doch die Urban-Farming-Projekte haben mit gemütlichen Schrebergärten nichts gemein. Vielmehr werden die Pflanzen im großen Stil und oft mit Hilfe moderner Technik in Industriehallen oder auf Hausdächern angebaut. Oder eben in einem Londoner Bunker, der einstmals 8000 Menschen Zuflucht bieten konnte. Als Visionär der urbanen Bauernbewegung gilt der US-Mikrobiologe Dickson Despommier. In seinem Buch "The vertical farm" erklärt er, wie Gewächs-Hochhäuser in Zukunft die Versorgung der Megastädte sicherstellen könnten.

In dem Bunker unter der Clapham High Street simulieren Dring und sein Team den ganzen kurzen Lebenszyklus eines Mikrokrauts. In einem Tunnelabschnitt steht eine Mitarbeiterin - eine von sieben Gärtnerinnen und Gärtnern, die hier unten arbeiten - und verteilt mit einer Art Pfefferstreuer Senf-Samen auf einer Wollmatte. Diese Matten werden dann auf Regalen in einem Nachbarraum gelagert, in dem es stockdunkel und sehr feucht ist. "Das ist so, als lägen die Samen in der Erde", sagt Dring. Zeigen sich nach einigen Tagen die Sprossen, bringen die Bunkerbauern die Matten in den Tunnelabschnitt mit dem pinken Licht.

Im Lagerhaus gedeihen 20 Tonnen Salat und Kräuter pro Jahr, und vier Tonnen Fisch

Erbsensprossen seien drei Tage im Dunkeln und sechs bis zehn Tage im Hellen bis zur Ernte, sagt der Brite. Neu eingesät werde ständig. "Müssen wir jeden Tag zehn Matten ernten, müssen wir auch jeden Tag zehn Matten neu einsäen." In einer Ecke liegt ein langes Messer auf einem Tisch. "Damit schneiden die Mitarbeiter die Kräuter von den Matten", sagt er. Wie viel der Garten produziert, hängt davon ab, was angepflanzt wird. "Wir könnten aber bis zu 20 Tonnen Erbsensprossen im Jahr liefern", versichert Dring.

Im Stockwerk unter dem Raum mit den künstlichen Beeten stehen weiße Tanks, Rohre gehen hoch zur Decke. Ein stetes Plätschern ist zu hören. Überschüssiges Wasser, das die Wollmatten und Pflanzen nicht aufnehmen können, fließt durch die Röhren herunter, wird gereinigt und größtenteils wieder verwendet. Der Wasserverbrauch eines Kräuter-Bauernhofs mit Acker sei im Vergleich dreimal so hoch, sagt Dring.

Die Idee, mitten in London Kräuter zu kultivieren, kam Dring zusammen mit einem Freund aus Kindheitstagen, Richard Ballard. Beide stammen aus dem ländlichen Westen Englands, beide hatten Erfahrung als Manager, beide hatten sich mit den Thesen des "Vertical farm"-Vordenkers Despommier beschäftigt. Sie wollten ein Unternehmen gründen, das Lebensmittel für Londoner in London anpflanzt. Dafür taten sie sich Chris Nelson zusammen, einem Fachmann für Anbautechnik.

Sie entschieden sich, es mit Mikrokräutern auszuprobieren, weil diese gut in so einem künstlichen Umfeld wachsen und zugleich von immer mehr Köchen nachgefragt werden. Testweise pflanzte das Trio Kräuter auf einem Quadratmeter in einem anderen Bunker in der Nähe an. Dann pachteten die Freunde 2015 von der Verwaltung den leer stehenden Bunker, in dem jetzt ihr Grünzeug gedeiht. Der Vertrag läuft über zwanzig Jahre, die Jahresmiete für die 6500 Quadratmeter beträgt umgerechnet 88 000 Euro.

"Das ist sehr billig", sagt Dring. "Und ein Grund, wieso wir in einen Bunker gegangen sind." Die Miete für ein verwaistes Lagerhaus in der Stadt sei deutlich höher, sagt er. "Anders als im Bunker ist es dort außerdem im Winter kalt und im Sommer heiß. Man muss also viel Geld für die Klimaanlage ausgeben, damit die Temperatur für die Pflanzen immer stimmt." Bislang steckten die Gründer umgerechnet 1,7 Millionen Euro in ihren verborgenen Garten, zu den Investoren gehört G's Fresh, ein großer europäischer Salatproduzent. In diesem Oktober oder November soll die unterirdische Unternehmung erstmals Gewinne erzielen.

In dem Bunker ist noch reichlich Platz, die Kräutergärtner nutzen bisher erst einen kleinen Teil. Dring führt in einen leeren Tunnelabschnitt: eine halbkreisförmige Röhre, weiße Wände, weißer Boden. "Auch hier werden wir demnächst Pflanzen anbauen", sagt er. Der Manager geht weiter, zeigt andere verwaiste Tunnelbereiche. Er macht eine Tür auf: "Dieser Raum war die Krankenstation des Bunkers. Wir wollen das als neuen Kühlraum für abgepackte Kräuter nutzen." Er weist in einen anderen leeren Tunnel. "Da könnten wir in Zukunft Tomaten anpflanzen", sagt Dring. Jedoch keine Standardsorten, sondern etwas Exquisites. "Das Geschäftsmodell funktioniert mit allen Produkten, die schnell wachsen und für die wir einen guten Preis erzielen können", sagt er.

"Projekte wie unseres werden die übliche Landwirtschaft nie komplett ersetzen können", sagt der Manager. "Aber wir ergänzen sie mit Lebensmitteln, die nahe beim Verbraucher angebaut werden." Den Vorwurf, es sei unnatürlich, Kräuter ohne Erde, ohne Sonne anzubauen, weist er zurück. Pflanzen ohne Erde wachsen zu lassen, sei seit Jahrzehnten eine etablierte Technik, viele Tomaten im Supermarkt entstünden so, sagt er. Der Fachbegriff dafür lautet Hydroponik.

Dring und sein Team sind auch nicht die einzigen Agrarpioniere in London. Gut zwanzig Kilometer nordöstlich des Bunkers, in der Nähe des Flughafens London-City, produziert die 2013 gegründete Firma Grow Up Urban Farms in einem Lagerhaus mehr als 20 Tonnen Salat und Kräuter pro Jahr - plus vier Tonnen Fisch, genauer: Buntbarsche. Die Kräuter und der Salat wachsen unter ähnlichen Bedingungen wie das Bunker-Grünzeug. Zugleich werden in dem Lagerhaus Barsche in einer Aquafarm gemästet; Hauptabnehmer sind thailändische Restaurants in London. Die Fische verunreinigen das Wasser mit ihrem Kot. Dieses schmutzige Wasser wird in die Regale mit dem Salat und den Kräutern geleitet.

Den Pflanzen dienen die Exkremente als Dünger, zugleich reinigen die Wurzeln das Wasser. Das saubere Wasser fließt dann zurück in die Fischbecken. Aquaponik heißt dieses Prinzip. In Berlin steht eine ähnliche Anlage, die ECF Farm, die Gemüse und Buntbarsch liefert. Der Fisch wird als "Hauptstadt-Barsch" vermarktet.

Bunker-Landwirt Dring sagt, sie hätten ebenfalls über dieses Konzept nachgedacht, aber sie hielten es für technisch zu anspruchsvoll und für zu riskant. Für die Zukunft seines Unternehmens schaut er nicht auf andere Technologien, sondern auf andere Tunnel-Standorte. "Wir haben gezeigt, dass unser Modell funktioniert, also sollten wir es im größeren Stil nutzen", sagt Dring. Er habe bereits diverse leer stehende Gewölbe gefunden, die sich dafür anbieten würden - in Großbritannien und auch im Ausland. Hoch fliegende Pläne für die Kräuter aus der Tiefe.

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