Landflucht der Tiere:Die Wildsau in der Fußgängerzone

Immer mehr Tiere zieht es in die Nachbarschaft des Menschen, von Bären bis zu Feldmäusen. Mittlerweile leben in vielen Städten mehr Tierarten als auf dem Land.

Robert Lücke

Es ist ein regnerischer Mittag. Quer über eine Straße, die durch den Stadtpark Hardt in Wuppertal führt, schnürt ein Fuchs. Er bleibt kurz stehen, blickt den Spaziergänger aus etwa 20 Metern Entfernung an, dann trollt er sich. Der Fuchs war einmal ein scheuer Waldbewohner. Heute durchstöbert er in Städten Mülltonnen.

Der Fuchs ist nicht allein. Wildtiere ziehen in die Städte, darunter große wie Bären und Wildschweine und kleine wie Nachtfalter oder Feldmäuse. Zahlreiche Tierarten haben es in der Nähe des Menschen heute besser als auf dem Land. Im Stadtgebiet von München etwa brüten heute 116 Vogelarten, im Umland sind es nur 100. In Berlin zählten Ornithologen sogar 130 Arten. Das sind zwei Drittel aller in Deutschland lebenden Spezies.

"Eine regelrechte Landflucht"

"Das ist eine regelrechte Landflucht. Städte sind zu Inseln der Artenvielfalt geworden", sagt Magnus Herrmann, Biologe bei der Naturschutzorganisation Nabu. In Städten sei das Nahrungsangebot für Tiere einfach größer. Für Vögel und auch viele Säugetiere seien Gärten, Friedhöfe und Parks mit fruchttragenden Gehölzen attraktiver als ein Weizenfeld oder eine Kuhweide, sagt Herrmann. Insbesondere im Winter bieten Städte bessere und leichter zu nutzende Nahrungsquellen, weil es dort etwas wärmer ist als auf dem Land.

Während nach einer Studie des Bundesamtes für Naturschutz zahlreiche Tierarten in Deutschland bedroht sind, werden andere Arten heute sogar häufiger beobachtet als früher - in Städten.

"Die positive Entwicklung in den Städten ist gewissermaßen ein Spiegelbild der negativen Verläufe auf dem Land", sagt der Münchner Zoologe Josef Reichholf. Manche Arten sind dem Menschen erst in jüngerer Vergangenheit in die Städte gefolgt, weil ihre Lebensumstände auf dem Land durch die Industrialisierung der Landwirtschaft zusehends schlechter wurden, andere tun dies bereits seit Jahrhunderten. Ein Beispiel für eine Art, die schon im Mittelalter dem Menschen folgte, ist der Mauersegler.

In Städten verändern Tiere ihr Verhalten. Der Seeadler ist eigentlich ein extrem scheues Tier. Nun brütet er in Berlin in der unmittelbaren Nähe des Menschen. Im Münchner Stadtgebiet ist es der seltene und eigentlich sehr störungsempfindliche Uhu, der seine Scheu verliert. Füchse jagen nicht mehr wie auf dem Land Mäuse, Wildschweine durchgraben nicht mehr im Wald den Boden, sondern Blumenbeete in Berlin.

"Jagdbares Wild bewegt sich unvorsichtiger als in freiem, außerstädtischem Gelände, weil es merkt, dass es in der Stadt nicht bejagt wird", sagt Anne Berger vom Berliner Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW). Besonders deutlich werde dies an Wildschweinen. "Die sind derart zutraulich, dass man fast denken könnte, es mit einem anderen Tier als einem Wildschwein zu tun zu haben."

Ähnliches sei auch bei Waschbären und Igeln zu beobachten, die sich zum Teil sogar in ungenutzte Keller zurückzögen. Ein Verhalten, wie man es von einem wilden Tier nicht erwartet. Auch dass Marder nicht nur Autoschläuche durchbeißen, sondern nahezu weltweit auf Dachböden ihr Unwesen treiben, zeigt eine deutliche Abkehr von natürlichem Verhalten.

Selbst gefährliche Raubtiere wie Eisbären, die normalerweise eine große Fluchtdistanz gegenüber Menschen haben, kommen bei Nahrungsknappheit in Siedlungen in Kanada und Sibirien, wenn sie in den Vorratsschuppen der Häuser Essbares riechen. Wenig begeistert sind auch die Einwohner des Städtchens Monrovia, 25 Kilometer von Los Angeles entfernt. Dort tauchen seit Jahren immer mehr hungrige Schwarzbären auf - sie stöbern in Mülleimern, Garagen, auf Terrassen und in Gärten nach Essbarem. Einige Bären kühlen sich sogar in den Swimmingpools der Stadt ab.

Flucht vor dem Traktor

Nicht nur der Hunger treibt die Tiere in die Stadt. Sie finden dort teils bessere Versteck- und Unterschlupfmöglichkeiten als auf dem Land. Das Mosaik an Kleinstbiotopen mit Hecken, Kleingehölzen, Waldstücken und Bachrändern ist heute häufiger in der Stadt oder am Rand von Ortschaften zu finden als in der freien Landschaft mit ihren intensiv bewirtschafteten Monokulturen. "Außerdem sind diese Biotope in Städten hoch diversifiziert, und viele Fressfeinde sind zugleich seltener als auf dem Land, was die Stadt noch attraktiver macht", sagt Nabu-Biologe Herrmann.

So können Kaninchen in Parks eher ihre Bauten graben als auf Feldern, weil die Erde oft weicher ist, nicht von schweren Traktoren verdichtet oder Pflügen umgegraben wird, und obendrein Feinde wie der Habicht selten sind.

Die Wildsau in der Fußgängerzone

Auch Igel, die sich vorwiegend von Regenwürmern und Nacktschnecken ernähren, finden auf regelmäßig gemähten Rasenflächen und in Blumen- sowie Gemüsebeeten mehr Nahrung als auf Kuhweiden oder Mais-, Weizen- oder Rübenäckern.

Nach Schätzungen des Nabu leben in Städten auf flächenmäßig gleichem Raum zehnmal so viele Füchse wie auf dem Land. Sie werden nicht bejagt, sind dadurch zutraulicher und finden neben Feldmäusen, die ihren Lebensraum auch mehr und mehr Richtung Stadt verlagern, unter Obstbäumen und in Mülltonnen Nahrung. Wenn das nicht reicht, fressen sie eben wie die Igel Regenwürmer.

Schnelle und anpassungsfähige Kulturfolger waren seit jeher die Insekten. Die extrem seltene Gottesanbeterin taucht seit einigen Jahren mitten in Berlin auf - früher war sie nur von Wärmeinseln wie dem Kaiserstuhl in Baden bekannt. Auf dem Gelände der Münchner Zoologischen Staatssammlung stellten Biologen 600 nachtaktive Schmetterlingsarten fest, "das ist so viel wie in den besten natürlichen Biotopen", sagt Zoologe Reichholf.

Ein weiteres Phänomen, das zunächst paradox klingt, sorgt für eine deutlich größere Attraktivität der Städte - der Klimawandel. Die Erwärmung führt zu deutlich früheren und schnelleren Austrieben der Pflanzen im Frühjahr.

Die starke Belaubung von Bäumen und Pflanzen lässt dann aber weniger Sonnenlicht an den Boden, weswegen es in Bodennähe kälter wird. Das setzt allen wärmeliebenden Arten zu. In den Städten ist dieses Phänomen nicht zu beobachten, weswegen wärmeliebende Arten in Städten häufiger vorkommen als auf dem Land.

"Die Roten Listen sind voll mit wärmeliebenden Arten", sagt Reichholf. Erwarten sollte man, angesichts der globalen Erwärmung, das Gegenteil. Für ihn ist das Bestreben vieler Naturschützer und Politiker, die Ausfransung der Städte an den Rändern zu verhindern und stattdessen Baulücken in der Stadt zu schließen, deshalb "grober Unfug und eine fatale Entwicklung".

Die "Unwirtlichkeit" der Städte sei eine Mär, das Land werde wesentlich industrieller behandelt als der urbane Raum, und "gerade die Lebensräume in der Stadt sind so wertvoll und schlagen in Punkto Artenzahl und -vielfalt jeden Maisacker im Vorort".

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