Kunstgeschichte:Klima auf der Leinwand

Aus alten Gemälden kann man einiges lernen. Dass sie auch die Klimageschichte abbilden, ist neu: Edvard Munch und William Turner zum Beispiel waren getreue Chronisten historischer Vulkanausbrüche.

Axel Bojanowski

"Ich ging mit zwei Freunden die Straße entlang - dann ging die Sonne unter. Der Himmel wurde plötzlich blutrot, und ich fühlte einen Schauer von Traurigkeit. Einen drückenden Schmerz in meiner Brust", beschrieb der Maler Edvard Munch einen Zustand, den er kurz darauf in sein wohl bekanntestes Bild, "Der Schrei", umsetzte.

Im Jahr 1883 in Oslo muss sich die Szene abgespielt haben: "Ich hielt an, lehnte mich an einen Zaun, denn ich war todmüde. Über dem blauschwarzen Fjord und der Stadt lag Blut in Feuerzungen. Meine Freunde gingen weiter - und ich wurde zitternd vor Angst zurückgelassen. Und ich fühlte, dass ein gewaltiger unendlicher Schrei durch die Natur ging."

Hatte Munch, wie Kunsttheoretiker interpretieren, in diesem Bild sein Innerstes nach außen gekehrt? Den stummen Schrei seiner ausweglosen Angst vor dem Leben und dem Tod? Waren die äußeren Ereignisse, die er beschrieb, also nur eine Metapher seines Seelenzustands - oder gab es sie vielleicht tatsächlich: als inspirierenden Anlass für sein Werk?

Munch könne auf der Fjord-Brücke, dem Ort der dargestellten Figur, wirklich einen fürchterlichen Schrei gehört haben, sagt der Kunsthistoriker Christian Gether, Direktor des Museums für Moderne Kunst im dänischen Arken, denn ganz in der Nähe hätten sich seinerzeit ein Heim für psychisch kranke Frauen und ein Schlachthof befunden. Doch was ist dann mit dem "Blut in Feuerzungen" über dem Fjord? Loderte auch der Himmel tatsächlich in dieser bildlichen Dramatik?

Eine Antwort darauf haben jetzt nicht Kunsthistoriker gefunden, sondern Klimaforscher, und ihre Ergebnisse bringen ganz neues Licht in manch dunklen Bereich der Kunstgeschichte. Nicht nur Munchs "Schrei", Hunderte von Landschaftsmalereien aus den vergangenen Jahrhunderten liefern noch heute ein präzises Abbild der einstigen Luftzusammensetzung und damit des Klimas, stellten der Physiker Christos Zerefos vom National Observatory in Athen und seine Kollegen fest.

Umdatierter Munch

Und weil viele Ereignisse der Klimageschichte unzweifelhaft datiert sind, lassen sie genaue Rückschlüsse auf die historischen Entstehungsbedingungen der Gemälde zu. Die Frage nach dem blutroten Himmel in Munchs "Der Schrei" beispielsweise gilt demnach als geklärt: Der Vulkan Krakatau in Indonesien hatte im Jahr 1883 eine gewaltige Aschesäule in den Himmel geblasen. Die Eruptionswolke hatte sich über die Luft verteilt und ließ das Sonnenlicht über einige Jahre hinweg überall auf der Erde rötlich schimmern.

Der Ausbruch wirkte sich auch auf das globale Klima aus, es kühlte ab. Diese einschneidende Umweltveränderung habe Munch, weitgehend unwissentlich, auf seinem farbenprächtigen Bild festgehalten, sagen die Forscher. Im Jahr 1883 muss dies geschehen sein oder nur kurze Zeit später.

Das geht aus Christos Zerefos' Studie hervor, die kürzlich im Fachblatt Atmospheric Chemistry and Physics erschienen ist und den Kunsthistorikern eine hilfreiche Information liefert: Sie hatten Munchs "Schrei" bislang auf das Jahr 1893 datiert, also um zehn Jahre zu spät. Die Färbung auf dem Gemälde offenbare diesen Trugschluss, sagt Zerefos.

Farbanalysen mithilfe eines Computerprogramms, das normalerweise der Bearbeitung von Fotos dient, hätten den Zusammenhang von Kunst- und Klimageschichte gezeigt, der sich mittlerweile in den Analysen vieler Hundert Gemälde bestätigte. Zum Beispiel an den Bildern Joseph Mallord William Turners und Caspar David Friedrichs: Als Letzterer in den Jahren 1815/1816 seine berühmte "Ansicht eines Hafens" malte, stellte er nach Erkenntnissen der Klimaforscher naturgetreu die Himmelsfärbung dar, die der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora 1815 bewirkt hatte. Die Eruption hatte die Atmosphäre weltweit für kurze Zeit drastisch verändert.

Kein gewöhnliches Abendrot

Im Folgejahr, als "Jahr ohne Sommer" bekannt, schneite es im Juni an der Ostküste der USA. Und auch Europa erlebte einen außergewöhnlich kalten und regenreichen Sommer mit Missernten, hohen Getreidepreisen und Hungersnöten. Am 28. Juni 1816 notierte Goethe in seinem Tagebuch: "Erster schöner Tag".

Der Ausbruch des Tambora war eine der gewaltigsten Eruptionen der vergangenen Jahrtausende. Abermillionen Staubpartikel und Schwefeltröpfchen wurden in die Luft geschleudert und wirkten wie ein Sonnenschirm: Sie blockten das Sonnenlicht ab, wodurch die Temperatur auf der Erde sank. Auch das Gemälde "Schiffe im Hafen von Greifswald" von Caspar David Friedrich dokumentiert diese Folgen: Ein tieforangefarbener Wolkenschleier hängt über der Landschaft.

Auch hier konnte Christos Zerefos nachweisen, dass es sich nicht um ein gewöhnliches Abendrot handelt. Auf relativ einfache Weise. Mit dem Computerprogramm haben Zerefos und Kollegen digitale Kopien von 554 Gemälden, die zwischen 1500 und 1900 gemalt wurden, auf Farbkontraste und den jeweiligen Sonnenstand untersucht - ein aufschlussreicher Zusammenhang: Die dargestellte Tageszeit ermittelten die Physiker zunächst, sofern keine Angaben darüber vorlagen, anhand geometrischer Berechnungen des Winkels, in dem auf jedem Bild das Sonnenlicht fällt.

Bäume oder Boote, deren Größen ungefähr bekannt sind, und die Länge der gezeichneten Schatten dienten als Bezugsgrößen. "Die Maße auf den Gemälden sind erstaunlich realistisch", berichtet Zerefos. Dann ermittelte er den Farbkontrast anhand des Verhältnisses von roten und grünen Farbtönen. "Das Ergebnis ist eindeutig ausgefallen", sagt Zerefos: Gemälde, die jeweils in den drei Folgejahren nach großen Vulkanausbrüchen entstanden sind, erscheinen - bei gleichem Sonnenstand - wesentlich röter.

Je dichter Kunstwerke und Vulkanausbrüche zeitlich zusammenlagen, desto stärker war die Verfärbung. Damit gibt die Analysemethode von Zerefos präzise Auskunft über den Staubanteil in der Luft: Der Farbkontrast auf den Bildern aus vier Jahrhunderten spiegele den jeweiligen Partikelgehalt der Atmosphäre exakt wider, der anhand der Daten von Vulkaneruptionen rekonstruiert wurde, schreiben die Forscher.

Klima auf der Leinwand

Und auch auf die nicht exakt bekannte Größe eines Vulkanausbruchs ließen die Gemälde schließen, wenn man den zeitlichen Abstand zwischen der Entstehungszeit eines Bildes und der Eruption bereits kenne. Die Rotfärbung der Atmosphäre entsteht durch die Streuung des Sonnenlichts, das umso stärker abgelenkt wird, je mehr Staubteilchen in der Luft schweben.

Ansicht eines Hafens von C.D. Friedrich; dpa

Ein wenig zu rot für einen gewöhnlichen Sonnenuntergang brennt der Himmel auf dem Gemälde "Ansicht eines Hafens" (Detail) aus den Jahren 1815/1816 von Caspar David Friedrich, wie Klimaforscher nachweisen konnten.

(Foto: Foto: dpa/VG Bildkunst)

Die kurzen Wellenlängen - sie erscheinen blau oder grün - werden verstreut. Langwelliges rotes Licht hingegen gelangt nahezu ungestört auf die Erde. Der Effekt ist vergleichbar mit der Ausbreitung von Wellen in einer Pfütze: Kurze Wellen werden von kleinen Steinen abgelenkt und verlieren sich irgendwann. Große Wellen aber schwappen über kleine Steine einfach hinweg.

Dass Klimaforscher den einstigen Staubgehalt der Luft bereits realistisch ermittelt hatten, bestätigten dem Physiker Zerefos unter anderem die Werke von fünf Künstlern, die jeweils kurz vor und nach historischen Vulkanausbrüchen malten. So offenbaren zum Beispiel die berühmten Sonnenuntergangsbilder von William Turner, dass sich im Lauf der Zeit das Licht verändert haben muss: Das Gemälde "The Lake, Petworth, Sunset" etwa, das 1828 vor dem Ausbruch des philippinischen Vulkans Babuyan Claro im Jahr 1831 entstand, erscheint blass. Das Bild "Sunset" von 1833 hingegen leuchtet rotorange.

Gemälde - ein Datenfundus für Klimatologen

Kunsthistoriker hielten es ohnehin für nahezu ausgeschlossen, dass bloß eine Laune Turners für den Farbwechsel verantwortlich gewesen sei. Sie haben längst gezeigt, dass nur wenige Maler die Mischung ihrer Farben drastisch variierten. Somit können nicht nur Kunsthistoriker aus der Klimageschichte lernen, sondern auch die Klimaforscher aus der Kunst: "Wir haben gezeigt, dass Gemälde verlässlich über den Partikelgehalt der Luft Auskunft geben", resümiert Christos Zerefos.

So könnten Klimatologen die Informationen vor allem für die Erforschung des Klimas jener Jahre gut gebrauchen, für die sie nur lückenhafte Daten besitzen. Ein Wissen über die Klimavergangenheit, das für Zukunftsprognosen wichtig ist: Je genauer bekannt ist, wie sich der Staubgehalt der Luft verändert hat, desto besser lässt sich auch die Klimaentwicklung nachbilden - und je realistischer das gelingt, desto vertrauenswürdiger werden die Klimasimulationen der Welt von morgen, sagen Experten.

Auch die zunehmend staubige Luft der Großstädte seit dem 15. Jahrhundert ist auf vielen Gemälden gut zu erkennen: Die vorherrschende Himmelsfarbe wechselte von blauen zu gelben und im 19. Jahrhundert zu rosafarbenen Grautönen. So könnte seine Methode auch helfen, die Luftverschmutzung in Europa zu rekonstruieren, sagt Zerefos. Schließlich hat auf ähnliche Weise ein anderer Aspekt, nämlich die dargestellte Bewölkung auf europäischen, gegenständlichen Landschaftsmalereien, der Klimaforschung bereits gedient. Klimahistoriker wie der renommierte, 1997 verstorbene Hubert Lamb untersuchten die Wolkendarstellungen auf Bildern des 16. bis 18. Jahrhunderts - mit dem Ergebnis: Von 1550 bis 1700 wurden im Durchschnitt 80 Prozent des Himmels mit einer Wolkendecke dargestellt, im 18. Jahrhundert waren es nur noch 60 Prozent.

Wetterverhältnisse und Politik

Aus den meist im Sommer entstandenen Werken schlossen die Forscher auf die einst vorherrschenden Wetterlagen. Allerdings hätten Modetrends in der Kunst die wissenschaftlichen Aussagen verwässert, schrieb Lamb. Die Studie von Zerefos und seinen Kollegen liefert im Vergleich dazu offenbar verlässlichere Daten. So spiegelt etwa der dramatische Sonnenuntergang auf dem Gemälde "Sir Neil O'Neill" des englischen Porträtmalers John Michael Wright keinen künstlerischen Modetrend wider, sondern die Folgen zweier Vulkanausbrüche in Indonesien im Jahr 1680.

Und ebenso naturgetreu zeigt angeblich der tieforangefarbene Sonnenuntergang auf dem Ölgemälde "Mrs. Daniel Denison Rogers Abigail Bromfield" von John Singleton Copley nahezu unverfremdet ein Schauspiel, das von der Aschewolke des isländischen Vulkans Laki hervorgerufen worden war, der 1783 ausbrach und für eine drastische Klimaveränderung in Europa sorgte. Das Copley-Bild ist damit aber nicht nur ein Klimazeugnis, sondern auch ein Dokument politischer Umwälzungen.

Denn die dargestellten Wetterverhältnisse trugen wahrscheinlich zum Ausbruch der Französischen Revolution bei: Missernten führten in den Folgejahren besonders in Frankreich zu Hungersnöten. Ärmere Leute mussten im Winter 1788/89 fast 90 Prozent ihres Einkommens allein für Brot ausgeben. Dies verstärkte eine Stimmung im Land, die 1789 in der Revolution eskalieren sollte. Die Realitätsnähe der untersuchten Bilder habe ihn selbst überrascht, resümiert Christos Zerefos. Ein Urteil, das manchen verblichenen Maler freuen würde. Der Farbund Stimmungsvirtuose William Turner etwa wird in historischen Quellen mit dem Satz zitiert: "Ich habe nicht gemalt, um verstanden zu werden. Ich wollte zeigen, wie eine Gegend aussah." Das ist dem Künstler besser gelungen, als er es hätte ahnen können.

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