"Kuhflüsterer":Der mit der Kuh spricht

Wanderin zwischen den Kühen

"Grundsätzlich sehen Kühe im Menschen zuerst einmal einen Feind."

(Foto: dpa)

Zwischen Kühen und Menschen herrscht "kalter Krieg", die Zahl der Unfälle steigt. Da braucht es Kuhflüsterer wie Philipp Wenz. Zu Besuch bei einer sehr speziellen Paartherapie.

Von natur-Autor Lukas Grasberger

Dicke Luft herrscht im Stall der Agrargesellschaft Günterode, irgendwo im Hügelland Thüringens. Hinter einem Metallzaun steht eine Gruppe Rinder im Stroh. Die Schwarzbunten haben sich in eine Ecke verzogen, die Situation: ungewohnt. Denn vor ihrem Abteil wartet rund ein Dutzend Milchviehhalter, die - Anekdoten aus ihrem Berufsalltag erzählend - ihre Müdigkeit verscheuchen.

Aus allen Ecken Deutschlands sind sie heute hierhergekommen, um im Seminar von Philipp Wenz "Low Stress Stockmanship" zu lernen: das stress­arme, sichere und effiziente Arbeiten mit dem lieben Weidevieh. Im Moment kann davon noch keine Rede sein. Die Atmosphäre ist angespannt. Wie eine Wagenburg haben sich die Rinder zusammengedrängt und machen nun große Augen. "Wohin linsen die?", fragt Wenz - schlaksig, braune Jacke, rote Mütze - die Bauern. Um die Antwort darauf gleich selbst zu geben: "Alle, selbst die hinterste, gucken genau zu uns herüber." Vom reduzierten, stoisch wirkenden Gesichtsausdruck von Rindern dürfe man sich nicht täuschen lassen, wird die Agrarwissenschaftlerin ­Edna Hillmann später sagen: "Grundsätzlich sehen Kühe im Menschen zuerst einmal einen Feind. Dass er ein Freund sein kann, müssen sie nach und nach erst lernen." Strategisch betrachtet ist die Situation im Stall von Günterode also ein klassisches Patt, eine Art "kalter Krieg" zwischen Kuh und Mensch. Mit Bauern, die auf Rinder starren, und Rindern, die auf Bauern starren.

Unfälle mit Kühen nehmen zu

Die skurril anmutende Szenerie hat einen ernsten Hintergrund. Die Zahl der meldepflichtigen Zwischenfälle mit Rindern hat nach Angaben der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau in jüngster Zeit deutlich zugenommen, auf über 6000 größere Unfälle im Jahr 2014. Die Zahl der Toten hat sich von 2013 auf 2014 gar auf acht verdoppelt. Kürzlich starb eine Bäuerin, nachdem ­eine kalbende Kuh sie am Kopf getreten hatte.

Aus natur 04/2016

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    Der Text stammt aus der April-Ausgabe von natur, dem Magazin für Natur, Umwelt und nachhaltiges Leben. Er erscheint hier in einer Kooperation. Mehr aktuelle Themen aus dem Heft 04/2016 auf natur.de...

Tragische Unfälle wie diese durch eine bessere Verständigung zwischen Mensch und Kuh verhindern - das ist die Mission von Philipp Wenz. Dafür packt er Woche für Woche Audio-Boxen, Funkmikrofon und Flipchart in den Kofferraum seines leicht zerbeulten Audi, dafür fährt der 46-Jährige Monat für Monat Hunderte Kilometer durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Zu diesem Zweck ist Wenz auch ins thüringische Städtchen Heiligenstadt gereist. Dort hat er im abgedunkelten Konferenzraum eines Kurhotels skeptisch dreinblickende Milchviehhalter einen ganzen Vormittag lang mit der Theorie des indirekten Treibens, mit Einfall- und Ausfallwinkeln und Balancepunkten gequält. Auf Philipp Wenz' Schaubildern wird die Kuh zum Punkt oder Kreis, der Bauer in Bewegung zum Vektor.

Der Agrarökonom geht tief hinein in die Mechanik einer Beziehung, die kompliziert geworden zu sein scheint: "Die Betriebe sind gewachsen", konstatiert Wenz, "und mit dem Größerwerden der Höfe hat sich auch der Abstand zwischen Mensch und Kuh vergrößert." Tiere seien nicht mehr handzahm. Dazu komme Unsicherheit, ja zuweilen gar Angst beim Umgang mit Kühen bei denjenigen, die nicht mit den Tieren großgeworden sind. Wenn mehr und mehr Angestellte, manchmal nur Angelernte, auf immer größeren Höfen arbeiten, sind Konflikte vorprogrammiert. "Es gibt Betriebsgrößen, da stoßen wir an die Grenzen unserer traditionellen Tierhaltungstechniken", sagt der landwirtschaftliche Berater.

Bevor er sich vor rund zehn Jahren selbständig machte, arbeitete Philipp Wenz selbst als Geschäftsführer in bäuerlichen Großbetrieben, war erschrocken über die Grobheit mancher Mitarbeiter gegenüber den Tieren. "Das muss auch anders gehen", dachte er und fing an zu recherchieren. Bald stieß Wenz auf den Amerikaner Bud Williams, der sanfte Treibetechniken von Cowboys in der offenen Prärie studiert und weiterentwickelt hat. Fasziniert von Williams' ruhiger Art reiste er in die USA, um beim Meister des "Low Stress Stockmanship" (LSS) persönlich zu lernen.

"Der erste Eindruck ist auch bei Kühen der wichtigste"

Mittlerweile sind Philipp Wenz die LSS-Prinzipien in Fleisch und Blut übergegangen. Wenn er, wie auf dem Thüringer Hof, ins Rindergehege klettert, tut er das langsam. Seine Seminarteilnehmer müssen draußen bleiben, Wenz' Ausführungen verfolgen sie über ein Funkmikrofon. Behutsam, die Hände in den Jackentaschen, nähert sich Philipp Wenz den Tieren. Er vermeidet so Gesten, die aggressiv verstanden werden könnten, baut Vertrauen auf: Unbedachtes Fuchteln könne die Kuh, ein klassisches Beutetier, als Bedrohung verstehen. Nur dann, zur Verteidigung, greife sie an, nehme ihren Widerpart auf die Hörner oder drücke ihn mit der vollen Wucht von gut einer halben Tonne Gewicht gegen die Stallwand. Streckt die Kuh indes von sich aus den Kopf vor, um zu riechen, lässt Wenz sie. "Ich mache mich so nach und nach bekannt. Der erste Eindruck ist auch bei Kühen der wichtigste." Ein sanftes gegenseitiges Beschnuppern: Für Kuh wie für den "Kuhflüsterer" eine gedeihliche Arbeitsgrundlage.

Sogenannte Kuhflüsterer wie Wenz, der Brandenburger Wilhelm Schäkel oder der Österreicher Herbert Strnad haben Konjunktur. Und natürlich sind nicht nur Kühe Tiere, mit denen wir ein Verständigungsproblem haben. Das Interesse an Kommunikation mit Nutz- und Haustieren ist enorm. Monty Roberts gab als Pferdeflüsterer gar das Vorbild für den gleichnamigen Hollywoodfilm. Der Hundeflüsterer Martin Rütter bekam unlängst eine eigene Sendung im Privatfernsehen. Sanfte Kommunikation mit Tieren lässt sich aktuell gut verkaufen - sei es als Comedy, sei es als spirituelles Wohlfühlprogramm. Herbert Strnad wirbt gar mit Körperarbeit und für "ganzheitliche Verständigung" mit Vierbeinern. Doch was steckt hinter diesem Trend zum Tierflüstern? Ist es ein esoterisches Korrektiv einer durchrationalisierten Hochleistungslandwirtschaft? Oder die zunehmende Bereitschaft einer Gesellschaft, Tiere als Wesen zu sehen, denen man mehr und mehr Persönlichkeitseigenschaften zubilligt?

Wissenschaftler entdecken langsam die Emotionalität von Tieren

Der Mensch hatte in seiner ganzen Geschichte ein Bedürfnis, mit Tieren zu sprechen. Schamanen und Hexen sagte man eine besondere Fähigkeit dazu nach. Auch der Heilige Franz von Assisi habe mit den Tieren zu sprechen gewusst. Und manchmal haben die Tiere selbst zum Menschen gesprochen: beispielsweise die Schlange zu Adam und Eva oder Loriots sprechender Hund. Wobei es auch dabei ein offensichtliches Verständigungsproblem gab ...

Es gilt heute, zwischen schwer beweisbarer telepathischer Kommunikation zwischen Mensch und Tier und einem Verständnis zu unterscheiden, das auf den Eigenarten der jeweiligen Spezies beruht. Dann verlieren Tierflüsterer auch ihre esoterische Note.

Die Neubewertung der Mensch-Kuh-Beziehung sei durchaus wissenschaftlich zu begründen, erklärt ­Edna Hillmann von der Eidgenössisch-Technischen Hochschule (ETH) Zürich. Verhaltensforscher wie Konrad Lorenz hätten Tiere noch wie Roboter ­betrachtet, die praktisch mit genug Futter zufriedenzustellen wären - und ihnen jegliche Emotionalität abgesprochen. "Das hat sich seit den 90er Jahren geändert. Emotionen von Tieren und die Mensch-Tier-Beziehung sind heute in der Tierwohlforschung ein großes Thema", sagt Hillmann, die die Einheit für Ethologie und Tierwohl an der ETH leitet. "Heute wissen wir, dass Tiere positive Emotionen erfahren müssen, damit es ihnen gut geht."

Leiden Tiere Stress, kann das wirtschaftliche Folgen haben

Begriffe wie cow comfort ("Kuh-Komfort") und animal welfare ("tierisches Wohlergehen") hielten Einzug in die Wissenschaft. In einem mehrjährigen EU-Projekt wurden neue Kriterien für die Beurteilung des Wohlbefindens von Nutztieren entwickelt. Dass sich Stunk im Stall auch wirtschaftlich bemerkbar macht, ist empirisch nachweisbar. "Wenn der Melker gestresst ist, wirkt sich das auch auf die Kuh aus - indem etwa die Milchleistung sinken kann", betont Hillmann. Mit derartigen Erkenntnissen kommen sanftere Haltungstechniken nach und nach im landwirtschaftlichen Mainstream an: Organisiert hat Wenz' Low-Stress-Stockmanship-Seminar die Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft, eine Spitzenorganisation der deutschen Agrar- und Ernährungswirtschaft.

Zurück in Thüringen stellt Philipp Wenz die —Erkenntnisse zur Kuhkommunikation mittlerweile vom Kopf auf die Füße, oder besser: auf die Hufe. Im Stall bei Heiligenstadt erleben die Rinder mit ihm ihren ersten Stressmoment. An den Kuhflüsterer haben sich die Tiere nach und nach gewöhnt. Doch da ist auch noch die Bodenschwelle, über die Wenz sie treiben will. Nach kurzem Trab geht ein Ruck durch die Rindergruppe. Die Leitkuh hat abrupt abgestoppt, legt nun den Kopf ein wenig schief. Der Kuhflüsterer weiß ihr eingeschränktes Mienenspiel zu deuten: "Sie guckt", sagt Wenz. "Sie hat eine Frage!" Der ungewohnte Bodenbelag ist eine Hürde, die die Schwarzbunte mehr und mehr nervös macht. "Sehen Sie, wie der ganze Körper anfängt zu zucken? Wie sie unter Spannung steht? Sie ist ein bisschen aufgeregt."

Mit ein paar bedächtig gesetzten Schritten bringt der Mann mit dem rötlichen Vollbart Bewegung in die ganze Herde. Dafür braucht er kein "Hopp-hopp", kein Klatschen, kein lautes Wort. Lärm, sagt Wenz, irritiert die Tiere, er macht ihnen Stress.

"Bewegung", sagt Philipp Wenz, "ist dagegen etwas, das die Tiere unmittelbar verstehen." Untereinander in Nähe und Distanz zu treten, das sei eine tierische Form der Kommunikation, die Rinder den ganzen Tag betrieben. "Wenn ich mir das zunutze mache, verstehen sie mich sehr, sehr schnell."

Ein kritischer Moment kann ausreichen, damit ein Unfall passiert

Mit einem Halbschritt in Richtung der Kühe fordert Wenz eine Reaktion heraus, die er dann erst einmal beobachtet. Hat er es mit Sensibelchen zu tun? Oder mit einem bockigen "Stinkstiefel"? Wäre Wenz ein Politiker, er würde wohl sagen: Man muss die Kuh dort abholen, wo sie steht. Als Kuhflüsterer sagt er: "Tiere sind sehr aufmerksame Beobachter. Wir sollten ihnen gegenüber wenigstens halb so aufmerksam als Beobachter sein."

Gezielt sucht Philipp Wenz das Auge, die Aufmerksamkeit einzelner Tiere. Schritt für Schritt positioniert er sie mal nach vorne, mal nach hinten. Fast wirkt der Mann dabei wie ein Dirigent, der mit spärlichen Gesten aus der etwas tumb ­blickenden Masse Kuh nach und nach ein Ensemble dynamischer Individuen formt.

Ein Schauspiel, das die Zaungäste hinter dem Metallgitter sichtlich beeindruckt: Bei ihnen, klagen die Seminarteilnehmer, laufe es nicht so reibungslos. Da ist eine Herde trotz vehementen Einsatzes eines halben Dutzends Mitarbeiter über Tage nicht von der Weide zu bringen. Da brechen Rinder mir nichts, dir nichts durch Weidezäune. Auch die Milchbäuerin Katja aus Oberfranken hat ein konkretes Problem mitgebracht. Ihr tanzte ein halbstarkes Kalb auf der Nase herum. Aufgefallen sei ihr das Tier durch ein seltsames Hecheln. "Da wollte ich dann mal nachsehen: Was hat das Kalb?" Doch nach Fiebermessen stand ihm offenbar nicht der Sinn. Das Jungtier nahm Reißaus, die Bäuerin hinterher. Ein Fangspiel bis zur völligen Erschöpfung von Kalb und Katja. Heute lacht die Landwirtin darüber. "Aber angenehm war die Situation weder für mich, noch für das Kalb."

Wenz holt Katja in das Kälberabteil, sie soll ausprobieren, was sie im Laufe des eintägigen Workshops vom Kuhflüsterer gelernt hat. Sie nähert sich den Tieren im Zick-Zack-Gang, mit dem sich dosiert Druck auf die jungen Kühe ausüben lässt. Deren Augen werden größer, sie fokussieren die Bäuerin. Doch die Konzentration, sie hält nur kurz - bis es in einer anderen Ecke des Stalls knallt. "Ja, junge Kälber haben eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne", lacht Wenz. Er treibt seine Schülerin an, energischer auf die Kälber zuzugehen. Und tatsächlich: Das halbe Dutzend Jungtiere lässt sich plötzlich lenken, geht linksherum, dann rechtsherum vor der Bäuerin her. Die Aufmerksamkeit endet abrupt, als ein Mitarbeiter sich mit Futter nähert.

"Mit Zeit arbeiten"

Manchmal sind es plötzliche Ablenkungen, oft ­kritische Standardsituationen, die Sand ins Getriebe des eng getakteten Systems der modernen Landwirtschaft bringen. Milchbauern stehen unter besonderem wirtschaftlichem Stress - umso mehr, seit die Preise nach Abschaffung der Milchquote ins Bodenlose zu fallen scheinen. Trifft ein Bauer unter Zeitdruck auf eine Kuh, die sich querstellt, "dann kann ein kritischer Moment ausreichen und es knallt", räumt Artur Stock ein, der in Ostwestfalen einen Hof mit 60 Stück Milchvieh betreibt.

Es sind vor allem solche nicht häufigen, aber gefürchteten Situationen, derentwegen Stock und seine Kollegen nach Thüringen gekommen sind: Wie isoliere ich Tiere in einem Korral, um sie für eine Impfung zu fixieren? Wie treibe ich sie stressfrei durch schmale Gänge und enge Trichter? Themen, denen Philipp Wenz den Schlussteil seines Seminars widmet. Dabei wagt er sich schließlich an die Königs­disziplin der Viehhalter: eine Kuh in den ungeliebten Klauenpflegestand bringen. Wenz zögert, als er das alte Modell aus DDR-Zeiten sieht. Und tatsächlich wird dieser Klauenstand sogar den Kuhflüsterer vorläufig an seine Grenzen bringen. Das Tier bockt vor dem engen, blauen Gestänge. Ein Dilemma: Tut Wenz nichts, tut auch die Kuh nichts. "Mache ich zu lange Druck und nehme den wieder weg, lernt die Kuh nur, dass sie den Druck ertragen kann."

"Mit Zeit arbeiten", lautet nun seine Devise. Rinder, sagt Wenz, haben ihren eigenen Rhythmus des Verstehens, oft führe Ungeduld zum fatalen Fehlschluss: Die Kuh ist dumm. "Bei mir bekommt sie alle Zeit der Welt. Wenn sie es dann ein für allemal gelernt hat, haben wir letztlich Zeit gespart." So sanft wie nachdrücklich und unerbittlich bewegt er das renitente Rind in Richtung Ziel. Nach einer halben Stunde vor und zurück, und am Ende doch einem Quäntchen Körpereinsatz, hat er die Kuh in den Klauenstand bugsiert. Geschafft!

Philipp Wenz wäre nicht der Kuhflüsterer, würde er nicht auch dieser Episode noch eine Lehre abringen. Er habe erwartet, dass es hier Probleme geben würde, sagt er selbstkritisch. "Und das, was ich erwarte, passiert." Habe keine Erwartungen. Beobachte genau. Reagiere nur auf das, was gerade passiert: Es klingt fast wie Zen-Weisheiten fürs Weidevieh, was Wenz seinen Seminarteilnehmern mit auf den Weg gibt: Sei achtsam gegenüber deinem Nächsten - auch wenn es sich um ein Rindvieh handelt. "Mein Ziel", sagt Wenz, "ist dann erreicht, wenn Sie nach Hause fahren und ihre Tiere mit anderen Augen sehen."

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