Normalerweise interessieren sich bestenfalls Hunde für kniehohe Sandhaufen. Doch an einem Strand zwischen Scheveningen und Hoek van Holland in den Niederlanden inspizieren auch Forscher die kleinen Hügel ausgiebig, wenn auch nicht olfaktorisch. Sie vermessen und kartieren sie, dokumentieren, ob sie wachsen, schrumpfen oder wandern. Selbst die Durchmesser der Sandkörner halten sie akribisch fest.
Der Grund für die wissenschaftlichen Strandaktivitäten ist ein Projekt namens Sandmotor: 2011 wurden vor der Küste rund 20 Millionen Tonnen Sand aus tieferen Regionen der Nordsee auf 128 Hektar Meeresboden geschüttet, eine Fläche so groß wie 200 Fußballfelder. Der Sandberg ragt wie eine Halbinsel aus dem Meer. "Wind, Strömungen und Gezeiten transportieren den Sand wie ein Motor nach und nach an die Küste und sorgen so für Stabilität", sagt Marcel Stive, emeritierter Professor der TU Delft. Mindestens 20 Jahre lang soll der Sandmotor den Küstenabschnitt vor Erosion schützen.
Weltweit sind mehr als 70 Prozent aller Küsten von Erosion bedroht
Ob der Plan aufgeht, untersuchen die Wissenschaftler unter anderem mithilfe von Kameras an einem 40 Meter hohen Turm, mit Sensoren, Laserscannern und Radar. Im vergangenen Jahr zogen sie eine erste Bilanz. "Der Sandmotor tut genau das, was wir erwartet haben, und verteilt Sand in beiden Richtungen an die Küste", sagt Stive. Außerdem sei die Artenvielfalt gestiegen. Die Forscher haben seltene Dünengräser und Vogelarten gesichtet sowie Seehunde. Auch Spaziergänger, Surfer und Schwimmer haben den neuen Strand für sich entdeckt. Für ihre Sicherheit werden Strömungen und Wellengang ebenso überwacht wie die Sandbewegungen.
Küstenschutz ist eine Art Lebensversicherung für die Niederlande. Ohne Sandnachschub würde sich das Land nach und nach auflösen. Wind und Wasser nagen an der Küste, nehmen mehr Sediment mit, als sie wieder antragen. Zudem liegt ein gutes Drittel des Landes an der Nordsee unterhalb des Meeresspiegels, teilweise mehr als sechs Meter. Der Klimawandel könnte die Situation durch heftigere Unwetter und steigende Meeresspiegel künftig verschärfen. "Der Sandmotor liefert genügend Material, um einen Meeresspiegelanstieg von drei Millimetern im Jahr zu kompensieren", sagt Stive.
Bisher wurden alle vier bis fünf Jahre kleinere Mengen Sand mit Saugbaggern vor die Küste gespült. Der Sandmotor ist billiger, auch wenn zu Beginn eine vergleichsweise hohe Investition nötig ist. "Pro Kubikmeter Sand kostet der Sandmotor in den Niederlanden weniger als drei Euro. Konventionelle Auf- und Vorspülungen sind zwei bis drei Mal so teuer", berichtet Stive. Das neue Verfahren könnte außerdem ökologische Vorteile haben, da seltener in bestehende Ökosysteme eingegriffen wird. "Ob diese Rechnung aufgeht, werden wir aber erst in ein paar Jahren wissen", räumt der Forscher ein.
Der Sandmotor ist nicht das einzige groß angelegte Küstenschutzprojekt in den Niederlanden. Vor dem Küstenort Petten etwa wurde vor zwei Jahren eine Dünenlandschaft aus rund 35 Millionen Tonnen Sand aufgeschüttet. Und Forscher der Universität Wageningen untersuchen gerade, wie gut ein "Schlickmotor" als Stabilisator von Wattenmeer und Marschland taugt. Sie bringen dazu überschüssiges Sediment aus Hafengebieten, die zu verlanden drohen, an geeignete Stellen vor der Küste. Wie beim Sandmotor treiben Strömungen und Wellen das Sediment nach und nach gen Land.
Weltweit sind mehr als 70 Prozent aller Küsten von Erosion bedroht. Auch die deutsche Nordsee- und Ostseeküste sind betroffen. Vor allem Urlauber würden es schnell merken, wenn nicht regelmäßig Sand aufgefüllt werden würde. Für Strandkörbe wäre wohl bald kein Platz mehr. Sylt zum Beispiel verliert an der Westküste jedes Jahr rund eine Million Kubikmeter Sand. Versuche, den Schwund mit Buhnen oder anderen Betonbauten aufzuhalten, scheiterten. Deshalb wird seit Anfang der 1980er-Jahre alljährlich Sediment aus einem etwa acht Kilometer entfernten Meeresgebiet auf und vor den Strand gespült. Ein sogenannter Hopperbagger fährt dafür sechs Monate lang jeden Tag mehrfach zwischen Entnahmestelle und Küste hin und her.
Im vergangenen Jahr kostete die Sandleihe den Steuerzahler gut sieben Millionen Euro. "Die Steuereinnahmen aus dem Tourismus übersteigen die Summe aber um ein Zigfaches", sagt Birgit Matelski vom Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz (LKN) Schleswig-Holstein. Die Methode funktioniere sehr gut. Ein Sandmotor wie in den Niederlanden stehe zurzeit nicht zur Debatte.
Gleichwohl wird auch die Sylter Methode in den kommenden Jahren erstmals umfassend wissenschaftlich untersucht. "Wir wissen zum Beispiel nur wenig darüber, wie robust die Aufschüttungen bei unterschiedlichen Wetterbedingungen sind, was sie ökologisch bedeuten und ob es nicht Verbesserungsmöglichkeiten gibt", sagt Torsten Schlurmann vom Forschungszentrum Küste (FZK) der Leibniz-Universität Hannover. Das will sein Team gemeinsam mit Wissenschaftlern des Alfred-Wegener-Instituts auf Sylt in einem staatlich geförderten Projekt erforschen, das gerade angelaufen ist.
Schlurmann ist überzeugt, dass Küstenschutzklassiker wie Deiche, Sperrwerke und Wellenbrecher nach wie vor unverzichtbar sind. Doch er freut sich über das steigende Interesse an naturbasierten "weichen" Ergänzungsmaßnahmen. "Der Sandmotor in den Niederlanden ist ein besonders beeindruckendes Beispiel, obwohl die Folgen nur schwer abschätzbar sind", sagt der Ingenieur. Wie komplex die physikalischen Zusammenhänge sind, zeigt sich zum Beispiel daran, dass sich der Sand erst schneller und dann langsamer gen Küste verteilt hat als berechnet.
Und es gibt noch andere Mittel, einen Sandschwund zu kontern. Seegraswiesen zum Beispiel können Wellengang dämpfen, der andernfalls Sedimente fortspült. Das konnten die Forscher aus Hannover mit Versuchen im Wellenkanal zeigen. Auf Bali haben sie außerdem Kokosfasermatten als Sandfänger und Pflanzgrund für Gräser und Mangroven erfolgreich getestet. "Dabei kann auch bioabbaubares künstliches Seegras helfen, das echten Pflanzen in den ersten Jahren Schutz und Halt gibt", berichtet Schlurmann. Die Bepflanzung von Dünen und Deichen sei ebenfalls eine wirksame Küstenschutzmaßnahme.
Auf natürliche Mittel gegen Erosion setzen auch Forscher der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Mekongdelta. Das von Kanälen durchzogene Gebiet am Südchinesischen Meer gilt als Reiskammer Asiens und besonders erosionsgefährdet. Im vorletzten Jahr berichteten die GIZ-Wissenschaftler um Klaus Schmitt im Fachblatt Wetlands Ecology and Management, dass T-förmige Bambuszäune im Wasser Abhilfe schaffen können. Danach mindern die Zäune die Wucht der Wellen und halten zugleich Sediment an der Küste fest.
Es entsteht neues Land, auf dem sich Mangrovenwälder ausbreiten und einer erneuten Erosion entgegenwirken können. "Vorausgesetzt, sie bleiben unangetastet", betont Schmitt. Die Methode Sandmotor hält er für weniger geeignet. "Mega-Sandvorspülungen sind teuer und nicht nachhaltig, weil sie regelmäßig wiederholt werden müssen", sagt er.
Der Niederländer Stive hingegen ist überzeugt, dass Sand- und Schlickmotoren nicht nur im Mekongdelta probate Mittel sein können. "In Großbritannien gibt es schon jetzt ziemlich konkrete Pläne für den Bau eines Sandmotors", berichtet er. Diskutiert werde außerdem ein Einsatz vor Jamaika, vor Perus Hauptstadt Lima, am Mississippi-Delta und an einem Küstenabschnitt in Vietnam. "Ich vermute aber, dass es noch zehn, 20 Jahre dauern wird, bis das Konzept auch überregional Nachahmer findet", sagt der Forscher.