Kriminalität:Auch Verbrecher brauchen Vertrauen

Fahndungsplakate zeigen den Mafioso Bernardo Provenzano

1963 tauchte der sizilianische Mafioso Bernardo Provenzano unter. Erst im Jahr 2006 wurde er geschnappt, nachdem er 14 Jahre lang die Cosa Nostra aus dem Untergrund befehligt hatte. Ist so eine Karriere ohne Vertrauen und Kooperation möglich? Wohl kaum.

(Foto: AFP)

Verlässliche Zusammenarbeit - das ist schon im normalen Geschäftsleben nicht einfach. Wie muss das erst unter Kriminellen sein? Der Soziologe Diego Gambetta hat es erforscht.

Von Patrick Illinger

Seit 30 Jahren war ein gewisser Bernardo Provenzano, unter Einheimischen auch als "u tratturi" - der Traktor - bekannt, nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen worden. Doch im Jahr 1992 geschah etwas Überraschendes. Die Familie des sizilianischen Mafioso und späteren Cosa-Nostra-Chefs tauchte aus dem Untergrund auf und zog, für alle Welt sichtbar, in Provenzanos Heimatort Corleone, wo sie ein scheinbar normales Leben begann.

Was war geschehen? Hatten sich Provenzanos Angehörige von allen mafiösen Verstrickungen losgesagt, um endlich ein ruhiges Dasein zu genießen? Oder war die Familie von allen guten Geistern verlassen, sich feindlichen Clans schutzlos auszuliefern?

Weder noch, meint der italienische Soziologe Diego Gambetta, der seit vielen Jahren den Umgang unter Verbrechern erforscht. Seiner Ansicht nach diente Provenzanos Familie als eine Art Pfand: Seht her, liebe Mit-Mafiosi, Bernie der Traktor wird euch nicht verraten. Als Garantie habt ihr die Familie, jetzt, da ihr wisst, wo sie lebt.

Gambetta zufolge war das ein ebenso perfider wie wirkungsvoller Schachzug, um Vertrauen zu schaffen. Vertrauen unter Verbrechern wohlgemerkt, ein komplexes Thema, über das der zurzeit in Oxford forschende Gambetta am Montagabend bei der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München referierte.

Mit italienischem Charme und britischem Humor führte Gambetta die Zuhörer auf einen Streifzug durch die Soziologie der Kriminellen.

Das Thema hat bereits Sokrates beschäftigt, dem zufolge es auch in einer Bande von Räubern und Dieben eine Art Justiz geben müsse, welche die Mitglieder davon abhält, ihre Tätigkeit untereinander auszuüben.

"Wie schaffen Verbrecher untereinander Vertrauen?", fragt Gambetta. Dieses ist schließlich ein flüchtiges Gut, zumal wenn die Beteiligten Kriminelle sind und man bei Streitigkeiten schlecht die Polizei rufen kann.

Die Antwort führt zunächst in die Verhaltensökonomie, in der Wissenschaftler jene Mechanismen erkunden, die Kooperation hervorrufen, jenes Phänomen, bei dem Menschen auf unmittelbare Vorteile verzichten, um durch gemeinsames Handeln einen am Ende größeren Gewinn zu erzielen. In zahlreichen Laborexperimenten wurde nachgewiesen, dass dies schon Normalmenschen schwerfällt.

Doch ohne Kooperation, die wiederum auf Vertrauen basiert, geht es auch in der Unterwelt nicht, meint Gambetta: Drogenhändler brauchen Produzenten und Abnehmer, Diebe brauchen Hehler, und sogar Terroristen brauchen Netzwerke.

Gleichgewicht des Schreckens

Vertrauen kann mit Gewalt oder der Androhung von Gewalt durchgesetzt werden, wie in ungezählte Gangsterfilmen zu sehen ist. Hier wird die Soziologie der Verbrechen zu einer Art Newtonschen Mechanik: Druck erzeugt Gegendruck, wie in einem Gleichgewicht des Schreckens.

Doch Gewalt ist mit Aufwand und Kosten verbunden, auch ist das Risiko von Rache und Eskalation groß, wie sich in den mexikanischen Drogenkriegen auf groteske Weise zeigt.

Erfolgreiche Kriminelle bevorzugen daher, sofern es sich nicht um Psychopathen handelt, effektivere Mechanismen. So spielen in den Kräfteparallelogrammen der Kriminalsoziologie Geiseln eine Rolle, wie sie noch im späten Mittelalter sogar zwischen Staaten ausgetauscht wurden. Als die Zusammenarbeit zwischen kolumbianischen Drogenkartellen und der Mafia gestärkt werden sollte, seien ganze Familien aus Italien nach Medellin übersiedelt, berichtet Gambetta.

Generell werde die Häufigkeit gewalttätiger Konflikte unter Verbrechern überschätzt, warnt er: In Sizilien sei die allgemeine Mordrate geringer als in vielen anderen Regionen. Der Erfolg der sizilianischen Mafia liege unter anderem in ihrer Fähigkeit, als eine Art Proto-Regierung aufzutreten, die Vertrauensbrüche überwacht und bestraft.

Nachdem er selbst ein Jahr lang in Palermo recherchiert hat, kann Gambetta Erstaunliches über die Mentalität der Mafiosi berichten. Viele der capi seien bescheiden auftretende Menschen, gekleidet wie Bauern im Sonntagshemd, und mit den eigenen Unzulänglichkeiten vertraut, zum Beispiel in Sachen moderner Betriebswirtschaft. Auch seien die abgezweigten Margen, etwa aus verschacherten staatlichen Bauaufträgen, nicht so hoch wie oft vermutet: Drei bis fünf Prozent der Auftragssumme seien üblich.

Keinen Spaß verstünden die Herren jedoch, stellt man ihr Drohpotenzial in Frage. Einem kanadischen Kollegen, berichtet Gambetta, habe man dessen Wäsche frisch gewaschen ins Auto gelegt, mit einem Zettel, auf dem "buon viaggio" stand. Das war durchaus nicht als bescheidener Hinweis gemeint.

Manchmal entstehen stabile Formen krimineller Kooperation indes auch als selbsterhaltendes System. Das ist insbesondere der Fall, wenn es um langfristige Marktchancen geht und allen Beteiligten klar ist, dass ein einziger Verstoß gegen die Usancen den Zusammenbruch des gesamten Geschäftsmodells bedeutet. So gebe es in Bangladesch ein Netzwerk von 10.000 Dieben und Einbrechern, erzählt Gambetta, die ihre Informanten mit festen Prozentsätzen an Raubzügen beteiligen.

Gefängnisaufenthalt als Referenz

Ähnlich strukturiert sei eine von der Camorra organisierte illegale Lotterie: Gewinne werden zuverlässig ausgezahlt, damit der gute Ruf erhalten bleibt. Eine ähnliche Mentalität sei sogar in akademischen Kreisen zu finden, mahnt Gambetta: An italienischen Universitäten sei es üblich, dass Professoren die Studenten anderer Professoren in Prüfungen durchwinken, mit der berechtigten Erwartung, dass auch die eigenen Studenten bei den Kollegen reüssieren. Dieses System permanenter Gegenleistung werde von ausscheidenden Hochschullehrern sogar auf deren Nachfolger übertragen.

Doch der Nährboden für diese Art der Kooperation ist dünn: Strafverfolger müssen wegsehen, und die Sache kann in Stücke brechen, wenn nur ein Beteiligter quer- schießt. Grundsätzlich schätzen Verbrecher handfeste Beweise für Vertrauenswürdigkeit. Hierzu ist es zum Beispiel üblich, Nachwuchskräfte frühzeitig an Verbrechen zu beteiligen. "Die Mafia nimmt stets viel mehr Leute zu einem Mord mit als nötig", berichtet Gambetta. Der Grund ist einfach: Mittäter können bei Ordnungshütern schlecht als Informanten auftreten.

Der unter Kriminellen mit Abstand anerkannteste Ausweis für Vertrauenswürdigkeit ist jedoch ein Gefängnisaufenthalt, schließlich wird sich kaum ein verdeckter Ermittler jahrelang einsperren lassen. Wer also aus dem Knast kommt, hat die besten Referenzen.

Das war auch im Deutschland der 1930er-Jahre so, berichtet Gambetta. Damals gab es sogenannte Ringvereine, etwa mit dem vielsagenden Titel "Immertreu", die nach außen als Hilfsorganisationen für ehemalige Gefangene auftraten, tatsächlich jedoch organisiertes Verbrechen betrieben und trotz anderslautender Nazi-Propaganda auch im Dritten Reich nicht gänzlich zerschlagen wurden. Unmissverständlich verweist Gambetta auf die bis heute frappierende Absurdität: Ausgerechnet der Staat schafft mit seinen Gefängnissen die für Verbrecher bedeutendste vertrauensbildende Institution.

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