Ach, wenn doch zumindest die Sache mit den Katzen nicht wäre. "Aber ich kann ihn doch nicht immer an der Kette lassen", seufzt das alte Mütterchen im roten Gewand und zupft an ihrem Kopftuch. "Oft läuft er frei, bald kann ich ihn nicht mehr halten." Wenn Achmet frei ist, zieht er durch das Lager und fängt Katzen, die er mit einer Plastiktüte erstickt. Die toten Tiere versteckt er in seinem Kopfkissen, das er immer mit sich trägt. Er ernährt sich von den verwesenden Katzen, vom Abfall, manchmal von seinen Exkrementen. Fliegen schwirren um ihn herum.
Der Himmel strahlt blau über Hargeisa, der Hauptstadt der Republik Somaliland. Kinder toben am Straßenrand und Frauen in farbenfrohen Kleidern bevölkern die staubige Straße. Ein Meer von bunten Hütten aus Tüchern, Plastiktüten und Wellblech leuchtet in der Landschaft. Der 35-jährige Achmet und seine Mutter leben in dem Skelett einer solchen Hütte. Der Wind hat Tücher und Tüten weggeweht. Geblieben ist die kniehohe Wellblechverkleidung und ein Gerüst von Ästen.
Achmet sitzt auf einer schmutzigen Decke mit seinem Kopfkissen. Sein Fuß ist an eine Eisenkette angeschlossen. Fliegen sitzen in seinen Augen, an seinem Mund. Es riecht nach Verwesung, Urin und Exkrementen. Achmet wiegt sich nervös hin und her, lacht unkontrolliert, manchmal schlägt er um sich und schreit: "Hilf mir, Mama, sie bringen mich um! Bleib bei mir!" Dann wird er ruhiger, spricht undeutlich mit imaginären Personen. Seine Mutter meint, er dürfe nicht erzählen, mit wem er spricht, die hätten es ihm verboten. "Die", das sind die Halluzinationen.
In jedem fünften somalischen Haushalt leben einer epidemiologischen Untersuchung zufolge Menschen in Ketten, vermutlich mehr als acht Prozent der erwachsenen Männer sind psychisch schwer gestört. Sie sind die Opfer eines grausamen Experiments der Geschichte: Was passiert mit den Bürgern eines zerfallenen Staates, die über Jahre im schlimmsten Bürgerkrieg leben, die von Kindesbeinen an Gewalt und Drogen unterworfen sind?
Im Flüchtlingslager von Hargeisa sind Fischer von der Küste gestrandet und Bauern aus den südlichen Regionen, wo in den achtziger und neunziger Jahren der Kampf um Macht, Rohstoffe und fruchtbares Land am heftigsten tobte. Viele Heimkehrer leben hier, die während des Krieges geflohen waren und nun auf einen Neuanfang hoffen. Es findet sich kaum eine Familie, die nicht einen Sohn, eine Tochter, Vater oder Mutter oder andere Verwandte verloren hätte. Kaum ein Mann, der nicht im Namen der Warlords für eine Sache gekämpft hätte, die oft nicht die seine war.
Viele haben ähnliche Geschichten wie Achmet erlebt, der sich als junger Mann den Milizen des Somali National Movement (SNM) angeschlossen hatte. Er wollte kämpfen für sein Land. Doch schon im Ausbildungslager war er Übergriffen ausgesetzt, erlitt zahlreiche Verletzungen. An der Front tötete er Menschen und sah zu, wie andere getötet wurden. Ein Jahr lang, jeden Tag.
Überleben konnte er diese Hölle nur durch die stimulierende und Hunger tötende Kaudroge Khat, die aus den Blättern der gleichnamigen Pflanze besteht. Als er heimkam, war er gedemütigt, zerstört und ohne Zukunft. Aber er hatte noch Familie, Frau und Kinder, für die er sorgte - bis die ersten Symptome des Wahnsinns auftraten: Er wurde lethargisch, vernachlässigte die Körperpflege, verhielt sich aggressiv. Frau und Kinder verließen ihn. Jetzt kümmert sich nur noch seine Mutter um ihn.
Wenn die Sonne untergeht, spielen sich in den Städten und Lagern groteske Szenen ab. An den Märkten, wo die grünen Khatbündel verkauft werden, brennen Petroleumlampen, Radios lärmen, Verkäufer brüllen durcheinander. Dazwischen irren vereinzelt nackte Menschen umher, manche wühlen im Abfall, andere schlagen um sich. Die meisten von ihnen sind Männer. Das liegt daran, dass sie direkte Fronterfahrungen gemacht haben. Und daran, dass sie exzessiv Khat konsumieren. Die Droge war zwar schon immer wichtig in der somalischen Kultur. Doch war ihr Gebrauch früher streng reglementiert. Sie durfte nur bei der Zusammenkunft am Wochenende oder besonderen sozialen Gelegenheiten eingenommen werden. Frauen, Kinder und Jugendliche waren ausgeschlossen.
Diese Regeln hat der Krieg außer Kraft gesetzt. Ehemalige Soldaten berichten, dass die Kämpfe häufig erst dann fortgeführt wurden, wenn beide Seiten von den Warlords mit Khat aus Hubschraubern versorgt worden waren. Heute ist die Droge für jeden rund um die Uhr auf der Straße oder in den Tea Shops erhältlich. Khatdealer sind vor allem Frauen, die nur so ihre Familien ernähren können. Männer und Jugendliche sind ihre Kunden. Sie versuchen ihr Trauma, ihre Hoffnungslosigkeit mit den bitter schmeckenden Blättern des heimischen Gewächses zu ersticken.
Khat berauscht und stimuliert wie ein Amphetamin. Die Konsumenten verhalten sich aggressiv, euphorisch, unvorhersehbar. Sie leiden unter Depressionen, Schlafstörungen und Apathie. Wenn die Droge schon im Jugend- oder gar Kindesalter genommen wird, exzessiv und dauerhaft, dann richtet sie katastrophalen Schaden im Gehirn an. Sprachstörungen und der zeitweise völlige Verlust kontrollierten Verhaltens ziehen die Betroffenen immer tiefer in den Wahnsinn, viele werden schizophren. Sie werden zur Gefahr für sich selbst und für andere; deshalb werden sie an Ketten gelegt.
Omar hat früh mit dem Khat begonnen. Schon mit 15 Jahren kämpfte er für die SNM. Da hatte er schon zwei Jahre Kriegserfahrung hinter sich: Sein Dorf war überfallen worden, seine Eltern wurden ermordet. Der damals 13-Jährige war schwer traumatisiert. Bei der SNM kümmerte man sich um ihn. Er war mit anderen Kindern zusammen, bekam Essen und Khat. Dann musste er als Kindersoldat an die Front. Er sollte seine Dankbarkeit zeigen, also Menschen töten.
Seit dem offiziellen Ende des Bürgerkriegs im Jahr 2000 haust Omar nun schon bei einer entfernten Tante in Hargeisa, angekettet in einem Verschlag. Er sitzt auf ein paar Decken, seine Blöße mit einem Tuch bedeckt. Vor den Decken breitet sich eine übelriechende Pfütze aus: Urin. Das Tageslicht, das durch das kleine Fenster fällt, beleuchtet die Ketten, die an seinem Knöchel befestigt sind. Er sitzt im Schneidersitz und zupft immer wieder Schnipsel von einem Karton ab.
Omar versteht, was der Dolmetscher sagt, spricht ein paar Brocken Englisch. Warum er in diesem Raum ist? Es sei rein geschäftlich, sagt er und reißt an dem Karton. Ob er Dinge sieht, die andere Menschen nicht sehen können? Er druckst herum. Die Frau, seine Tante, die an der Wand sitzt, redet auf ihn ein. "Äh, ja", meint er schließlich. Er lässt den Karton los und hält sich mit seinen Armen umschlungen. Seinen Mund verlassen lallende Laute, die Augen werden größer, der Gesichtsausdruck kindlicher. Er lacht: "Ich bin der Prophet Mohammed." Seine Tante erzählt, dass er sich manchmal für Mohammed hält, manchmal für Omar.
Er zeigt auf sein gebrochenes Bein. "Da ist jemand draufgesprungen und es ist gebrochen", sagt er ohne Emotion. Ob er andere Verletzungen hätte? "Nein!" Seine Tante spricht auf Arabisch mit ihm und zieht die Decke von seinen Hüften; verstümmelte Genitalien werden sichtbar. Die Frau erzählt, dass er sich selbst den Penis abgeschnitten hat. Aus der Narbe, die bis zum Nabel reicht, tropft Urin. Wie das passiert sei? Die Geister hätten es ihm befohlen. Omar trägt weitere Narben auf der Brust - auch die hätte er sich selbst zugefügt. Seit vielen Jahren ist Omar angekettet. Manchmal deckt er sich mit seiner Decke zu und weint tagelang, manchmal wütet er für Stunden. Auf die Frage, weshalb er angekettet sei, antwortet Omars Tante: "Er hätte jemand anderen getötet oder sich selbst."
Diese humanitäre Katastrophe geht angesichts der anhaltenden Gewalt in Somalia unter. Die Kettenmenschen von Somalia haben keine Lobby. Weggesperrt und isoliert, belasten sie die Familien, die sie unterstützen sollten. Jene Frauen, die sich um ihre kranken Männer kümmern müssen, werden dadurch oft in den Ruin getrieben. Für nationale Gesundheitsprogramme zur Versorgung psychisch Kranker fehlt es an Geld in einem Land, das noch nicht mal die körperlich Verletzten ausreichend behandeln kann. Die internationalen Hilfsorganisationen sind vor allem mit anderen dringenden Problemen beschäftigt - Hunger, Malaria, Aids, der Praxis der Beschneidung.
In den Dörfern finden sich nur die überforderten Heiler, die in traditioneller somalischer Sicht psychisch Kranke für verhext halten. Da ihre Rituale nicht wirken, geben sie ihren Patienten meist ein weiteres Mal Khat und drehen so weiter am teuflischen Kreislauf. Selbst in den wenigen psychiatrischen Einrichtungen werden die Kranken wie Gefangene in Ketten gehalten, etwa im Mental Hospital Hargeisa. Einer der beiden leitenden Ärzte dort ist selbst khatabhängig und leidet unter Psychosen, als das Team der Hilfsorganisation Vivo International dort einen Besuch abstattet. Das Krankenhauspersonal hatte lange Zeit keine Medikamente zur Verfügung; auch wenn es sie gehabt hätte, wüsste niemand, wie man sie einsetzt.
Die Häuser der Psychiatrie in Hargeisa sind in zellenartige Räume unterteilt, die von außen zugänglich sind - sie ähneln Pferdeställen. Fliegen und Ungeziefer, Urinpfützen und Kothaufen finden sich innerhalb und außerhalb der Gebäude. In jeder Zelle leben meist mehrere kranke Menschen, insgesamt sind es mehr als 100, fast alle von ihnen sind an der Wand angekettet. In den blauen, schmutzigen Plastikeimern vor ihnen auf dem Boden befindet sich verkochter Mais - ihre Essensration. Etwa fünf Menschen teilen sich einen solchen Futtereimer.
Auch außerhalb der Gebäude sitzen Menschen mit Ketten an Beinen oder Armen. Manche sind apathisch, andere schlagen um sich, lachen oder reden in die Luft - Bilder einer Psychiatrie des Mittelalters. Viele von ihnen sind nur für Tage oder Wochen hier, wenn ihre Familien nicht mehr mit deren psychotischen Zuständen fertig werden. Andere leben ständig innerhalb der Anstalt.
Gerade sitzt die 32-jährige Fathma auf einem Stuhl im Raum des Direktors. Sie ist unsicher, in sich gekehrt. Fathma leidet an Schizophrenie, verschlimmert durch fortgesetzte traumatische Kriegserfahrungen. Ihre Mutter erzählt, dass Fathma manchmal in die Berge flieht, aus Angst vor Bomben und Krieg. Sie erlebte die Bombardierung ihrer Heimatstadt, den Bürgerkrieg im Land und die Flucht nach Äthiopien. Genaueres erzählt sie nicht.
Fathmas Stimmen sagen ihr, sie solle sich schämen und verbieten ihr, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Die Mutter weiß nicht mehr, als dass "Furchtbares mit meiner Tochter geschehen sein muss".Seit elf Jahren lebt Fathma eingesperrt im Haus ihrer Familie. Seit vier Jahren kettet ihre Mutter sie immer wieder wegen der aggressiven Psychosen und der Fluchtversuche an. Im Behandlungszentrum will sie ihre Tochter dann doch nicht lassen.
Am nächsten Tag berichtet Achmets Mutter im Flüchtlingslager von Hargeisa, dass ihr Sohn sich wieder befreien konnte. Jetzt irrt er wieder irgendwo im Flüchtlingslager inmitten der blauen Plastikplanen herum, die die UN dagelassen haben. Er wird schreien und im Abfall nach Nahrung suchen und Katzen jagen. Müde und verzweifelt ist die alte Frau. "Das ist nicht mehr mein Sohn, er ist mehr ein Tier als ein Mensch", sagt sie. "Ich hoffe, er stirbt bald und kommt nicht zu mir zurück."
Maggie Schauer arbeitet als Psychotraumatologin an der Universität Konstanz und für die NGO vivo (www.vivo.org). Sie kennt Somalia und andere Krisenländer aus eigener Feldforschung. Peggy Martin unterstützt als Journalistin vivo.