Krebstherapie:Diagnose im Dilemma

Am Wohl des Patienten vorbei: Die Fortschritte in der Tumortherapie werden kleiner und teurer - der Nutzen für Patienten geht manchmal verloren.

Werner Bartens

Die Patientin mit Brustkrebs bekam von ihrem Arzt Mut zugesprochen. "Wir haben da noch was für sie", sagte der Mediziner. "Das ist das Beste, was derzeit auf dem Markt ist." Ein anderer Arzt, der die weitere Betreuung übernahm, wunderte sich hingegen, dass der Patientin nicht eine weitere Alternative angeboten wurde. Schließlich gebe es eine andere Behandlungsform, die nicht nur billiger, sondern auch schonender ist. Die Chancen, die nächsten fünf Jahre zu überleben, unterscheiden sich bei beiden Therapien nur um drei Prozent.

Viel Geld für wenig Nutzen

Der statistisch errechnete Vorteil einer neuen Behandlung kommt bei Patienten nicht immer als erlebter Gewinn an. "Es wird viel Geld für wenig klinischen Nutzen ausgegeben", sagt Christoph Rochlitz, Leitender Onkologe am Universitätsspital Basel. "Das verschärft sich seit Jahren."

Dieses Dilemma beschäftigt auch die europäischen Krebsexperten, die derzeit in Berlin ihren Jahreskongress abhalten. Längst haben sich Onkologen daran gewöhnen müssen, dass Erfolge in der Tumortherapie manchmal bescheiden ausfallen. Aus dem "Krieg gegen den Krebs", den US-Präsident Richard Nixon 1971 vollmundig erklärte, ist ein zermürbender Stellungskampf geworden.

Deutlich wurde dies im vergangenen Jahr auf dem weltgrößten Krebskongress, dem Treffen der American Society of Clinical Oncology (ASCO) in den USA, das 30.000 Krebsexperten aus aller Welt anzieht. Ein Höhepunkt der Tagung war der Bericht europäischer Onkologen, die Patienten mit fortgeschrittenem Lungenkrebs mit einer neuen Medikamentenkombination behandelt hatten (Lancet, Bd. 373, S. 1525, 2009).

Wurde die neue Antikörpertherapie mit Cetuximab (Erbitux) zusätzlich zu den Zytostatika Cisplatin and Vinorelbin gegeben, überlebten Patienten im Mittel 1,2 Monate länger, also 36 Tage. Die Krebskranken litten aber öfter an Fieber, das mit einem bedrohlichen Mangel an weißen Blutkörperchen einherging. Sie klagten häufiger über Hautrötungen, bekamen Durchfall und vertrugen die Infusion seltener. Die Lebensqualität der Patienten während der Therapie wurde aber für die Studie nicht erhoben.

In dem Lancet-Beitrag - das Magazin konkurriert mit New England Journal of Medicine und JAMA um den Ruf der besten medizinischen Fachzeitschrift weltweit - ist von einem "neuen Standard" in der Therapie von Lungenkrebs die Rede. In der Ankündigung auf dem ASCO-Kongress hieß es, die Daten werden "wahrscheinlich entscheidenden Einfluss auf die Betreuung der Patienten" haben.

"Vermeintliche Wunderwaffe hat gigantisch daneben gegriffen"

Haben sie das tatsächlich? "Die einzig vernünftige Schlussfolgerung lautet doch, dass eine vermeintliche neue Wunderwaffe gegen den Krebs gigantisch daneben getroffen hat", schreiben der Onkologe Tito Fojo und die Ethikerin Christine Grady von den Nationalen Gesundheitsinstituten der USA in einem Artikel im Journal of the National Cancer Institute (Bd. 101, S.1, 2009). "Solche Ergebnisse führen aber zu der viel dringlicheren Frage: Was zählt als Erfolg in der Krebstherapie?" Welchen Preis ist ein so geringer Nutzen wert? Und wer soll entscheiden, was vertretbar ist?

Auf der nächsten Seite: Warum die Kostenspirale durch teure Präparate und deren fragwürdiger Nutzen akzeptiert wird.

Problem: Kostenentwicklung in der Onkologie

"Statistisch signifikant heißt nicht immer, dass es wichtig für Patienten ist", sagt Krebsexperte Herbert Kappauf aus Starnberg, der als Psychoonkologe Menschen in der Auseinandersetzung mit ihrem Krebs begleitet. "Es wird immer weniger mit Patienten besprochen, was ihnen bevorsteht - stattdessen sagen Ärzte: Wir haben da noch was." Aus Sicht der Patienten ist die Fragestellung hingegen klar: "Krebskranke wollen wissen, wie viel Zeit sie durch eine Therapie gewinnen - und wie sehr sie dabei beeinträchtigt werden", sagt Onkologe Rochlitz. "Das muss noch viel mehr Thema werden."

Fragwürdige Therapieerfolge kein Einzelfall

Fragwürdige Therapieerfolge sind kein Einzelfall in der Krebstherapie. Die amerikanische Medikamentenbehörde FDA ließ Cetuximab kürzlich auch für die Behandlung von fortgeschrittenem Dickdarmkrebs zu - dadurch überleben Patienten im Mittel 1,7 Monate länger. Bei Patienten mit dem Tumor wird die Zeit ohne Krebswachstum um 0,9 Monate verlängert. Während der Therapie klagen aber 85 Prozent der Patienten über Hautschäden, 19 Prozent davon über Schäden dritten bis vierten Grades.

Die Liste lässt sich fortsetzen. Bevacizumab - als Avastin bekannt - wurde zum Standardzusatz in der Chemotherapie gegen eine Form von Lungenkrebs. Die FDA begründete dies mit einer verlängerten Überlebenszeit von zwei Monaten. Krebsexperten zweifelten den Nutzen an, denn andere Untersuchungen hatten ergeben, dass lediglich das Tumorwachstum um 0,6 bis 0,4 Monate gebremst, die Lebenszeit aber nicht verlängert wird.

Bei Pankreaskrebs führt der Zusatz von Erlotinib (Tarceva) zu einer verlängerten Überlebenszeit von ganzen zehn Tagen. Während der Therapie treten mehr Rötungen, Infektionen, Durchfall und Mundentzündungen auf. "Solche Beispiele sollten Onkologen aufrütteln", sagen Fojo und Grady. "Was ist der minimale Nutzen einer Therapie, damit sie zum Standard werden kann? Ist ein um 1,2 Monate verlängertes Leben ein Wert an sich? Wie wichtig ist die Lebensqualität - und was darf es kosten?"

"Medikamentenwirkungen besser vorhersagen"

"Es wäre erfreulich, Medikamentenwirkungen besser vorhersagen zu können", sagt Gerhard Ehninger, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO). "Dann könnte die Behandlung zumindest bei den Patienten unterbleiben, die keinen Nutzen haben - und für die behandelten Patienten ergäbe sich ein größerer Effekt." Krebsexperten setzen darauf, dass in Zukunft maßgeschneiderte Therapien zur Verfügung stehen und Ärzte früh erkennen, welche Patienten von einer Behandlung profitieren und welche nicht.

Herbert Kappauf ist skeptisch, was die Erfolge dieser "targeted therapy", also der zielgerichteten Behandlung angeht. "Diese militärischen Begriffe sind Etikettenschwindel wie auch der ,Krieg gegen Krebs'", sagt der Onkologe. "Viel spezifischer sind die neuen Therapien auch nicht, es gibt große Kollateralschäden, um in der Armeesprache zu bleiben."

Manche Patienten sagen von sich aus, dass vier Wochen länger zu leben kein Gewinn ist, wenn gar nicht sicher ist, ob die Mittel ansprechen. Ein zu hoher Preis, um dem Tod noch ein paar Tage abzutrotzen. Die finanziellen Kosten sind ebenfalls enorm. Einen Patienten mit Lungenkrebs 18 Wochen mit Cetuximab zu behandeln, kostet 80.000 Dollar. Die Behandlung mit Bevacizumab kostet pro Patient 90.000 Dollar. Fojo und Grady haben errechnet, dass es 440 Milliarden Dollar kosten würde, das Leben der 550.000 Amerikaner, die jährlich an Krebs sterben, um ein Jahr zu verlängern.

"Arzt wird zum Marketingtrottel der Pharmaindustrie"

Man kann den Wert eines Lebens nicht bestimmen und auch nicht, wie viel ein Monat für einen Todkranken zählt. "Diese Rechnungen will niemand aufmachen, aber in Zeiten begrenzter Ressourcen sind solche Überlegungen unvermeidlich", sagen Fojo und Grady. "Wir reden nicht von Ausnahmen. 90 Prozent der von der FDA neu zugelassenen Mittel für die Krebsbehandlung kosten mehr als 20.000 Dollar für zwölf Wochen Therapie."

Weil Behörden die teuren Mittel zulassen und Onkologen sie verordnen, bekomme die Pharmaindustrie das Signal, dass die Kostenspirale und der fragwürdige Nutzen akzeptiert werden. "Je unkritischer aufgebauschte Erfolge präsentiert werden, umso mehr werden diese Mittel im Alltag eingesetzt", fürchtet Kappauf. "Dann wird nicht mehr gefragt, ob der Patient einen Nutzen davon hat und der Arzt wird zum Marketingtrottel der Pharmaindustrie."

"Das Problem der Kostenentwicklung in der Onkologie wird zentrales Thema unserer DGHO-Jahrestagung im Oktober", sagt Gerhard Ehninger. "Wir sind dafür, vier Jahre nach der Zulassung die Preise entsprechend dem Stellenwert einer Substanz festzulegen." Werde die Indikation für das Mittel erweitert und der Umsatz größer, sollten die Preise gesenkt werden. "Das Problem der Sterblichkeit kann man nicht wegtherapieren", sagt hingegen Onkologe Kappauf. "Wenn Ärzte immer neue Therapien mit immer geringerem Nutzen anbieten, kommt es zur komplizenhaften Verdrängung." Ärzte wie Patienten wollten nicht wahrhaben, dass sich der Tod nicht mehr verhindern lässt.

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