Krebsgefahr durch Analog-Insulin:Lantus unter Verdacht

Das Diabetes-Mittel Glargin, das der Pharmakonzern Sanofi-Aventis unter dem Namen Lantus vertreibt, gerät in die Kritik: Das Analog-Insulin erhöht womöglich das Krebsrisiko.

Werner Bartens

Der Aktienkurs von Sanofi-Aventis war das erste Warnsignal. Um mehr als acht Prozent fielen die Börsenwerte des internationalen Pharmakonzerns zwischenzeitlich am Freitag. Der Grund für den Absturz waren offenbar neue Sicherheitsbedenken gegenüber einem der umsatzstärksten Medikamente des Unternehmens: Das Diabetes-Mittel Glargin, ein sogenanntes Analog-Insulin, das Sanofi-Aventis unter dem Namen Lantus vertreibt, steht in dem Verdacht, das Krebsrisiko zu erhöhen. Auf solche Nachrichten reagiert der Aktienmarkt oft schneller als die Fachwelt.

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6,5 Millionen Diabetiker in Deutschland sind auf die Zufuhr von Insulin angewiesen. Nun steht das Mittel Lantus unter Verdacht, das Krebsrisiko zu erhöhen.

(Foto: Foto: dpa)

Der Absturz an der Börse kam der Wissenschaft allerdings nur wenige Tage zuvor. Am kommenden Dienstag sollten im Fachmagazin Diabetologia, dem Organ des europäischen Diabetologenverbandes EASD, gleich vier Studien erscheinen, die von der erhöhten Krebsgefahr durch das Analog-Insulin Lantus berichten.

Da die Information offenbar vorzeitig durchgesickert und an die Börse gelangt war, entschloss sich die EASD, die Fachartikel früher zugänglich zu machen. In den Studien mit insgesamt mehr als 300.000 Patienten, die aus Schweden, Wales, Schottland und Deutschland stammen, sehen die Forscher bei Diabetikern, die das Analog-Insulin spritzen, ein erhöhtes Krebsrisiko.

Krebserkrankungen nehmen zu

Eine der Studien, die fast 130.000 deutsche AOK-Patienten einschließt, wurde vom Kölner Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) betreut, das der Diabetologe Peter Sawicki leitet. Die Forscher rechneten das Risiko, das sie entdeckten, auf 1000 Diabetiker um: Bei Patienten, denen im Durchschnitt täglich zehn Einheiten Glargin verordnet wurden, würden etwa vier Krebserkrankungen mehr auftreten als unter Diabetikern in ähnlichem Alter, die sich das konventionelle Humaninsulin spritzen.

Bei Patienten, denen täglich 50 Einheiten Glargin verordnet würden, seien es sogar 13 Krebserkrankungen mehr pro 1000 Patienten. Allerdings, so die Wissenschaftler, wurde Glargin den AOK-Daten zufolge von den meisten Patienten nur in relativ geringer Menge eingesetzt. Mittelt man die Dosis, ergibt sich ein um etwa ein Prozent erhöhtes Krebsrisiko jährlich.

Die deutsche Studie wie auch die anderen Untersuchungen aus Europa sind allerdings reine Assoziationsstudien. "Wir sehen eine Verbindung, wissen aber nicht, ob Glargin die Ursache für das erhöhte Krebsrisiko ist", sagt Peter Sawicki. "Nimmt man die neuen Studien, sowie die bisherigen Zellversuche und Tierexperimente, ergibt sich aber ein dringender Verdacht - und ein Prozent mehr Krebsrisiko ist ja nicht wenig."

Experten warnen vor Hysterie

Sawicki beruhigt Diabetiker - sie hätten ja die sichere Alternative Humaninsulin. Die Beweislast sieht er nun beim Hersteller. "Die Firma muss jetzt belegen, dass an dem Verdacht nichts dran ist - bis dahin gilt: Vorsicht."

Die meisten der 6,5 Millionen Diabetiker in Deutschland sind auf die Zufuhr von Insulin angewiesen. Das Hormon beschleunigt die Aufnahme von Zucker in die Zellen. Insulin wird normalerweise in Beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse hergestellt. Beim mit mehr als 90 Prozent häufigsten Typ-II-Diabetes reagieren die Zellen nicht mehr auf körpereigenes Insulin. Zur Behandlung wurde Insulin früher aus Bauchspeicheldrüsen von Schweinen und Rindern gewonnen. Seit 1982 steht gentechnisch erzeugtes Humaninsulin zur Verfügung. Es entspricht dem körpereigenen Insulin und wird unter die Haut gespritzt.

Analog-Insuline gibt es seit 1996. Sie ähneln dem Humaninsulin. Nur einige Moleküle wurden verändert. Sinn dieser minimalen Abweichung von der Struktur des Humaninsulins soll eine schnellere Wirkung sein; zudem sollen Patienten mit Analog-Insulin ihre Therapie besser steuern können. Das IQWIG hatte in einem Gutachten 2006 allerdings bezweifelt, dass die teureren Analog-Insuline konventionellem Humaninsulin überlegen seien. Lantus ist mit 72 Millionen verordneten Tagesdosen in Deutschland das am häufigsten verordnete Analog-Insulin.

In der Zunft der Diabetologen rumort es schon länger. "Diskussionen darüber, dass Glargin womöglich das Krebswachstum stimulieren könnte, gibt es schon seit vielen Jahren", sagt Martin Reincke, Diabetologe und Chef der Inneren Medizin an der Universität München. "Ob die aktuellen Daten zu einer Neubewertung führen, muss sorgfältig geprüft werden." Vor Panikmache und Hysterie angesichts des Verdachts warnen aber alle Diabetes-Experten. "Man muss verhindern, dass alle Diabetiker, die sich Insulin spritzen, das Medikament jetzt absetzen", sagt Reincke. "Das wäre eine Katastrophe

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