Krebsforschung:Ein ewiges Leben

60 Jahre nach dem Tod von Henrietta Lacks forschen Wissenschaftler weltweit noch immer an Zellen aus ihrem Körper - die Familie ahnte davon lange nichts.

Katrin Blawat

Am 4. Oktober 1951 starb Henrietta Lacks an Krebs. Am selben Tag präsentierte George Gey im amerikanischen Fernsehen ein Gefäß mit roter Flüssigkeit. Darin, so verkündete der Forscher, befänden sich Körperzellen, die sich im Labor ewig teilten und weiterlebten.

"Wenn wir diese Zellen studieren, werden wir einen Weg finden, den Krebs komplett auszulöschen", sagte Gey in die Kamera. Die Zellen stammten aus dem Körper von Henrietta Lacks. Sie waren ohne ihr Wissen entnommen worden.

Noch heute leben und vermehren sich diese Zellen in Laboren auf der ganzen Welt - fast 60Jahre nach dem Tod der Frau. Es ist, als wäre ein Teil von Henrietta Lacks zu ewigem Leben verdammt.

30 Jahre lang hatte sich George Gey, Leiter des Labors für Gewebekulturen an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, vergeblich damit abgemüht, Zellen im Labor länger als ein paar Wochen am Leben zu halten.

Ein neues Zeitalter der Medizin

Dann erkrankte Henrietta Lacks mit 30 Jahren an Gebärmutterhalskrebs, und es begann ein neues Zeitalter der Medizin. Aus den Zellen der jungen Frau stellten Forscher die erste Linie menschlicher Zellen her, die sich außerhalb des Körpers unendlich vermehrt.

Impfstoffe, Medikamente und die moderne Gentechnik verdanken ihre Entwicklung der Forschung an den Zellen von Henrietta Lacks. Mehr als 60.000 wissenschaftliche Veröffentlichungen gibt es bis heute über Studien, die auf ihren Zellen basieren. In jedem medizinischen Labor wachsen sie, jeder Biologie-Student hat von ihnen gehört.

Von den Zellen - nicht aber von der jungen Frau, die gern tanzte und sich die Fingernägel lackierte. "Henrietta selbst ist so gut wie vergessen", schreibt Rebecca Skloot in ihrem kürzlich erschienenen Buch "The Immortal Life of Henrietta Lacks". (Die deutsche Erstausgabe "Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks" wird Ende September 2010 im Irisiana Verlag erscheinen.)

Jahrelang hat Skloot die Geschichte der Frau recherchiert, die einst die wertvollsten Zellen der Welt in ihrem Körper trug.

Acht Monate vor ihrem Tod betritt Henrietta Lacks das Johns-Hopkins-Krankenhaus. "Colored" steht über der Tür. Den Haupteingang darf sie nicht benutzen.

Sie ist eine Farbige, deren Vorfahren als Sklaven auf den Tabakfeldern in Virginia schufteten. Auch Henrietta wuchs inmitten von Tabakplantagen auf, wenige Jahre nur ging sie zur Schule. Die Welt voller Fachausdrücke und weißer Menschen in weißen Kitteln jenseits der Kliniktüren ist ihr fremd.

Ein Tumor wie ihn die Ärzte noch nie gesehen hatten

Doch seit mehreren Monaten fühlt die fünffache Mutter, dass in ihrem Unterleib etwas heranwächst, was da nicht hingehört. Der Gynäkologe bestätigt ihren Verdacht: ein Tumor, bösartig und von einem Typ, wie ihn auch die Ärzte im Johns Hopkins noch nie gesehen haben.

Henrietta erzählt niemanden von der Diagnose. Am nächsten Tag kommt sie wieder ins Krankenhaus, um sich unter Narkose radioaktive Kügelchen in die Gebärmutterhalswand einsetzen zu lassen, eine damals übliche Krebstherapie.

Was Henrietta nie erfahren wird: Die Ärzte setzen ihr nicht nur etwas ein, sondern schneiden auch ein kleines Stück des Tumors heraus. Richard Wessley TeLinde, Chef-Gynäkologe der Johns-Hopkins-Klinik, will zusammen mit George Gey neue Krebstherapien entwickeln, und dafür braucht er Forschungsmaterial.

Hätten die Ärzte ihrer Patientin sagen müssen, was sie mit den Zellen vorhatten? "Die Geschichte von Henrietta Lacks zeigt, vor welchen rechtlichen und ethischen Fragen die biomedizinische Forschung steht", sagt die Politologin Ingrid Schneider, die als Expertin für Recht und Technikfolgenabschätzung an der Universität Hamburg forscht.

Wo beginnt die Identität eines Menschen, wo endet sie? Wie viel einer Person steckt in jeder einzelnen ihrer Zellen?

Einwilligung des Patienten nicht erforderlich

Eindeutig geregelt ist in Deutschland zumindest dieser Punkt: "Ärzte haben die Pflicht, Patienten über jeden Eingriff aufzuklären", sagt Schneider. "Andernfalls handelt es sich um Körperverletzung."

Doch ob ein Patient auch informiert werden muss, dass eine von ihm stammende Zelllinie in der Forschung verwendet werden soll, darüber diskutieren Juristen.

Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer kam 2003 zu dem Schluss, dass unter bestimmten Umständen "eine individuelle Einwilligung nicht erforderlich" sei. "In den 1950er-Jahren hat man diese Frage noch gar nicht gestellt", sagt Schneider.

Als Henrietta Lacks aus der Narkose erwacht, sind ihre Zellen schon in Geys Labor. Seine Assistentin beschriftet die Proben: HeLa, für Henrietta Lacks. In den folgenden Monaten verbreiten sich die Hela-Zellen auf dem gesamten Globus.

Ihre Zellen leben in Laboren auf der ganzen Welt

"Obwohl Henrietta Lacks niemals weiter reiste als von Virginia nach Baltimore, leben und vermehren sich ihre Zellen in Laboren auf der ganzen Welt", schreibt Skloot.

Großzügig verschickt Gey das wertvolle Material an Kollegen. Nachschub gibt es genug, alle 24 Stunden verdoppeln sich die Zellen. Das Gewicht aller Hela-Zellen, die je existiert haben, beträgt nach Schätzungen mehr als 50 Millionen Tonnen.

In Henrietta Lacks Körper wuchern die Tumorzellen so rasant wie später in der Kulturschale. Als sie nach qualvollen Wochen stirbt, bestattet ihre Familie sie in einem anonymen Grab. Einen Grabstein kann sich die Familie der Frau, der die Forschung mehr verdankt als vielen Wissenschaftlern, nicht leisten.

Kurz nach Henrietta Lacks Tod beginnen Jahre medizinischer Pionierleistungen, die ohne Hela-Zellen unmöglich gewesen wären: der erste Impfstoff gegen Polio, erste Hybrid-Zellen aus Mensch und Maus, neue Medikamente wie das Brustkrebsmittel Herceptin. Mithilfe von Hela-Zellen entwickeln Forscher die Grundlagen der Gentherapie und Arzneien gegen Leukämie und Parkinson.

Allein in den letzten neun Jahren gab es fünf Nobelpreise für Erkenntnisse, für deren Gewinnung Wissenschaftler Hela-Zellen benutzten. "Die Hela-Zellen veranlassten Forscher, weitere Zelllinien zu entwickeln", sagt Hans Drexler.

"Die Hela-Zellen sind ein Dauerbrenner"

Er leitet die Abteilung für menschliche und tierische Zellen bei der Deutschen Sammlung für Mikroorganismen und Zelllinien in Braunschweig. 650 verschiedene Zelllinien, darunter auch Hela-Zellen, lagern dort. Weltweit gibt es Tausende solcher Zelllinien. "Aber die Hela-Zellen sind ein Dauerbrenner", sagt Drexler.

Dabei lösen sie Anfang der 1970er-Jahre einen Skandal unter Zellforschern aus, wie Michael Gold in seinem Buch "A Conspiracy of Cells" schreibt. Richard Nixon will als der US-Präsident in Erinnerung bleiben, der den Krebs besiegt hat. Und er will sich mit den Russen gutstellen.

Also schlagen amerikanische Forscher ihren Kollegen in der Sowjetunion vor, gemeinsam den "Krieg gegen den Krebs" aufzunehmen. Man tauscht Ergebnisse aus - und Tumorzellen.

Zellforscher fürchten um ihren Ruf

Bis der Fachmann Walter Nelson-Rees feststellt, dass es sich bei allen Proben, die angeblich von verschiedenen Patienten und Geweben stammen, um Hela-Zellen handelt. Nelson-Rees überprüft weitere Labore und erkennt: Auf der ganzen Welt haben Hela-Zellen andere Zelllinien verseucht. "Hela-Zellen breiten sich aus wie der Brei im Märchen", sagt Drexler. "Sie überwuchern alles."

Zellforscher auf der ganzen Welt fürchten um ihre Arbeit und ihren Ruf. Heftig wehren sie sich gegen Nelson-Rees Vorwürfe. "Mit heutigen Methoden ist es kein Problem, schnell die Identität einer Zelllinie zu bestimmen", sagt Drexler.

Mitte der 1970er-Jahre aber ist es noch aufwendig. Wenn sie Zellen anderer Mitglieder der Lacks-Familie hätten, überlegen die Forscher, könnten sie leichter bestimmen, ob tatsächlich Hela-Zellen in all den Laboren gewachsen sind.

Eine Krankenversicherung ist unerreichbarer Luxus

Henriettas Familie ist arm. David Lacks weiß oft nicht, wie er seine fünf Kinder durchbringen soll. Tochter Elsie stirbt mit 15 Jahren in einem Behindertenheim. Eine Krankenversicherung ist unerreichbarer Luxus. Was mit Henriettas Zellen geschehen ist, weiß niemand aus der Familie.

Zwar taucht Anfang der 1970er-Jahre in einigen Zeitungsberichten der Name Henrietta Lacks auf. Doch die Wissenschaftler behaupten, die Zellen stammten von einer Patientin namens Helen Lane oder Helen Larson.

Zellexperte Drexler kann das Verhalten seiner US-Kollegen zum Teil verstehen. "Wenn man mit Zellen arbeitet, denkt man nicht an den Menschen, von dem sie stammen", sagt er. Nur manchmal kämen ihm die Schicksale hinter seinen Untersuchungsobjekten in den Sinn.

Ähnlich ging es wohl auch den Johns-Hopkins-Forschern. 24 Jahre lang hatte sich niemand bei Henriettas Familie gemeldet. Erst als das monströse Wachstum der Hela-Zellen, bislang von allen Seiten umjubelt, zum Schmach für die Wissenschaft zu werden drohte, erinnerte man sich an sie.

Doch während die Forscher noch ihre Briefe aufsetzten, in denen sie Henriettas Angehörige um Blutproben baten, erfuhr die Familie zufällig auf anderem Weg von den weltberühmten Hela-Zellen. Während eines Essens bei Freunden lernte Henriettas Schwiegertochter Barbara einen jungen Wissenschaftler kennen, der selbst mit Hela-Zellen arbeitete. Als er Barbaras Nachnamen erfuhr, stutzte er. "Lacks? Sind sie verwandt mit Henrietta Lacks?"

Die Familie hatte Angst

David Lacks und seine Kinder verstanden nicht die ganze Geschichte, aber das, was sie verstanden, machte ihnen Angst. Lebte Henrietta etwa noch, eingesperrt im Labor? Tat es ihr weh, wenn die Forscher mit ihren Zellen arbeiteten?

Als kurz darauf die Briefe der Wissenschaftler eintrafen, verweigerten David und seine Kinder die Blutproben. Es kamen weitere Briefe. Mit ihren Tests könnten die Forscher erkennen, ob auch seine Kinder bald an Krebs sterben würden, las David Lacks dort. Keiner der Ärzte merkte, dass Henriettas Angehörige kaum einen Satz in den Briefen wirklich verstanden. Schließlich stimmten David und die Kinder den Untersuchungen zu.

In den folgenden Jahren versuchten sie immer wieder, mehr über die Hela-Zellen zu erfahren. Erfolglos. "Die Familie fühlt sich übergangen", schreibt Skloot. Zwar beteuert die Johns-Hopkins-Universität, sie habe die wertvollen Zellen nie verkauft.

Dennoch hätten im Lauf der Jahre viele Menschen mit der Forschung an Hela-Zellen Geld verdient, argumentiert Henriettas Tochter Deborah Lacks-Pullum. Doch finanzielle Ansprüche, die die Familie hätte geltend machen können, sind lange verjährt.

"In meinen Augen ist es heikel, wenn alle Beteiligten in der Verarbeitungskette von Zellen oder anderem Körpergewebe profitieren - außer der Patient, von dem das Material stammt", sagt Politologin Schneider.

In Deutschland können Patienten zwar vor der Behandlung einen Vertrag mit dem Arzt schließen und festlegen, welche Gewinnbeteiligung ihnen aus der Forschung an ihren Zellen zusteht. "In der Praxis kommt das aber so gut wie nie vor", sagt Schneider.

Die Lacks wollten nicht länger verzichten

Stattdessen lassen viele Kliniken ein Formular unterschreiben, mit dem der Patient alle Rechte an seinen entnommenen Zellen abtritt. Schneider hält diese Praxis für fragwürdig: "Der Patient verzichtet pauschal, ohne zu wissen, was mit seinen Körpermaterial passieren wird."

Die Lacks wollten nicht länger verzichten. Seit sie wussten, wie sehr die medizinische Forschung von Henriettas Zellen profitiert hatte, kämpften sie um Anerkennung. Sie redeten mit Journalisten von Zeitungen, die hauptsächlich von Schwarzen gelesen wurden.

Darin erschien Henriettas Schicksal als die Geschichte einer Farbigen, die Weiße zum Wohl der Menschheit opferten. 1996 gab der Bürgermeister der Stadt Atlanta, in der viele Afroamerikaner leben, dem Druck der Familie und von Bürgergruppen nach. Er erklärte den 1.Oktober jedes Jahres fortan zum "Henrietta-Lacks-Tag" in Gedenken an eine "Heldin der Wissenschaft".

Henriettas Ehemann half das nicht mehr. Als er 2002 mit 87 Jahren starb, hatte ihn das Gefühl, ausgenutzt worden zu sein, zu einem zurückgezogenen, verbitterten Mann gemacht.

Seine Tochter Deborah Lacks-Pullum kämpfte weiter für die Rechte der Familie. Ein Jahr vor dem Tod ihres Vaters lud ein Wissenschaftler der Johns-Hopkins-Universität die Familie in sein Labor ein. Deborah und einer ihrer Brüder fuhren hin. Deborah beugte sich über die Plastikgefäße mit Hela-Zellen und flüsterte: "Du bist berühmt, Mutter. Es weiß nur niemand."

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