Kosmologie:"Der Urknall war nicht der Anfang"

Lesezeit: 5 min

Der Physiker Martin Bojowald hat in die Zeit vor dem Urknall geblickt - mit Hilfe der Mathematik.

C. Schrader, D. Schöneberg

Der Deutsche Martin Bojowald gilt trotz seines Alters von nur 36 Jahren als einer der wichtigsten Theoretischen Physiker. Mit seiner Theorie der Quantenschleifen-Gravitation versucht er die Quantenmechanik mit der Allgemeinen Relativitätstheorie von Albert Einstein zu verknüpfen. Bojowald hat als Erster mit mathematischen Methoden die Anfangsphase des heutigen Universums durchleuchtet und gezeigt, dass es schon vor dem Urknall ein Universum gegeben haben muss. Bojowald arbeitet an der Pennsylvania State University.

Martin Bojowald forscht an der Pennsylvania State University in den USA. (Foto: Foto: Silke Weinsheimer)

SZ: Sie haben in die Zeit vor dem Urknall geblickt. Was haben Sie gesehen?

Bojowald: Wir können jetzt zum ersten Mal mathematische Gleichungen befragen, um zu erfahren, was vor dem Urknall gewesen sein könnte. Wir sehen zumindest, dass es auch vorher ein Universum gab und dass es schrumpfte. Es zog sich auf engsten Raum zusammen, kam dann in eine heiße und dichte Phase, bis die Raumzeit wieder anfing zu wachsen. Das Entscheidende ist, dass man überhaupt Gleichungen benutzen kann, um etwas vor dem Urknall auszurechnen. In der Allgemeinen Relativitätstheorie funktionierte das bislang überhaupt nicht. Wenn wir dort rückwärts durch die Zeit blickten, schrumpfte das Universum am Zeitpunkt Null zu einem einzelnen Punkt. Mathematisch gesprochen nennt man das eine Singularität. Hier brachen die Gleichungen zusammen, und die Physik ergab keinen Sinn mehr.

SZ: Es gab also gar keinen Urknall?

Bojowald: Der Urknall war zumindest nicht der Anfang des Universums, es existierte davor schon etwas. Im Übergang vom "Davor" zum "Jetzt" gab es eine Phase, in der die Materie stark konzentriert war. Die Eigenschaften dieser Phase kann man noch am Aufbau des Universums, an der Hintergrundstrahlung, den Sternen und Galaxien ablesen. Das Universum war aber nie in einem Punkt mit - physikalisch sinnloser - unendlich hoher Dichte konzentriert, wie die konventionelle Vorstellung vom Urknall besagt.

SZ: Das heißt, wer vom Urknall spricht, hat eine mathematische Fiktion als physikalische Realität fehlgedeutet?

Bojowald: Wenn man den Urknall als den Anfang des Universums ansieht, dann ist es eine Fehldeutung.

SZ: Was setzen Sie an die Stelle des schönen Bildes vom Urknall?

Bojowald: Die Theorie der Quantenschleifen-Gravitation, die wir schon seit einiger Zeit entwickeln, versucht die Allgemeine Relativitätstheorie mit Eigenschaften der Quantentheorie zu kombinieren. Dabei ist die Raumzeit nicht mehr eine gleichmäßige, lückenlose Folie, sondern sie ist quantisiert, sie hat auf sehr kleinen Längenskalen eine gestückelte Struktur. Raum und Zeit bestehen also aus winzigen Bausteinen, sozusagen aus Raumzeit-Atomen. Deren Größe ist weit geringer als alles, was mit modernen Teilchenbeschleunigern untersucht werden kann. Diese Gitterstruktur spielte in der Phase eine entscheidende Rolle, als das gesamte Universum selbst extrem klein und dicht war, wie es während des Urknalls gewesen sein muss. Die Gitterstruktur bewirkt, dass die Raumzeit nicht beliebig schrumpfen kann. Wenn es eng wird, wirkt die Gravitation nicht mehr nur anziehend, sondern kann auch abstoßend wirken. So können wir die mathematische Schwierigkeit eines unendlich dichten Universums vermeiden.

SZ: Inwieweit kann man Ihre mathematische Lösung als physikalische Realität betrachten?

Bojowald: Das neue Bild aus der Quantenschleifen-Gravitation ist auf jeden Fall besser als die Singularität des Urknalls, weil alle Größen, die man ausrechnen kann, endlich sind und physikalisch sinnvoll. Trotzdem ist Ihre Frage berechtigt. Es ist alles nur Mathematik, und wir versuchen das zu interpretieren und auf das Universum anzuwenden. Ob das wirkliche Universum und die Natur dem entsprechen, ist eine andere Frage. Theorien können immer falsch sein.

SZ: Wie könnte man Ihre Theorie experimentell beweisen?

Bojowald: Wir möchten in Aufnahmen vom frühen Universum indirekte Hinweise auf die Quantelung der Raumzeit suchen. Wir versuchen darum schon seit einiger Zeit auszurechnen, was sich in den Satelliten-Bildern zeigen müsste, wenn es dieses feine Raster im Universum gibt. Im Alltag würden wir davon wenig merken, es hat ja auch sehr lange gedauert, bis Physiker nachgewiesen haben, dass die Materie aus Atomen besteht.

SZ: Gibt es einen konkreten Nutzen Ihrer Forschung für die Menschheit?

Martin Bojowalds Theorien zufolge könnten Galaxien wie der Andromeda-Nebel nur Zwischenprodukte eines pulsierenden Universums sein. In diesem Fall wäre auch der Urknall nicht der Anfang von allem. (Foto: Foto: dpa)

Bojowald: Direkte Versprechungen sollte man nicht machen. Aber all das, was in modernen CD-Spielern und GPS-Empfängern eine entscheidende Rolle spielt, gäbe es ohne die Quantentheorie und die Allgemeine Relativitätstheorie nicht. Dabei wurden diese Theorien zunächst nur erdacht, um die Welt besser zu verstehen. Nach mehreren Jahrzehnten haben sich dann technische Anwendungen ergeben. Man kann so etwas natürlich nie voraussehen oder planen, aber man kann auch nicht ausschließen, dass sich aus der Physik auch in Zukunft etwas Entscheidendes ergeben wird.

SZ: Manche Kritiker sagen, die moderne Physik entwickle sich zu einer Art Esoterik. Für Experimente braucht man gigantische Teilchenbeschleuniger oder Satelliten. Und die liefern dann oft Daten, die Theoretiker zwingen, von vorne anzufangen. Wie realitätsnah ist das noch?

Bojowald: Es gibt durchaus konkrete Bereiche in der Physik, etwa die Festkörperphysik, die sehr erfolgreich ist, und die Astrophysik, da ist noch alles überschaubar. Und auch in den anderen Teildisziplinen tut sich viel: Was wir in der Kosmologie aus Messungen über die Struktur des Universums gelernt haben, wäre vor zehn Jahren unvorstellbar gewesen. Aber natürlich ist die Arbeit in der Teilchenphysik und in manchen Bereichen der Kosmologie kompliziert. Da sind sehr große Gruppen von Experimentatoren beteiligt. Die Versuche können auch nicht unbedingt wiederholt werden, weil es manchmal nur eine genügend große Anlage gibt. Die Forschung dringt zu immer kleineren Längenskalen und größeren Energien vor und entfernt sich dabei von den Größenordnungen, die kleine Forschergruppen stemmen können. Das liegt in der Natur der Sache.

SZ: Ist das auch ein Grund dafür, dass die Physik ihren im 20. Jahrhundert erlangten Status als Leitwissenschaft heute an die Biologie verloren hat?

Bojowald: Das hat nicht so sehr mit den Möglichkeiten und Einstellungen der Physiker zu tun, sondern ist ein Resultat des Erfolgs der Biologen. Vor allem in der Biotechnik und der Molekularbiologie gab es viele neue Methoden. Damit konnte man neue Fragen detailliert beantworten, und plötzlich waren kommerziell interessante Anwendungen möglich. So kann es zur Dominanz kommen. Die Dinge ändern sich, die Interessenlagen ändern sich. Außerdem haben sich in der Biologie neue Berufsfelder in der Industrie eröffnet. Das führt natürlich zu einem größerer Bedarf an Studenten.

SZ: Was bedeutet es für ein Gebiet wie Ihres, dass nur noch wenige Spezialisten die Theorien überhaupt verstehen?

Bojowald: Es sind ja auch in einem kleinen Feld wie meinem immerhin noch rund 100 Leute, die die Details verstehen und überprüfen könnten. Das ist ein gute Zahl - da braucht man sich keine Sorgen zu machen.

SZ: Hat der Verstand der meisten Menschen deshalb Probleme mit der Relativitätstheorie oder Quantentheorie, weil sie erst in Größenordnungen ihre Kraft entfalten, die unserer Wahrnehmung unzugänglich sind?

Bojowald: Wenn ein Physiker ausgebildet wird, hat er ja zunächst einmal die gleichen Probleme. Die Sinne genügen nicht mehr, darum werden die Phänomene mathematisch erschlossen. Irgendwann gewöhnt man sich an die komplizierten und unanschaulichen Sachverhalte - so ähnlich wie man sich ja auch keine Gedanken mehr darüber macht, wie man sieht. Auf ähnliche Weise muss es auch für Nicht-Physiker geschehen. Je mehr Darstellungen von unterschiedlichen Blickwinkeln es gibt, die allgemein verständlich sind, umso mehr sollte sich auch die Allgemeinheit daran gewöhnen.

SZ: In Ihrem Buch sagen sie, Physiker könnten eigentlich erst dann behaupten, etwas verstanden zu haben, wenn sie es auch jemandem erklären können, der nicht Physik studiert hat. Können sie diesem Anspruch gerecht werden?

Bojowald: Ich habe es mit dem Buch versucht. Die meisten Wissenschaftler zögern, wenn es darum geht, die eigenen Resultate möglichst allgemein verständlich darzustellen. Je mehr Forscher das nicht nur den Presseabteilungen überlassen, sondern selbst diesen Weg gehen, desto besser. Unterschiedliche Perspektiven helfen immer.

SZ: Sie sind jetzt so weit, dass Sie über den Urknall hinaus rechnen können. Gibt es noch Grenzen der Erkenntnis?

Bojowald: Was war denn nun wirklich der Anfang des Universums? Das ist, denke ich, eine Frage, die man in der Kosmologie nicht wird beantworten können. Es war nicht der Urknall, aber dadurch verschieben wir den Anfang sozusagen zurück. Wann und wie er war, das ist derzeit nicht absehbar - vielleicht noch nicht einmal vorstellbar.

Von Bojowald ist soeben das Buch "Zurück vor den Urknall" erschienen. (Verlag S. Fischer, 343 Seiten, 19,95 Euro).

© SZ vom 11.04.2009/beu - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: