Konfliktforschung:Die Physik des Krieges

Naturwissenschaftler sind den Grundgesetzen gewaltsamer Konflikte auf der Spur. Demnach scheinen Aufstände oder Terrorakte mathematischen Gesetzen zu folgen. Lassen sich Bürgerkriege bald vorhersagen?

Hubertus Breuer

"Fünf Tote, vier Tote, drei Tote, zwei Tote, 20 Tote ..." Als Neil Johnson Ende der 1990er Jahre Verwandte seiner Frau in Kolumbien besuchte, herrschte Bürgerkrieg - zwischen Guerillas, dem Militär, Drogenbanden und Paramilitärs.

File photo shows fighters from the Minni Minawi faction of the Sudanese Liberation Army in a military exercise at Galap camp, north of Darfur

Rebellen in Darfur: Mit Computermodellen versuchen Forscher zu entschlüsseln, was den Ausbruch von Kämpfen wie in der sudanesischen Provinz begünstigt.

(Foto: Reuters)

Im Radio hörte der Physiker der Universität Miami täglich die Zahl neuer Todesopfer. "Es waren scheinbar bedeutungslose Zahlenreihen", sagt er. "Aber so tragisch es war, es erinnerte mich an eines meiner Forschungsprojekte - an das tägliche Auf und Ab der Finanzmärkte."

Individuen wie Moleküle in einem Gas

Johnson studierte ein Muster in den Aktienindizes, das sich aus Entscheidungen ungezählter Börsenmakler ergab. "Es ist ein mathematisches Gesetz", sagt Johnson. "Da fragte ich mich, ob sich bei den Opferzahlen ähnliche Muster finden ließen." Er wurde fündig - zuerst bei den Aufständen in Kolumbien, dann auch im Irak, in Peru, in Sierra Leone, im Senegal, zuletzt in Afghanistan. "All diese Aufstände - in unterschiedlichem Terrain, in verschiedenen Kulturen - präsentierten das gleiche Bild, das einer Mathematik des Krieges."

Physiker, Mathematiker und Computerexperten gehen neuerdings vermehrt einem ungewohnten Feld nach - den Sozialwissenschaften. Um das Räderwerk der Gesellschaft zu erklären, betrachten sie Individuen - wie Moleküle in einem Gas - als soziale Atome, deren Verhalten sich aus dem Zusammenspiel mit anderen Teilchen erklären lässt. Die junge Disziplin nennt sich Sozialphysik.

Ausgestattet mit dem Instrumentarium der Naturwissenschaften studieren diese Forscher die Entstehung sozialer Normen, das Steuersystem im Mittelalter oder wie sich die Bevölkerung vor Epidemien schützen lässt. Johnson und seine Kollegen hoffen zudem, die Universalformel für Kriege, Aufstände und Terrorismus zu finden. Das weckt Interesse: Das Pentagon hat in den neuen Zweig der Konfliktforschung investiert - in der Hoffnung, die Erkenntnisse eines Tages an Kriegsschauplätzen umzusetzen. Die EU fördert das Gebiet auch.

Johnson hatte bei seiner Analyse der Aufstände ein Potenzgesetz entdeckt: Angriffe mit vielen Opfern stehen in einem Zahlenverhältnis zu jenen mit wenigen Opfern. Erstmals hat eine solche Regel 1930 der Harvard-Sprachwissenschaftler George Zipf aufgestellt.

Er analysierte die Häufigkeit von Wörtern in der englischen Sprache. Das häufigste Wort, erkannte er, würde doppelt so oft wie das zweithäufigste auftauchen und dreimal so oft wie das dritthäufigste. Ähnliche Verteilungen haben Sozialphysiker vielerorts gefunden: zwischen Reichen und Armen, langen und kurzen Verkehrsstaus oder Buchbestsellern und Ladenhütern. "Potenzgesetze finden sich in allen Lebensbereichen", sagt Johnson. Und eben auch bei sozialen Konflikten.

Mächte und Minderheiten

1948 publizierte der britische Mathematiker Lewis Fry Richardson einen verblüffenden Zusammenhang zwischen der Häufigkeit und den Opferzahlen von Kriegen. Neil Johnsons Analyse der Aufstände beeindruckte das Fachjournal Nature im Dezember 2009 nun genug, um sie auf den Titel zu heben. Schließlich hat der Komplexitätsforscher Aaron Clauset inzwischen bestätigt, dass sich dieses Muster auch bei Terroranschlägen seit 1968 weltweit findet.

Totenschädel in einer der Völkermord-Gedenkstätten Ruandas

Totenschädel in einer der Völkermord-Gedenkstätten Ruandas. Je mehr Menschen in einem Staat keine Macht haben, umso mehr steigt das Risiko eines Aufstands. Das macht sich besonders bemerkbar, wenn eine Minderheit die Macht innehat - wie in Ruanda unter der von Tutsis dominierten Regierung.

(Foto: Reuters)

Es geht aber nicht nur um Potenzgesetze. Lars-Erik Cederman, Physiker und Politologe von der ETH Zürich, hat mit Andreas Wimmer von der University of California in Los Angeles das Bürgerkriegsrisiko in 155 Ländern von 1946 bis 2005 untersucht. Lange schon sind Unterschiede im Pro-Kopf-Einkommen als wichtiger Faktor für Unruhen bekannt. Aber auch die Annahme, Vielvölkerstaaten seien für Unruhen besonders anfällig, war weitverbreitet.

Doch das stimmt nicht ganz, wie die 2009 publizierte Studie feststellt. Es hängt vielmehr davon ab, ob die ethnischen Minderheiten an politischen Entscheidungen beteiligt werden. Für jede zehn Prozent der Bevölkerung, die keine Macht im Staat haben, steige das Risiko eines Aufstands um den Faktor 1,12.

Das macht sich besonders bemerkbar, wenn eine Minderheit die Macht innehat - wie im Irak unter Saddam Hussein oder in Ruanda unter der von Tutsis dominierten Regierung. "Allerdings sprechen wir nur von Wahrscheinlichkeiten", spielt Cederman das Ergebnis herunter. So ist Syrien trotz der Macht der Alawiten, einer kleinen Religionsgemeinschaft, der auch Präsident Baschar al-Assad angehört, seit 1982 politisch relativ stabil.

Vor allen Dingen beschäftigt Sozialphysiker die Frage, wie es aus dem Zusammenspiel etlicher Akteure zu solchen Mustern kommt. Wie ist es möglich, dass Aufstände oder Terrorakte einem mathematischen Gesetz folgen? Warum ist das Risiko für Bürgerkrieg in einem Land abhängig von Einkommen und Machtverteilung, aber nicht von Bodenschätzen, Einwohnerzahl oder demokratischen Strukturen?

Um das zu beantworten, nutzen Forscher wie Johnson oder Cederman Computermodelle: Aus den Wechselwirkungen vieler virtueller Agenten sollen sich die Gesetzmäßigkeiten ganzer Gesellschaften erklären.

Der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Schelling konnte in den 1970er Jahren auf diese Weise darlegen, wie es in den USA in Städten zur Trennung nach der Hautfarbe kommt.

Die Menschen müssen dazu keine Rassisten sein. Wie er mit Hilfe eines Schachbrettmodells begründete, reicht schon die Neigung, in einem Viertel nicht als deutliche Minderheit leben zu wollen, um binnen kurzer Zeit soziale Gruppen nach ihrem ethnischen Hintergrund aufzuteilen. "Wonach wir suchen, sind solche Kausalmechanismen, die erklären, wie eine Gesellschaft tickt", sagt Johnson.

Um das Verhaltensmuster bei Aufständen aufzuschlüsseln, behalf sich Johnson mit einer räumlichen Simulation. Sie ging von zersplitterten Zellen von Aufständischen aus, die gelegentlich kommunizieren, sich mitunter vereinen und wieder trennen. Die Folge sind meist kleinere Gefechte, die von größeren Anschlägen unterbrochen werden.

Dabei fiel allerdings auf, dass - wie in der Wirklichkeit - sich Angriffe oft an bestimmten Tagen häuften. Die steuernde Kraft sind die Informationen, die Aufständische erhalten - über feindliche Truppen, ihre Medienpräsenz oder das Wetter. Eine günstige Gelegenheit erkennen mehrere Gruppen deshalb oft gleichzeitig.

Außerdem orientieren sie sich aneinander - nicht viel anders als zum Herdentrieb neigende Aktienhändler. Nachdem Johnson sein Modell mehrfach durchspielte, reproduzierte es das Potenzgesetz der Aufstände in sieben Ländern fast perfekt.

"Fast alle sozialen Phänomene werden sich in Zukunft simulieren lassen"

Cederman hat 2008 ein Computermodell für Bürgerkriege in Ländern mit mehreren Volksgruppen publiziert. In ihm bildet er die Dynamik der Staatenbildung, der Spannungen zwischen Peripherie und Machtzentrum, kultureller und nationaler Identität nach. Er konnte zeigen, dass aufbegehrende Randgruppen oft aus Bergregionen stammen - die lokale Identität in Bergregionen ist viel stärker ausgeprägt.

"Das war nur ein extrem vereinfachtes Modell, um die Methode zu veranschaulichen. Heute können wir differenziertere Simulationen erarbeiten. Fast alle sozialen Phänomene werden sich in Zukunft simulieren lassen."

Auf die Frage, wie belastbar die Erkenntnisse der Sozialphysik für Krieg und Terror bislang sind, zögert Cederman indes: "Ich würde als Militär aufgrund solcher Modelle noch keine Entscheidungen treffen." Der Physiker Ed MacKerrow, der am Los Alamos National Laboratory in New Mexico den Opiumhandel in einem Tal in Afghanistan simuliert, pflichtet Cederman bei: "Der Apfel, der Newton einst seinen Geistesblitz verschaffte, ist in der Sozialphysik noch nicht gefallen."

Doch ist das notwendig? Eine Mechanik der Gesellschaft, die uns wie Kugeln auf einer schiefen Ebene durchs Leben kullern sieht? Der Komplexitätswissenschaftler und Konfliktforscher Jürgen Scheffran von der Universität Hamburg untersucht mit Computermodellen, in welchem Maße die Erderwärmung Konflikte in den Krisenregionen Nordafrikas verschärft.

"Eine physikalische Exaktheit wird man kaum erreichen. Aber es wäre viel gewonnen, wenn solche Modelle soziale Prozesse erhellen. Das könnte in Handlungsanleitungen einfließen, um gewaltsame Konflikte in Zukunft zu vermeiden."

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