Kolibris:Paradieshelikopter mit verborgenen Talenten

Flug von Kolibris im Regen

Kolibris können selbst bei schweren Regengüssen vor Blüten in der Luft stehen und behalten ihre volle Flugkontrolle.

(Foto: dpa)

Seit Jahrhunderten sind Menschen von Kolibris fasziniert. Einst zierten die Vögel ausgestopft die Salons englischer Adeliger - heute inspirieren sie Drohnen-Entwickler.

Von Bernd Brunner

Der größte Kolibri der Erde ist knapp 100 Meter lang. Es handelt sich um eine riesige Erdzeichnung in der Nazca-Wüste im Süden Perus. Indem die namenlosen Künstler Boden entfernten und hellere Schichten freilegten, schufen sie dort die stilisierten Umrisse des Vogels. Was das fast 3000 Jahre alte Kunstwerk aussagt? Vielleicht symbolisiert es Fruchtbarkeit, vielleicht bedeutet der Kolibri etwas anderes. Sicher ist nur, dass die Menschen schon vor vielen Jahrhunderten von den winzigen Vögeln fasziniert waren, die ihre Flügel mit gigantisch hoher Frequenz schlagen und wie winzige Helikopter in der Luft stehen können. Die Faszination für die Vögel griff später auf die europäischen Eroberer Südamerikas über und hält bis heute Wissenschaftler weltweit in Atem. Und noch immer sind nicht alle Geheimnisse des Lebens der Kolibris gelüftet.

Die Vogelzwerge gaben den Europäern zunächst Rätsel auf: ein Insekt? Ein Vogel? Die Franzosen nannten ihn oiseau mouche (Fliegenvogel), die Portugiesen beija flor (Blumenküsser) oder chupa flor (Blumensauger), die Spanier pica flor (Blumenstecher), die Engländer erst hum-bird, später dann hummingbird. Das Wort Kolibri ist vermutlich karibischen Ursprungs. Carl von Linné, der von den heute rund 340 identifizierten Arten 18 kannte, verordnete ihm 1758 den Namen Trochilus nach einer Figur der griechischen Mythologie.

Staubfänger in viktorianischen Salons

Die erste Erwähnung der Vögel findet sich bei Jean de Léry, einem nach Brasilien entsandten Seemann. In seinem Bericht von 1557 schreibt er über einen Vogel, dessen Körper "nicht größer als der einer Hornisse oder eines Hirschkäfers" sei - "ein einzigartiges Wunder und Kunstwerk der Kleinheit". Eine ungewöhnliche Szene zeigte Maria Sibylla Merian, die 1699 die holländische Kolonie Surinam bereiste und eine rosa Zehenvogelspinne malte, die einen Kolibri in ihren Fängen hat. Ungewöhnlich deswegen, weil Kolibris außer dem Menschen keine Feinde haben. Als Akrobat der Luft kann er, wenn eine Gefahr droht, schnell Reißaus nehmen. Zugleich sind Kolibris auf eine Weise furchtlos, die viele Beobachter verblüfft hat: "Siehe, wie er durch die Luft saust wie ein Gedanke! - jetzt ist er nicht einmal einen Meter von deinem Gesicht entfernt! - und kurz darauf schon wieder weg", so der englische Naturkundler Charles Waterton nach seiner Amerikareise im 19. Jahrhundert.

Kolibris zählten zu den Kostbarkeiten der naturkundlichen Sammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Vielerorts streiften Jäger durch den Dschungel, um die Tiere zu fangen und präpariert an Naturkundemuseen zu verkaufen. Ein englischer Händler soll in einem Jahr des frühen 19. Jahrhunderts allein 400 000 Stück von den Antillen importiert haben. In den viktorianischen Salons endeten sie als künstliche Blumen oder Staubfänger.

Der regelrecht in Kolibris vernarrte Publizist John Gould verewigte sie in einer sechsbändigen Monographie, dessen erster Band 1849 erschien, obwohl er das erste lebende Exemplar erst 1857 in Philadelphia sehen konnte. Nicht weniger als 5000 Bälge soll er in seinem Bestand gehabt haben. Bei der Rückkehr nach Europa führte er zwei Exemplare in einem kleinen Käfig mit. Die armen Wesen gingen jedoch schon zwei Tage nach der Ankunft ein. Auf dem Gelände des Londoner Zoos ließ er einen Pavillon errichten, in dem er 1500 Kolibrimumien von mehr als 300 Arten in achteckigen Glaskästen zeigte. Gould war der berühmteste Vogelsammler seiner Zeit, er war "The Bird Man".

Derart erstarrt wie in dieser Ausstellung sind Kolibris lebend und in der Natur nicht zu beobachten. Die Tiere sind nahezu jederzeit in Bewegung. Mehr als alle anderen Vögel haben sie sich von den Fesseln der Erde befreit - nicht einmal gehen können sie. Lange wurde die Anziehung zwischen Kolibris und Blüten als "Liebe" beschrieben, weil man weder einen Begriff von der engen symbiotischen Beziehung noch von der Koevolution von Vogel und Pflanze hatte. Mehrere Vogelfamilien sind auf Blüten eingestellt, aber während die Mehrzahl eine Sitzgelegenheit benötigt, stehen die meisten Kolibris davor in der Luft.

"Manchmal krallen sie sich auch mit ihren Füßen am Blattwerk fest und halten sich flügelschlagend vor den Blüten, an denen sie Nektar sammeln", beobachtete einst der Naturforscher Philipp Henry Gosse. Und bestäuben dabei die Blüten, sollte man hinzufügen. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts war die Nektaraufnahme bekannt, und wenig später hatte man beobachtet, dass sie Insekten vertilgen. Es sollte jedoch lange dauern, bis das Wissen darüber Allgemeingut wurde, widersprach es doch der romantischen Vorstellung, Kolibris würden sich nur von Tau, Luft und Liebe ernähren.

Der Flügelschlag des Kolibris inspieriert Techniker bis heute

Alfred Brehm beklagte, weder Stift noch Pinsel könnten helfen, den "fliegenden Edelstein" abzubilden. Wie versteht man ein Lebewesen, dessen Bewegungen mit den gegebenen Sinnen nicht zu erfassen sind? Konnte man Ende des 19. Jahrhunderts den Flug "normaler" Vögel fotografisch in seine Bewegungsabschnitte zerlegen, erforderte die Frequenz hier - je nach Art 12 bis 80 Flügelschläge pro Sekunde - ein anderes Vorgehen. Der MIT-Forscher Harold Edgerton, der das legendäre Foto vom Aufprall eines Tropfens in einer milchgefüllten Schale schießen sollte, kombinierte 1928 ein Stroboskop mit einer Kamera und filmte Kolibris im Garten eines Bekannten. Er konnte 540 Bilder pro Sekunde aufnehmen. Edgerton verstand den Schwebeflug nun besser und zeigte, dass Kolibris rückwärts fliegen können - was viele Vogelkundler bezweifelt hatten.

Interessant sind auch die besonderen Töne. Wie große Insekten - zum Beispiel das verblüffend ähnliche Taubenschwänzchen - erzeugt der Kolibri ein mehr oder weniger dumpfes oder hohes Brummen. Die einen beschrieben es als das Sausen eines Wirbelwinds, andere als Surren eines maschinell gedrehten Rades. Der Naturforscher Philipp Henry Gosse sah sie als Zwergelfen, die sich "wie Bienen" zusammenrotteten und die Luft mit ihrem Brummen "wie in der Umgebung eines Bienenstocks" erfüllten. Gesang hatte der Naturkundler nur beim Zwergkolibri vernehmen können: "ein zwar schwaches, aber höchst angenehm klingendes Liedchen".

"Sie folgten der Wellenbewegung des Meeres"

Die größte Artenvielfalt gibt es rund um den Äquator, doch sind Kolibris als Zugvögel auch in Alaska und Kanada zu Hause. So fliegt der Rubinkehlkolibri nach Mittelamerika und haushaltet so sparsam mit seiner Energie, dass er den Tausendkilometerflug über den Golf von Mexiko bewältigen kann. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verfolgten Forscher die Reise. Ein gewisser Dr. Jones schrieb 1905, nachdem er sie an der kanadischen Küste beobachtet hatte: "Die Kolibris zogen während des ganzen Tages vorbei, und alle flogen sehr tief. Sie folgten der Wellenbewegung des Meeres und tauchten in die Wellentäler, um sich vor dem Seitenwind zu schützen, der sie zu behindern schien."

Seitdem hat sich das Kolibri-Wissen weiter verfeinert. Heute weiß man, dass sie eine ähnliche ökologische Nische besetzen wie die Nektarvögel Afrikas und die Honigfresser Australiens. Da die Knochen so zerbrechlich sind, hat niemand damit gerechnet, Überreste zu finden, doch vor zehn Jahren konnte Gerald Mayr vom Forschungsinstitut Senckenberg mit einer Sensation aufwarten. In einer Tongrube in der Nähe des baden-württembergischen Wissloch war ein fossiler Kolibri aus der Tertiärzeit gefunden worden. Der 30 Millionen Jahre alte Vogel bekam den Namen Eurotrochilus inexpectatus: "unerwarteter europäischer Kolibri".

Es heißt, Engelhart Zaschka habe sich bei der Erfindung des Hubschraubers von Kolibri und Libelle inspirieren lassen. Und selbst die Entwickler moderner Technik können sich an den Mini-Vögeln nicht satt sehen. Der "Nano Hummingbird", eine Drohne mit Roboterflügeln, vom Pentagon in Auftrag gegeben, verdankt sich dem lebenden Vorbild. Sie ist mit ihren 16 Zentimeter Länge gar nicht so winzig, dennoch kleiner als die 25 Zentimeter lange Schwarzschwanz-Lesbia, deren Schwanz allerdings 14 Zentimeter misst.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: