Süddeutsche Zeitung

Klimawandel:"Perverse Subventionen"

Ungewohnt deutlich fordern die nationalen Wissenschaftsakademien Europas eine radikalere Umweltpolitik. Herumdoktern am Status quo reiche nicht mehr.

Von Julian Rodemann

Die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften ist hierzulande vor allem deshalb bekannt, weil sie die Nobelpreise vergibt. Wenn Vertreter der Akademie - wie vor wenigen Wochen - die Preisträgerinnen und Preisträger bekannt geben, schwingen sie begeisterte Lobeshymnen auf deren Forschung, die Stimmung ist meist unbeschwert bis ausgelassen. Doch die Akademie kann auch anders. Gemeinsam mit den anderen nationalen Wissenschaftsakademien der EU, darunter auch die deutsche Leopoldina, und der britischen Royal Society sowie den Akademien Norwegens und der Schweiz, ruft sie in einem neuen Bericht zu einer entschlosseneren Umwelt- und Klimapolitik sowie einem "transformativen Wandel" hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft auf - und kritisiert Politik und Wirtschaft mit überraschend deutlichen Worten für ihr unzureichendes Handeln.

"Entscheidungsträger scheinen eher auf ihre eigenen Interessen als auf die Wissenschaft zu hören", sagt Anders Wijkman von der Königlich Schwedischen Akademie mit Blick auf den Klimawandel. Die Botschaft der Wissenschaft sei seit den 1970er-Jahren klar, aber bisher ignoriert worden. "Die bislang erreichten Emissionsreduktionen reichen bei Weitem nicht aus."

In ihrem gemeinsamen Beratungsgremium, dem European Academies' Science Advisory Council (Easac), haben Vertreter der europäischen Wissenschaftsakademien den neuen Bericht verfasst, der am Donnerstagabend erscheint und der SZ vorab vorliegt. Die Wissenschaftler fordern darin einen "Paradigmenwechsel" hin zu einer nachhaltigen europäischen Wirtschaft. Um den Klimawandel, den Rückgang der Biodiversität und Ressourcenverschwendung zu bekämpfen, sei es unvermeidlich, die "Treiber der unnachhaltigen Produktionsmuster in der Energie-, der Bau- und der Mobilitätsbranche sowie in der Landwirtschaft zu adressieren", heißt es in dem Easac-Bericht.

Technologie allein wird den Klimawandel nicht aufhalten, die Politik muss vorangehen

Trotz diplomatischer Verklausulierung wird klar, wer gemeint ist: Große Unternehmen aus der alten, fossilen Wirtschaft stehen dem ökologischen Wandel im Weg, den die Akademien fordern. Die Politik dürfe deren Widerstände gegen eine wirksame Klima- und Umweltpolitik nicht unterschätzen. Wichtig für Europa sei, bis 2050 die Netto-Treibhausgasemissionen auf null zu drücken und die Ziele der EU-Biodiversitätsstrategie 2030 zu erreichen, darunter die Schaffung von Naturschutzzonen auf 30 Prozent der Land- und Meeresfläche. Außerdem sollte das Bruttoinlandsprodukt durch ein Maß ersetzt werden, das mehr Natur und weniger Wirtschaft widerspiegelt. Die europäischen Regierungen sollten zudem die "perversen Subventionen" fossiler Energien endlich beenden. Seit Beginn der Pandemie sei in den G-20-Staaten fast doppelt so viel Geld aus den Corona-Rettungsfonds in fossile wie in erneuerbare Energien geflossen, schreiben die Autoren und stützen sich dabei auf Berechnungen des Energy Policy Tracker, den unter anderen die Columbia University betreibt.

Bei der Diskussion um die Klimapolitik wird immer wieder auf technologische Lösungen der Klimakrise verwiesen. Erst vor Kurzem sagte etwa Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) im Spiegel, er setze beim Klimawandel "auf die Genialität unserer Ingenieure". Der Easac-Bericht stützt diese Perspektive nicht. Die Wissenschaft könne zwar helfen, den Klimawandel abzubremsen, etwa durch Forschung im Bereich negativer Emissionstechnik, mit der Kohlendioxid aus der Atmosphäre zurückgeholt werden kann. Das reiche aber nicht. "Die Politik muss vorangehen, weil grundlegende Reformen unserer ökonomischen Paradigmen involviert sind", schreiben die Autoren.

Eine "Tyrannei des Jetzt" verhindere eine nachhaltigere Wirtschaft

Grundsätzliche Debatten scheuen die Easac-Mitglieder nicht. "Wir müssen fragen, ob es für die Sicherung unserer Zukunft auf dem Planeten reicht, wenn wir den Status quo nur anpassen", sagt Michael Norton, Chemiker und Easac-Direktor. Im Bericht ist die Rede von einer laufenden Diskussion über eine "systemweite Neuorganisation in allen technologischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereichen". Auch wenn die Wissenschaftler ihn im Dokument nicht fordern - das klingt schon sehr nach Systemwechsel.

In einer Videobotschaft zum Bericht wird Norton emotional und erzählt, wie er vor mehr als 50 Jahren dachte, die ersten Bilder der Erde aus dem Weltraum würden der Menschheit dauerhaft klarmachen, dass sie auf einem endlichen Planeten lebe. Die Hoffnung sei enttäuscht worden. "Kurzfristiges Denken verdrängt diesen Blick aufs große Ganze", sagt Norton. Sein Kollege Wijkman von der Schwedischen Akademie pflichtet bei: "Das Problem ist die kurzfristige Natur unseres politischen und ökonomischen Systems." Er nenne sie die "Tyrannei des Jetzt".

Easac versteht sich als Stimme der europäischen Wissenschaft und äußert sich insbesondere zu bio-, energie- und umweltwissenschaftlichen Fragen von gesellschaftlicher Relevanz. Vertreter von 29 Mitgliedsakademien stimmen die Easac-Berichte Absatz für Absatz ab, ringen um jeden Satz. Die Tonlage des neuen Dokuments ist in diesem Lichte betrachtet ziemlich deutlich. Im Hintergrund habe es ordentlich gebrodelt, erfährt man von Beteiligten. Kein Wunder, auch Wissenschaftler hängen nicht selten aufgrund sogenannter Drittmittelprojekte von Geld aus der fossilen Industrie ab.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5097460
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.