Sergej Zimow und sein Sohn Nikita haben sich vorgenommen, die sibirische Tundra umzugraben. Die beiden russischen Ökologen wollen in Ostsibirien, 360 Kilometer nördlich des Polarkreises, am Fluss Kolyma eine Eiszeitlandschaft erschaffen. Eine Kältesteppe so groß wie Liechtenstein, in der Jakuten-Pferde und Rentiere, Elche, Moschusochsen, Bisons und Wisente weiden sollen. Bei den Arbeiten für ihren "Pleistozän-Park" haben sie etwas Ungewöhnliches entdeckt: In 50 Bohrlöchern haben sie Bereiche gefunden, in denen der arktische Tundraboden selbst im Winter nicht mehr vollständig gefriert.
"Das hat auch uns überrascht", sagt Guido Grosse, Leiter der Permafrostforschung am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Potsdam. "Denn in dieser Region herrschen normalerweise von September bis April Lufttemperaturen bis zu minus 40 Grad Celsius." Gegenden, die ganzjährig nicht mehr zufrieren, sind bisher nur vom südlichen Rand des Permafrostes bekannt - etwa vom Yukon-Delta in Alaska. Die aktuellen Klimamodelle sagen solche Tauprozesse in der nördlichen Arktis erst für die zweite Hälfte des Jahrhunderts voraus.
Wenn der Untergrund nicht mehr gefroren ist, werden Bakterien aktiv und produzieren CO₂
Taut also der Permafrost, weltweit immerhin ein gutes Fünftel der Landmasse, schneller als erwartet? Die negativen Folgen wären enorm. Nicht nur, dass in den arktischen Siedlungen Häuser und Straßen sowie die Pipelines der Ölfirmen instabil werden, weil ihr hart gefrorener Untergrund aufweicht. Beim Tauen der Dauerfrostböden, die viele abgestorbene Pflanzenreste enthalten, werden außerdem Abermilliarden Bodenbakterien aktiv, welche das organische Material zersetzen. Dabei entweichen Treibhausgase wie Kohlendioxid und das 25-mal klimaschädlichere Methan. Das könnte die Erderwärmung noch zusätzlich beschleunigen.
Bereits jetzt hat sich die Luft der Arktis um drei bis vier Grad Celsius stärker erwärmt als im Rest der Erde. Dies hängt damit zusammen, dass immer mehr Eis an Land und auf dem Meer schmilzt. Die dunklere Oberfläche reflektiert das Sonnenlicht kaum noch, sondern absorbiert es, was die Erwärmung beschleunigt Die arktischen Sommer dauern nun einige Wochen länger als noch vor wenigen Jahrzehnten.
Nur 18 Kilometer vom Pleistozän-Park entfernt erforscht Mathias Goeckede vom Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena seit fünf Jahren den Gasaustausch zwischen Permafrostboden und der Luft. Ihm ist aufgefallen, dass sich in dieser Zeit der Boden nahe der Oberfläche um mehrere Grad Celsius erwärmt hat, und dass die Schneedecke im Winter dicker wird.
Vor vier Jahren habe die Schneehöhe maximal 80 Zentimeter durchmessen. "Im Winter 2017/2018 war es fast doppelt so viel - über 1,50 Meter", sagt der Wissenschaftler. So eine dicke Schneeschicht wirkt isolierend. Sie hält die sommerliche Wärme im Boden und hindert die kalte Winterluft daran, das Erdreich durchzufrieren. Das könnte die Ursache für die Bodenerwärmung in dem Forschungsareal und bei den Zimows sein. "Es kann sich bei diesen Zahlen allerdings auch nur um eine natürliche Variabilität handeln", gibt der Biogeochemiker zu bedenken. "Wenn das allerdings zum Trend wird, dann ist es ein Alarmzeichen."
Dass sich der Permafrostboden auch im sicher geglaubten hohen Norden erwärmt, haben AWI-Wissenschaftler auch auf einer Forschungsstation auf der Insel Samoilow im sibirischen Lena-Delta in langjährigen Messungen beobachtet. Auf Samoilow, etwa 1000 Kilometer nordwestlich der Arbeitsstätte von Goeckede und 660 Kilometer nördlich des Polarkreises, hat sich der Dauerfrostboden innerhalb der letzten 15 Jahre in etwa 20 Metern Tiefe um 1,3 Grad Celsius erwärmt, in zehn Metern Tiefe um 2,8 Grad Celsius und in 2,75 Metern Tiefe sogar um 5,7 Grad Celsius.
Zwar ist dort nach wie vor alles gefroren, das Eis ist nur weniger kalt als früher. "Doch es zeigt", so Permafrostforscher Grosse, "die Erderwärmung hat auch in dem sehr kalten Untergrund in der Hocharktis einen Effekt, und der oberflächennahe Permafrost wird wohl selbst in dem sicher geglaubten hohen Norden schon in den kommenden Jahren schwinden."
Noch stärker wirkt sich die Erderwärmung unterhalb der vielen Seen der Arktis aus. In Permafrostgebieten mit viel Eis entstehen im Sommer riesige Wasserlandschaften. Denn das Schmelzwasser kann nicht nach unten versickern und sammelt sich deshalb in den Senken der Tundra. Solche Seenlandschaften hat ein amerikanisch-deutsches Wissenschaftlerteam in Alaska anhand von Bodenmessungen, Satellitenaufnahmen und Computersimulationen untersucht.
Das Resultat: Die Seen vergrößern sich rasch, und der Permafrost unter neuen Seen taut in wenigen Jahrzehnten bis in eine Tiefe von 15 Metern auf. Über die Seen, Tümpel und Teiche dringt sechs- bis zehnmal so viel Sonnenenergie in den Boden ein, weil Wasser Wärme besser in den Untergrund leitet als die trockenen Torfschichten um die Seen herum. Im Erdreich unter den Seen werden dann auch Bodenbakterien aktiv, und der Ausstoß von Treibhausgasen nimmt zu - nach Schätzung der Forscher so stark, "dass sich die Klimawirkung des tauenden Permafrostes durch dieses zusätzliche Kohlendioxid und Methan bis zum Jahr 2050 verdoppeln könnte", sagt Guido Grosse, der mit seinen Kollegen vom AWI an diesem Projekt beteiligt war.
Können Rentiere, Bisons und Elche die negative Entwicklung wenigstens lokal stoppen?
Bislang gilt die Arktis, obwohl sich die Luft aufgrund des Klimawandels dort schneller erwärmt als anderswo, als sogenannte Kohlenstoffsenke. Die Pflanzen, die in den Sommermonaten in der Tundra wachsen, verbrauchen durch Fotosynthese mehr Kohlendioxid, als durch die Zersetzung der Bakterien erzeugt wird. Doch das ändert sich gerade, meint Grosse. "Ich schätze, die Arktis steht an der Wende zur Treibhausgas-Quelle."
Im Fachjournal Nature Geoscience unterstrich ein weiteres Forscherteam diese Warnung kürzlich: Der tauende Permafrost setze in den kommenden Jahren so viel Kohlendioxid frei, dass die Klimaziele aus dem Vertrag von Paris akut gefährdet seien, bilanzieren die Wissenschaftler. Die Schwelle, ab der keine Treibhausgase mehr in die Atmosphäre gelangen dürfen, um das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen, werde damit schneller erreicht als gedacht.
Sergej Zimow und sein Sohn überlegen inzwischen, wie sich in ihrem Pleistozän-Park das Auftauen des Permafrostes verlangsamen ließe. Ihr Plan: Die ersehnten Herden aus großen Pflanzenfressern sollen die eiszeitliche Kältesteppe wiederherstellen. Die Rentiere, Pferde, Bisons und Elche sollen - so das Kalkül - den Boden festtreten und im Winter die Schneedecke niedertrampeln. Dadurch könnte die winterliche Kälte wieder in den Boden eindringen und die Bodenbakterien und somit den Ausstoß von Treibhausgas bremsen, hoffen die Zimows. "Das ist zwar eine interessante, aber auch ein wenig verrückte Idee", meint AWI-Wissenschaftler Grosse. Denn das Auftauen des Permafrostes in der riesigen Arktis mithilfe von Weidetieren zu vermindern, würde, wenn überhaupt, nur lokal funktionieren. "Aber mit dem Pleistozän-Park kann man sicherlich viele Leute begeistern und zugleich auf das Thema Permafrost und seine wichtige Rolle für die künftige Klimaentwicklung aufmerksam machen."