Süddeutsche Zeitung

Klimawandel:Grönland wird von unten ausgehöhlt

Die Eismassen auf der Erde schmelzen immer schneller - doch warum? Forscher zeigen nun, dass die Ozeane eine entscheidende Rolle spielen.

Von Angelika Jung-Hüttl

Das Eis schmilzt weltweit immer schneller, und nicht nur wegen steigender Lufttemperaturen. Auch warme Wasserschichten in den Tiefen der Ozeane an den Polen sind maßgeblich daran beteiligt. So lautet die Quintessenz von zwei neuen Studien zu den Eisverlusten infolge des Klimawandels. Der Meeresspiegel könnte deshalb rascher steigen als bisher angenommen.

Von den Hochgebirgsgletschern über die Eiskappen an den Polen bis hin zum Meereis - anhand von Unmengen Satellitendaten haben Geowissenschaftler die Eisflächen der Erde im Lauf der letzten drei Jahrzehnte analysiert. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Bilanz stellen sie im Fachjournal The Cryosphere vor: Zwischen 1994 und 2017 hat die Erde insgesamt 28 Billionen Tonnen Eis verloren - eine Masse, die, würde man sie über ganz Großbritannien verteilen, eine 100 Meter hohe Eisschicht ergäbe. 58 Prozent der gesamten Eismasse gingen auf der Nordhalbkugel verloren, 42 Prozent auf der Südhalbkugel. Und das Eis schmilzt mit einem immer größeren Tempo. In den 1990er-Jahren waren es noch 0,8 Billionen Tonnen pro Jahr, in den 2010er-Jahren schon 1,2 Billionen Tonnen.

Auf den Ozeanen verschwand am meisten Eis in Polnähe - 7,6 Billionen Tonnen des Meereises in der Arktis und 7,4 Billionen Tonnen in der Antarktis. In den Hochgebirgen verloren die insgesamt 215 000 Gletscher von 1994 bis 2017 zusammen 6,1 Billionen Tonnen Eis. Der mächtige grönländische Eisschild nahm um 3,8 Billionen Tonnen ab. Der antarktische Eisschild, also die Eismassen auf dem Festland der Antarktis, hat im Vergleich den geringsten Massenverlust zu verzeichnen, nämlich 2,5 Billionen Tonnen. Allerdings, so Tom Slater, Klimaforscher an der Universität Leeds und Hauptautor dieser Studie: "Obwohl jede Region, die wir untersucht haben, Eis verloren hat, haben sich die Verluste des antarktischen und grönländischen Eisschildes am meisten beschleunigt. Sie folgen jetzt den schlimmsten Szenarien der Klimaerwärmung des Weltklimarates IPCC." Die Hauptmasse des Eises - nämlich 68 Prozent - sei aufgrund von "atmosphärischem Schmelzen" verschwunden, also aufgrund der erhöhten Lufttemperaturen. Das restliche Drittel liegt am wärmeren Ozean.

Dieser große Einfluss des Meeres ist Thema der zweiten Studie, die Wissenschaftler der amerikanischen Weltraumbehörde in der Fachzeitschrift Science Advances publizierten. Im Fokus der Forscher standen die 226 sogenannten Auslassgletscher, die sich von dem bis 3400 Meter dicken Eisschild Grönlands über die von Fjorden zerklüftete Küste hinweg in die Meere rund um die Insel erstrecken - und die daher relevant für den weltweiten Anstieg des Meeresspiegels sind.

"Wir wissen schon lange, dass die Temperatur des Ozeanwassers eine große Rolle bei der Entwicklung dieser Gletscher auf Grönland spielt", sagt Eric Rignot, einer der Leiter der Studie. "Aber es ist das erste Mal, dass wir den Prozess und seine Effekte auf den Eisschwund während der vergangenen 20 Jahre quantifizieren konnten." Die "Gletscher-Ozean-Interaktion" zu erfassen, ist eine Mammutaufgabe. Unzählige Messungen von Satelliten, Flugzeugen und Booten aus lieferten Daten zur Topografie von Grönlands Eismasse, der Küstenregion unter dem Eis sowie zu den Temperaturen und zum Salzgehalt bis in mehrere Hundert Meter Wassertiefe.

Der entscheidende Punkt: An der Oberfläche ist das Ozeanwasser immer sehr kalt. "Aber in etwa 200 Metern Tiefe gibt es rund um Grönland eine Schicht wärmeres Ozeanwasser", erklärt Mike Woods, einer der Nasa-Wissenschaftler, "und diese Schicht hat sich seit Mitte der 1990er-Jahre um etwa zwei Grad Celsius erwärmt".

Nun kommt die Form der Landschaft ins Spiel. Die größten 74 Auslassgletscher fließen über tiefe Fjorde, die sich unter dem Eis kilometerweit ins Landesinnere erstrecken, Richtung Meer. Das bedeutet, die oft viele Kilometer breiten Fronten dieser Gletscher kommen mit der wärmeren tiefen Meerwasserschicht in Kontakt, dort beginnen die Eiszungen von unten her zu schmelzen. Das warme Wasser kann aufgrund der submarinen Fjordform weit unter diese Gletscher hinein vordringen und sie sozusagen unterhöhlen.

In Schwaden steigt das wärmere Tiefenwasser empor und erhöht den Schmelzeffekt

Die Folge: Die Eiszungen dünnen von unten aus und zerbrechen. Eisberge lösen sich, die Gletscher kalben heute in einem viel stärkeren Maß als in den 1990er-Jahren. Dieser Prozess wird auch noch durch das viele Schmelzwasser verstärkt, das sich im Sommer hoch oben auf dem Eisschild bildet, seinen Weg über Gletschermühlen und Tunnel im Eis zum Felsuntergrund findet und unter dem Gletscher Richtung Küste abfließt. Dort kann es sich mit dem wärmeren Ozeanwasser vermischen. Das Schmelzwasser enthält kein Salz und ist daher leichter als das Ozeanwasser. Deshalb steigt es entlang der Gletscherfront, die oft 200 Meter und auch viel tiefer unter den Meeresspiegel reicht, nach oben. In Schwaden zieht es das wärmere Tiefenwasser mit nach oben und erhöht so den Schmelzeffekt.

Diese 74 großen Gletscher, so haben die Wissenschaftler berechnet, sind für rund die Hälfte des Eisverlustes auf Grönland in den Jahren 1994 bis 2017 auf Grönland verantwortlich. Im Gegensatz dazu haben kleinere Gletscher, die sich flach über das Meerwasser schieben oder auf einem untermeerischen Rücken aufliegen, nur 15 Prozent zum Eisverlust beigetragen. Denn sie kommen viel weniger mit dem wärmeren Tiefenwasser in Berührung. "Wir waren überrascht über dieses Ungleichgewicht", sagt Wood. "Die größten Gletscher Grönlands reagieren am empfindlichsten auf das erwärmte Wasser aus der Tiefe - sie sind es, die den Eisverlust Grönlands vorantreiben."

Auch an antarktischen Gletschern wurde schon eine Wechselwirkung zwischen Eis und tiefem, warmen Ozeanwasser beobachtet. Die Wissenschaftler weisen darauf hin, dass Klimamodelle, die dieses Unterschneiden von Gletschereis ausschließen, den Massenverlust um mindestens die Hälfte unterschätzen.

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