Kippendes Weltklima:Wie Domino-Effekte die Erde in eine Heißzeit treiben könnten

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Die Nadelwälder des hohen Nordens sind besonders wichtig für das Klima der Erde. Auf diesem Satellitenbild sind Brände in Skandinavien zu sehen, die dort in diesem Sommer wüteten. (Foto: HO/AFP)
  • Sogenannte Kippelemente im Klimasystem können unwiderruflich in einen instabilen Zustand fallen und so Lebensbedingungen der Menschheit bedrohen.
  • Das globale Klimasystem gleicht demnach einer Kette von Dominosteinen - wehe, der erste fällt.
  • Der schwindende Amazonas-Regenwald, der auftauenden Permafrostboden im hohen Norden oder die schmelzenden Eispanzer Grönlands sind einige dieser Domino-Elemente, die eine Kettenreaktion mit globalen Folgen auslösen können.

Von Christopher Schrader

Für Johan Rockström ist es an der Zeit, die Metapher kippender Dominosteine wiederzubeleben. Im Kalten Krieg prägten die USA das Bild, um vor der Ausbreitung des Kommunismus in Asien zu warnen. Rockström sieht darin nun eine Bedrohung der gesamten Zivilisation.

Dem Klimaforscher, zurzeit Leiter des Stockholm Resilience Center und bald Ko-Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), geht es aber nicht um Ideologie. Die Dominosteine dienen als Illustration sogenannter Kippelemente des Klimasystems - wie der Amazonas-Regenwald oder der Eispanzer Grönlands. Sie könnten unwiderruflich in einen anderen Zustand kippen und die Lebensbedingungen der Menschheit bedrohen. Zudem sind sie global gekoppelt.

Kommt es zu einer Kettenreaktion, könnten am Ende die Temperaturen auf der Erde um fünf Grad Celsius steigen, ganz egal, wie stark sich die internationale Gemeinschaft dagegenstemmt. "Wird eines der Elemente gekippt, schiebt es die Erde auf einen weiteren Kipppunkt zu", sagt der Schwede. "Es könnte sehr schwierig oder gar unmöglich sein, die ganze Reihe von Dominosteinen vom Umkippen abzuhalten."

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Instabile Kippelemente liegen über den gesamten Globus verteilt. Eine Auswahl.

Über solche Kippelemente denken Rockström und seine Mitautoren, darunter Katherine Richardson von der Universität Kopenhagen und der scheidende PIK-Chef Hans Joachim Schellnhuber, seit Langem nach; sie fassen den aktuellen Stand des Wissens - und auch der Ungewissheit - in einem Überblicksartikel in der Zeitschrift PNAS zusammen. Es ist nämlich bislang unsicher, wo mögliche Schwellen zum unwiderruflichen Umkippen liegen. Doch könnten diese bereits bei weniger als jenen zwei Grad Erderwärmung erreicht sein, die das Pariser Abkommens als Grenze vorsieht. In der Folge könne die Erde überhaupt nicht mehr auf einem sicheren Platz im Klimasystem "geparkt" werden.

Die Autoren stellen zehn mögliche Kippelemente vor. Sie alle können eine Teufelsspirale im Klimasystem auslösen, sich also selbst und gegenseitig verstärken. Bei fünf der Elemente droht die Gefahr, dass große Mengen bisher gespeicherter Kohlenstoffverbindungen als CO₂ oder Methan in die Atmosphäre gelangen und den Treibhauseffekt beschleunigen. Das gilt zum Beispiel für tauenden Permafrost im hohen Norden sowie Gebirge und die Wälder am Amazonas, in Alaska, Kanada und Sibirien.

Vier weitere Elemente verändern den Anteil des Sonnenlichts, den die Erde ins All reflektiert. Schrumpfende Eispanzer in Grönland und der Antarktis sowie das schwindende Meereis der Polarregionen geben dunklere Flächen frei, die Wärmestrahlen absorbieren und sich aufheizen. Das zehnte Element schließlich sind schwächelnde CO₂-Senken, die Treibhausgas an Land oder im Meer binden.

Kommt es zu Kippeffekten, ist Erwärmung nicht die einzige Folge: Die schmelzenden Eispanzer könnten den Meeresspiegel über die kommenden Jahrhunderte um 60 Meter steigen lassen. Mit den Wäldern geht Biodiversität verloren und damit die Chance, in der Vielfalt der Natur Antworten auf die Krise zu finden. Auftauender Permafrost gefährdet Siedlungen in Sibirien und Straßen in den Alpen.

Das Temperaturniveau, bei dem die einzelnen Elemente ins Kippen geraten, ist jeweils unterschiedlich, schätzen die Forscher. Meereis und Eispanzer sind erkennbar schon bei der heute erreichten Klimaerwärmung unter Druck.

Der Punkt, ab dem es kein Zurück mehr gibt, könnte schon überschritten sein oder erst bei drei Grad Erwärmung liegen. Für die Wälder wird die Aufheizung ab zwei Grad gefährlich, die kritische Schwelle vermuten Forscher bei drei bis fünf Grad. Auch für andere Elemente könnte der riskante Bereich bei etwa zwei Grad Temperatur-Plus gegenüber der vorindustriellen Zeit beginnen.

Um diese Entwicklung zu stoppen, schreiben die Forscher, reiche die radikale Reduktion der Emissionen und der schnelle Umstieg auf neue Technik für Strom, Verkehr und Häuser nicht aus. Die Menschheit müsse auch die natürlichen Kohlenstoffsenken stärken sowie CO₂ mit technischen Mitteln aus der Atmosphäre entnehmen und irgendwo speichern - und ihr Verhalten im Alltag ändern.

"Wir schlagen eine tiefe Transformation vor, die auf einer Neuorientierung der menschlichen Werte beruht"

"Um eine stabile Entwicklung zu bekommen, ist ein behutsames Management der Beziehung der Menschheit zum Rest des Erdsystems nötig", schreiben die Forscher. "Wir schlagen eine tiefe Transformation vor, die auf einer fundamentalen Neuorientierung der menschlichen Werte beruht, von gerechter Verteilung, Verhalten, Institutionen, Wirtschaft und Technologie." Den Forschern ist klar, dass sich der radikale Wandel nicht über Nacht erreichen lässt. Doch der Weg müsse und könne bald eingeschlagen werden.

Ähnlich optimistisch hatte sich Ende Juli Christiana Figueres geäußert, die ehemalige Leiterin des UN-Klimasekretariats in Bonn: "Die monumentale Herausforderung trifft auf beispiellose Offenheit von Regierungen und Unternehmen." Zusammen mit einigen Ko-Autoren, darunter Rockström und Schellnhuber, hatte die Expertin aus Costa Rica "sechs Meilensteine" definiert, die die Welt bis 2020 erreichen solle. Diese betreffen Kohlekraftwerke und Schwerindustrie, Klimaschutz-Pläne, Elektroautos, Aufforstung und die Finanzierung des Klimaschutzes mit einer Billion Dollar pro Jahr. "Die Gelegenheit, die wir in den kommenden drei Jahren haben", sagt Figueres, "ist einzigartig in der Geschichte."

© SZ vom 08.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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