Erderwärmung:Zwei Drittel aller nationalen Klimaschutzpläne sind ungenügend

Gletscherlagune in Island

In der Arktis verläuft die Erderwärmung besonders rasant

(Foto: dpa)
  • Die meisten Zusagen der Staaten zum Klimaschutz sind ungeeignet, die Erderwärmung zu bremsen, berichtet ein Forscherteam.
  • Die Treibhausgas-Emissionen dürften mindestens bis 2030 weiter steigen - die Ziele des Pariser Klimaabkommens würden so verfehlt.
  • Von den Staaten und Blöcken mit den größten Emissionen hat demnach nur die EU ausreichende Pläne.
  • Mehr als 11 000 Wissenschaftler aus 153 Ländern warnen in einer gemeinsamen Erklärung vor einem weltweiten "Klima-Notfall".

Von Christopher Schrader

Zwei Drittel der 184 nationalen Pläne zum Klimaschutz sind ungeeignet, den Klimawandel auch nur zu bremsen, berichtet ein internationales Forscherteam. Der Treibhausgas-Ausstoß werde den Zusagen der Staaten zufolge bis zum Jahr 2030 noch steigen. Dabei müsste er schnellstens sinken, um den Klimawandel noch auf ein erträgliches Maß zu begrenzen. Der Bericht mit dem Titel "The Truth behind the Climate Pledges" (Die Wahrheit hinter den Klima-Zusagen) stammt von vier prominenten Wissenschaftlern und einer Wissenschaftlerin aus Europa und Amerika.

Von den fünf Ländern oder Staatenbündnissen mit den größten Emissionen hat laut Bericht nur die EU (Platz 3) ausreichende Pläne. Die Zusagen der Chinesen (Platz 1 bei den Emissionen) und Inder (Platz 4) sehen hingegen vor, dass der eigene Ausstoß noch steigt. Das gilt auch für Russland (Platz 5), das zwar einen Plan gefasst, aber noch nicht rechtskräftig beim Klimasekretariat der Vereinten Nationen in Bonn eingereicht hat. Auch das Verhalten der USA (Platz 2) sei unzulänglich - weil Präsident Donald Trump, wie seine Regierung am Montag offiziell verkündete, das Land aus dem Pariser Vertrag löst.

Für Staaten, die ihre Ziele verfehlen, gibt es keinerlei Sanktionen

Der weltweite Ausstoß an Treibhausgasen lag 2017 bei etwas mehr als 50 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalenten. Um diese Größe zu bestimmen, wird die Wirkung anderer Treibhausgase auf den Effekt von Kohlendioxid umgerechnet. Dem Report der Autoren zufolge könnte die Zahl bis 2030 auf ungefähr 54 Milliarden Tonnen steigen. "Mit den momentanen Zusagen lassen sich die Herausforderung des Klimawandels nicht bewältigen", sagt Nebojsa Nakicenovic, langjähriger leitender Autor beim Weltklimarat IPCC und Professor für Energiewirtschaft an der Technischen Universität Wien. Um die Erhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen, wie im Pariser Klimavertrag angestrebt, "müssten die Emissionen sich im nächsten Jahrzehnt halbieren".

Der Pariser Vertrag von 2015 besteht im Kern nur aus den gemeinsam festgelegten, verbindlichen Temperaturgrenzen sowie freiwilligen Zusagen, welchen Beitrag die einzelnen Staaten zum Klimaschutz leisten wollen. Niemand wird zu irgendetwas gezwungen, und außer einem möglichen Image-Verlust gibt es keine Sanktionen für Nationen, deren Pläne nicht ausreichen oder die ihre eigenen Ziele verfehlen.

So entsteht die klaffende Lücke zwischen den Zielen des Pariser Vertrages und den Zusagen der Staaten. Der neue Report ist nicht erste, der sie beklagt. Die Umwelt-Organisation der Vereinten Nationen UNEP veröffentlicht jährlich den Emissions Gap Report; der nächste kommt Ende November heraus. Details sind dort allerdings nur über die G20-Staaten zu lesen, die knapp 80 Prozent der Emissionen verursachen.

Die Staaten werden zudem nur an ihren eigenen Zielen gemessen; ob sie ausreichen um den Klimawandel zu bremsen, beurteilt die UNEP nur für die gesamte Weltgemeinschaft.

Die Autorinnen des neuen Berichts haben dagegen alle vorhandenen Zusagen bewertet:

  • China und Indien haben lediglich zugesagt, die Menge des freigesetzten Kohlendioxids pro Dollar Wirtschaftsleistung zu senken, also die relativen Emissionen. Wegen ihres großen Wirtschaftswachstums ist der absolute Ausstoß beider Länder seit 2005 um ungefähr 80 Prozent gestiegen, und ein Ende des Trends ist nicht absehbar. Immerhin hat China versprochen, dass die freigesetzten Mengen spätestens ab 2030 sinken. Der Report beurteilt beide nationalen Pläne als ungenügend und gibt sechs weiteren Ländern, etwa Chile und Usbekistan, die gleiche Note.
  • Bei 36 Staaten lassen sich den Selbstverpflichtungen überhaupt keine konkreten Reduktionszusagen entnehmen, zum Beispiel bei Südafrika und Kuba. Fünf reiche Golf-Staaten wie Saudi-Arabien und Kuwait bieten explizit keine Senkung an.
  • 70 vor allem arme Länder mit durchweg geringem Ausstoß haben ihre nationalen Ziele davon abhängig gemacht, dass sie die von den Industriestaaten zugesagte finanzielle Hilfe bekommen. Der entsprechende Fonds füllt sich aber nur schleppend.
  • 13 weitere Nationen, darunter Russland und die Türkei, blieben bei der Bewertung außen vor, weil sie keine rechtlich gültigen Zusagen eingereicht haben. Sie haben zwar das Pariser Abkommen unterzeichnet, teilweise auch ratifiziert, und nationale Pläne beschlossen, müssen diese aber dem Klimasekretariat noch übermitteln.
  • 20 Länder landen in einer Mittelgruppe, weil sie zwar den Ausstoß senken wollen, aber nicht genug. Dazu gehören Japan, Brasilien, Australien, Südkorea und Kanada. Bei Brasilien sieht der Report die Gefahr, dass sich die Regierung Bolsonaro im Stil der USA von den Zusagen ihrer Vorgänger abwendet.
  • Positiv haben die Prüfer außer der EU (mit 28 Mitgliedern) nur Island, Norwegen, die Schweiz, Liechtenstein, Monaco, die Ukraine und Moldawien bewertet. Sie alle kommen auf Reduktionen von 40 Prozent oder mehr.

Das Bewertungsprinzip des neuen Reports - alle sollen den Ausstoß um mindestens 40 Prozent reduzieren - klingt zwar gerecht, entspricht aber nicht dem Geist der Pariser Vertrags. In den Klimaverhandlungen gilt seit langem das Prinzip, dass alle Staaten der Welt die "gemeinsame aber differenzierte Verantwortung" haben, einen gefährlichen Klimawandel zu verhindern. Hinter der diplomatischen Formel verbirgt sich der Gedanke, dass die Industriestaaten durch ihre Geschichte und wegen ihres heutigen Wohlstands viel mehr zum Problem der steigenden Temperaturen beigetragen haben als Entwicklungsländer. Sie müssen also auch mehr zur Lösung beitragen. Daher ist es zumindest fragwürdig, arme Staaten in Afrika nach dem gleichen Kriterium zu messen wie die reichen Länder in Europa.

Tausende Wissenschaftler erklären "Klima-Notfall"

Mehr als 11 000 Wissenschaftler aus 153 Ländern, darunter 871 Forscher deutscher Universitäten und Institute, warnen in einer Erklärung vor einem weltweiten "Klima-Notfall". Wenn sich das menschliche Verhalten nicht grundlegend und anhaltend verändere, sei "unsägliches menschliches Leid" nicht mehr zu verhindern, heißt es in der am Dienstag veröffentlichten Erklärung. "Wissenschaftler haben eine moralische Pflicht, die Menschheit vor jeglicher katastrophaler Bedrohung zu warnen", sagte Ko-Autor Thomas Newsome von der University of Sydney. "Aus den vorliegenden Daten wird klar, dass wir einem Klima-Notfall gegenüberstehen."

Die Forscher fordern in ihrem Beitrag im Fachjournal "BioScience" Veränderungen vor allem in sechs Bereichen: Umstieg auf erneuerbare Energien, Reduzierung des Ausstoßes von Stoffen wie Methan und Ruß, besserer Schutz von Ökosystemen wie Wäldern und Mooren, Konsum von mehr pflanzlichen und weniger tierischen Produkten, nachhaltige Veränderung der Weltwirtschaft und Eindämmung des Anwachsens der Weltbevölkerung.

dpa

"Die Frage, was für ein Land ein ehrgeiziger und fairer Beitrag ist, steht seit Jahrzehnten im Mittelpunkt der Klimadebatte", sagt Niklas Höhne vom NewClimate Institute in Köln. "Aber es spielt eigentlich keine Rolle mehr, welche Perspektive man einnimmt: Die meisten Beiträge der Länder sind in keiner einzigen Perspektive fair. Alle müssen massiv nachlegen."

Selbst wenn alle vorliegenden nationalen Zusagen eingehalten werden, dürfte es bis 2100 auf einen globalen Temperaturanstieg um 3 bis 4 Grad Celsius hinauslaufen. Das beschlossene Ziel von höchstens plus 1,5 bis 2 Grad würde schon in der Mitte des Jahrhunderts krachend verfehlt.

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