Süddeutsche Zeitung

Klimawandel:Fast jede dritte Tierart vom Aussterben bedroht

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Wie lässt sich die Natur berechnen? Ein Interview mit Wolfgang Lucht vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, der am UN-Klimabericht mitgearbeitet hat.

Axel Bojanowski

Wenn die Erwärmung der Erdatmosphäre fortschreitet, könnte bis Ende des Jahrhunderts nahezu jede dritte Tier- und Pflanzenart ausgestorben sein.

Das prophezeit die derzeitige Fassung des im April zur Veröffentlichung anstehenden zweiten Teils des Klimaberichts des Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC, der Vereinten Nationen.

Der Biosphären-Forscher Wolfgang Lucht vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hat den Bericht mitverfasst.

SZ: Wird die dramatische Prognose des Artensterbens auch in der Endfassung des diesjährigen UN-Klimaberichts stehen?

Wolfgang Lucht: Solange der Bericht nicht veröffentlicht ist, darf ich mich nicht dazu äußern. Erst im April stehen alle Aussagen fest.

SZ: Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung warnte bereits 2003 vor einem Exitus ähnlichen Ausmaßes. Sind solche Prognosen nicht sehr gewagt, wenn man bedenkt, dass viele Arten noch unentdeckt sein dürften? Wissenschaftler entdecken regelmäßig unbekannte Lebensformen.

Lucht: Rund zwei Millionen Arten sind bekannt, um die geht es.

SZ: Wie errechnet sich die Anzahl der bedrohten Lebensformen?

Lucht: Anhand von Beobachtungen in der Natur und mit Computersimulationen. Aus den Klimaszenarien für die nächsten hundert Jahre ermitteln wir, wie sich Klimazonen verschieben. Lebewesen müssen sich den Veränderungen anpassen oder ihren Standort wechseln. Wenn sie dies nicht können, wird es eng.

SZ: Eine Verschiebung der Klimazonen bedeute nicht den Verlust von Arten, sagt der Zoologe Ragnar Kinzelbach von der Universität Rostock. Eine einfache Hochrechnung bekannter Abläufe sei nicht möglich, die Natur sei zu komplex.

Lucht: Sicher können wir keine exakten Prognosen liefern; eine geschlossene Theorie der Biosphäre gibt es nicht. Gleichwohl signalisieren inzwischen Hunderte Studien einzelner Arten und Ökosysteme, dass die Erwärmung in vielen Regionen schlimme Folgen haben könnte, etwa in Tibet und in Australien.

SZ: Welche Arten könnte es treffen?

Lucht: Lebewesen in Gebirgen können bei fortschreitender Erwärmung nicht beliebig in höhere Lagen ausweichen. In der Arktis, die sich besonders stark erwärmt, können Tiere und Pflanzen nicht beliebig weit nach Norden wandern.

Wenn Flüsse ihr Wasservolumen verändern, verändern sich auch Lebensräume. Feuchtgebiete können austrocknen. Und in Regenwäldern haben sich viele Arten auf ein enges Areal spezialisiert und sind deshalb gefährdet.

SZ: Können sich Lebewesen nicht an eine veränderte Umwelt anpassen?

Lucht: Manche Arten, zu denen auch der Mensch gehört, haben eine bewundernswerte Anpassungsfähigkeit. Viele andere Lebewesen aber brauchen sehr spezielle Bedingungen. Sie werden sich nicht an die neuen Verhältnisse gewöhnen, die Klimaänderung wird zu schnell verlaufen.

Niemand wird bestreiten, dass Bäume bei wiederholter Dürre sterben und warme Seen umkippen können. Allerdings besteht in der Frage der Anpassungsfähigkeit noch erheblicher Forschungsbedarf.

SZ: Am Ende der letzten Eiszeit gab es Temperatursprünge von fünf bis zehn Grad in wenigen Jahrzehnten, ohne dass ein Massensterben aus jener Zeit bekannt wären.

Lucht: Das ist richtig und zeigt, dass Arten sich durchaus auch einem Wandel anpassen können. Andererseits kann man die beiden Situationen nicht unbedingt miteinander vergleichen. Damals stiegen Temperaturen von einem Eiszeit-Niveau an.

Heute sind wir bereits in einer Warmzeit und diese heizen wir noch weiter an. Vor allem aber konnten viele Arten damals ausweichen. Heute, wo wichtige Arten auf Nationalparks und die Reste der großen Wälder zurückgedrängt sind, können die Arten nicht mehr wandern. Ihre Refugien sind fast überall von Landwirtschaft umgeben.

SZ: Vor 6000 Jahren war es zwei Grad wärmer als heute. Warum gab es auch damals kein großes Artensterben?

Lucht: Seinerzeit waren wohl nur Europa und Nordamerika von der Erwärmung betroffen. Was ein globaler rapider Temperaturanstieg bewirken kann, zeigte sich dagegen vor 55 Millionen Jahren: Am Ende des Paläozäns stieg die Temperatur plötzlich um fünf Grad, und ein globales Massensterben folgte.

SZ: Der Zoologe Ragnar Kinzelbach schreibt jedoch, dass selbst eine schnelle Veränderung der Umwelt keine Bedrohung für Lebewesen sein muss.

Lucht: Das muss sie auch nicht für alle Lebewesen sein. Wenn 20 Prozent der Arten aussterben, überleben immerhin noch 80 Prozent.

Die Ökosysteme der Welt stehen heute schon unter dem großen Druck der menschlichen Landnutzung und der Umweltverschmutzung. Wenn nun der Klimawandel hinzukommt, werden einige Ökosysteme ganz verloren gehen.

Außerdem wird sich das stille Sterben, das heute schon stattfindet, weiter verstärken, weil der Druck dann einfach zu groß wird.

SZ: Wo droht Dürre?

Lucht: In der Mittelmeerregion und Südafrika beispielsweise. Manche Klimamodelle lassen sogar ein Austrocknen des Amazonas-Regenwaldes möglich erscheinen. Das würde unzählige Arten unwiederbringlich vernichten. Wohin sollten sie auch ausweichen? Besonders heikel wird es, wenn Dürre auf so genannte biologische Hotspots übergreift, in denen besonders viele Tier- und Pflanzenarten konzentriert sind.

SZ: Erstaunlicherweise schafft der Mensch neuen Lebensraum: Ausgerechnet Städte gelten als artenreich, weil sie viele warme Nischen bieten.

Lucht: Ja, aber verglichen mit den Veränderungen, die weltweit zu erwarten sind, bedeuten diese Refugien wenig.

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Quelle:
SZ vom 6.3.2007
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