Klimawandel:Die letzte Jagd

Caribou

Angehörige des Gwich'in-Volkes im Arctic Refuge mit erlegten Karibus. Früher zogen Hunderttausende der Tiere durch die Region.

(Foto: picture alliance / Minden Pictur)

Die Gwich'in lebten in Nordkanada lange von und mit den Karibus. Nun lässt Donald Trump nach Öl und Gas bohren, die Erderwärmung hält die Tiere fern. Wie ein indigenes Volk in seinen Grundfesten erschüttert wird.

Reportage von Petra Krumme

Sie ist stolz, wenn sie von ihrem Enkel erzählt. "Als er sein erstes Huftier geschossen hat, hat er das Fleisch an alle in Old Crow verteilt", sagt Elizabeth Kaye und lächelt. "In unserem Volk war es vor langer Zeit so, dass es eine Zeremonie gab, wenn jemand sein erstes Tier erlegte, mit einem großen Festessen." Kayes Enkel Gavin ist zehn Jahre alt.

Die Gwich'in-Großmutter sitzt mit anderen Frauen und kleinen Kindern am Lagerfeuer. Zehn Minuten waren es per Außenborder über ruppige Wellen den Porcupine-Strom hinauf, von der Vuntut-Gwitchin-Community Old Crow zum Camp. Der 300-Einwohner-Ort liegt im äußersten Nordwesten Kanadas, nicht weit von der Grenze zu Alaska. Nach Old Crow kommt man im Sommer nur per Flugzeug oder Boot. Der Augustwind weht kalt, alle tragen Winterjacken. Einige pflücken Beeren, andere bereiten das Mittagessen vor, Fleisch, Suppe, Bannock, Cranberrys. Kaye lehrt während des viertägigen Family-Camps, wie man Lachse ausnimmt.

Die meisten Gwich'in sind in diesen Tagen auf den Flüssen unterwegs, bis zu 50 Meilen oder mehr den Old Crow River hinauf oder auf dem Porcupine bis zum Bell River. Alle beschäftigt die Frage: Wann kommen die Karibus? Und kommen sie überhaupt näher ans Dorf heran, so wie es früher war? Kaye erzählt von einem unvergesslichen Moment in den 1990er-Jahren. "Sie kamen über Crow Mountain, Tausende Tiere, der ganze Berg voller Karibus, ich konnte sie vom Fenster aus sehen. Mitten zwischen ihnen die Jäger." Doch in den vergangenen drei, vier Jahren blieben die Tiere fern.

Vuntut Gwitchin" bedeutet: "die Menschen der Seen"

Die Vuntut Gwitchin sind einer von mehreren Gwich'in-Clans auf US- und kanadischer Seite, seit Jahrtausenden leben sie hier. "Vuntut Gwitchin" bedeutet: "die Menschen der Seen". Für sie sind die Karibus kulturell und spirituell von grundlegender Bedeutung, sie prägen Kunsthandwerk, Kleidung und Mythen. 80 Prozent der Nahrung besteht aus Karibufleisch - sonst wäre das Leben hier unerschwinglich. 2,5 Kilo Kartoffeln zum Beispiel kosten umgerechnet etwa zehn Euro.

Aber der Klimawandel macht die Ernährungslage unberechenbar. "Die mittlere Temperatur in Nordwestkanada verändert sich dreimal schneller als anderswo, und wir befinden uns an vorderster Front", sagt Chief Dana Tizya-Tramm in einer über soziale Netzwerke verbreiteten Videobotschaft. "Die Jäger haben Probleme." Die Community hat deshalb im Mai den Klimanotstand ausgerufen und will selbst bis 2030 CO₂-neutral werden.

"Es ist beängstigend, sich vorzustellen, dass die Winter in Zukunft so viel kürzer sein könnten", sagt Sophia Flather, die in Old Crow die traditionelle Sprache unterrichtet. Das Feuer flackert im Kamin, sie und ihr Freund sitzen beim Frühstück, Obstsalat und getrockneter Lachs. "Wenn die Flüsse und Seen nicht mehr zufrieren oder das Eis weniger dick ist, kann man nicht mehr drüber-, sondern muss drumherumfahren. Die Pfade waren früher immer stabil, heute sind sie oft voller Schneematsch. Und das Jagen im Frühling - wenn das Eis dünner ist als früher - das wird echt gefährlich."

Der Klimawandel betrifft auch die Wassertemperatur und damit Fische und Bisamratten, den Zug der Vögel, die Migrationsroute der Karibus. Selbst Biologen können nur vermuten, wieso die Karibus die Routen ändern. Spüren sie die Veränderungen im Süden? Überwuchern die üppiger denn je wachsenden Weiden die Karibupfade? Liegt es daran, dass weniger Flechten wachsen, die Hauptnahrung der Tiere? Zudem gab es diesen Sommer trockeneren Boden und mehr Waldfeuer als je zuvor.

Die Situation der Karibus ist dramatisch. In den vergangenen 20 Jahren sind die Bestände weltweit um 56 Prozent geschrumpft, auf 2,1 Millionen. Fünf Herden in der Region Alaska/Kanada haben sich so dezimiert, dass eine Erholung nicht mehr zu erwarten ist. Nur eine einzige von 20 beobachteten Herden reicht an frühere Höchststände heran: die Porcupine-Herde mit etwa 218 000 Tieren. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ihre über 1500 Meilen lange Migrationsroute noch relativ naturbelassen ist, insbesondere die bisher geschützte Küstenebene des Arctic National Wildlife Refuge an der Beaufortsee in Alaska, wo im Frühjahr innerhalb weniger Wochen 40 000 Kälber zur Welt kommen.

"Es ist lebensnotwendig für die Tiere - und damit für uns -, dass sie diesen Rückzugsort haben, um den kommenden Hurrikan der Klimaveränderung zu überstehen", sagt der Chief. Eine Anpassung an die Folgen des Klimawandels wäre insofern vielleicht sogar noch möglich für die Tiere und die Menschen.

Doch nun könnten die Karibus diese Möglichkeit verlieren - durch eine Entscheidung im fernen Washington, D.C. Nach über 30 Jahren Kontroverse hat die US-Regierung das Herzstück der Migrationsroute, die Küstenebene, für die Ausbeute von Öl und Erdgas geöffnet. Das sei angeblich nötig für die Energiesicherheit, darüber hinaus könnte der Staat über die Vergabe der Schürfrechte viel Geld verdienen, angeblich eine Milliarde US-Dollar. Argument und Zahlen sind umstritten. Einige Experten errechnen einen maximal zweistelligen Millionenbetrag.

"Ein letztes Stück ursprüngliches Amerika"

Republikanische Regierungen standen immer wieder kurz davor, den Ölabbau per Gesetz zu erlauben. Die meisten Demokraten hingegen wollen den Status quo bewahren und betrachten das Refuge als "letztes Stück ursprüngliches Amerika", wollen die Grenze zur Küstenebene als "letzte Pioniergrenze" unangetastet lassen - eine Formulierung, die ab Mitte des 20. Jahrhunderts unter anderem vom Nationalpark-Wissenschaftler George Collins geprägt wurde. Zwar hat das mehrheitlich demokratische Repräsentantenhaus im September einen Gesetzentwurf beschlossen, der die Öffnung der Küstenebene wieder zurücknehmen soll. Um Gesetzeskraft zu erlangen, müsste aber auch der republikanisch dominierte Senat zustimmen - und das ist unwahrscheinlich.

Flather gehört zu einer Gruppe junger Gwich'in, die in den vergangenen Monaten nach Washington gereist ist. Es sei verrückt, sagt sie, dass man so viele Menschen überzeugen muss, um für den Schutz des Gebietes zu stimmen, "wo nur wir hier oben wohnen. Es sind nur wir!" Wegen ihrer Verbindung zum Arctic Refuge sind die Gwich'in geschlossen gegen die Pläne. "Die Karibus brauchen den Ort zum Gebären und um sich um ihre Jungen zu kümmern. Da dürfen sie nicht gestört werden. Das Überleben unseres Volkes hängt von ihnen ab. In unserer Sprache heißt es 'Iizhik Gwats'an Gwandaii Goodlit': der heilige Ort, wo das Leben beginnt."

Studien bestätigen, was Stammesältere immer betont haben: Öl- und Gasindustrie in dem empfindlichen Ökosystem würde Herden dezimieren und damit die Subsistenzkultur der Gwich'in gefährden. Sogar das Umweltgutachten der US-Regierung gibt dies zu. Im September empfahl das zuständige Ministerium dennoch die weitestmögliche Erschließung: Die gesamte Ebene kommt unter den Hammer, voraussichtlich ab Dezember.

Dabei brachte ein viel beachteter Artikel in der Zeitung Politico Unregelmäßigkeiten ans Licht, die zeigen, dass es keine ergebnisoffene Prüfung der Umweltgefährdung gab. Nach Aussage der Gwich'in wurden ihre Communities nicht im vorgeschriebenen Maß konsultiert. Außerdem verlangt eine Vereinbarung zwischen den USA und Kanada von 1987 eigentlich eine Abstimmung bei allem, was die Porcupine-Herde betrifft. Die kanadische Regierung hat sich gegen die Ölförderung ausgesprochen - vergebens. Vier Gruppen, darunter das Gwich'in Steering Committee, klagen nun gegen die US-Behörden wegen Verletzungen von Offenlegungspflichten.

Im Sender ABC rühmte sich US-Präsident Donald Trump

Unten am Fluss hilft Jeneen Frei Njootli ihrem Vater, das Boot leer zu räumen. Er war früher Lehrer, jetzt war er eine Woche auf dem Fluss unterwegs. Die Abbrüche an den Uferseiten machen ihm Sorgen, inzwischen bis zu einem Meter pro Jahr. Durch den tauenden Permafrostboden werden die Ufer porös, brechen ab und bringen die Erde darunter zum Tauen. Auf dem Land gibt es richtige Löcher. In Senken tropft Wasser ins Erdinnere und beschleunigt das Schmelzen.

Njootli ist nur zu Besuch, ab Herbst unterrichtet sie Kunst an der Universität in Vancouver. Auch sie war schon mit in Washington. "Die Karibus sind das Fundament dessen, was wir sind. Aber ich befürchte, die Leute verstehen nicht, dass es hier auch ums international verbriefte Recht auf Nahrung geht", sagt sie, "das Recht, traditionell zu jagen und uns gesund zu ernähren. Die Leute verlagern es, tun die Bedeutung ab, indem sie es als kulturelle Frage sehen anstatt als Versorgungsfrage. Kultur, das ist viel schwieriger zu bemessen."

Im Sender ABC rühmte sich US-Präsident Donald Trump damit, die Öffnung des Refuge sei eine der größten Errungenschaften seiner Amtszeit. Eine Entscheidung, die Menschen in einem Landstrich betrifft, den er vermutlich nie betreten wird. Eine Einmaligkeit der Natur, eine Fragilität und Stille, eine Rauheit, eine Verwobenheit von Menschen, Tieren und Land, von der er nie erfahren wird. Und die es vielleicht in naher Zukunft nicht mehr geben wird - wegen Leuten wie ihm.

"Im Frühling", erzählt Elizabeth Kaye, "im frühen Juni sind sie den Crow River hinaufgefahren, um Gänse zu jagen. Mein Enkel Gavin saß vorn auf dem Boot, weil er so ein guter Schütze ist. Der Crow River windet sich hin und her wie ein Kräuselband. Das Boot zog um eine Kurve herum, da waren schwarze Gänse. Er schoss fünf Gänse. Fünf Gänse!" Elizabeth lächelt. "Er brüstet sich nie, wird nie darüber reden. Nur wenn er gefragt würde." Die Karibus sind nicht mehr gekommen, sie sind zurück nach Alaska gezogen.

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