Klimawandel:Häuser, Straßen und Wälder, die aussehen wie betrunken

Klimawandel: Betonpfeiler stützen in der nordsibirischen Stadt Salechard Gebäude, die auf Permafrost stehen.

Betonpfeiler stützen in der nordsibirischen Stadt Salechard Gebäude, die auf Permafrost stehen.

(Foto: James Hill/laif)

Bauen auf Pudding: In der Arktis schmilzt der Permafrostboden. Architekten und Ingenieure stellt das vor neue, grundsätzliche Probleme.

Von Christopher Schrader

Norilsk war einst eine Metropole. In Zentralsibirien weit über dem Polarkreis gelegen, bot sie 300 000 Menschen in einer unwirtlichen und kargen Landschaft ein Zuhause. Doch die goldenen Zeiten sind vorbei. "Die Stadt ist von 300 000 auf 176 000 Einwohner geschrumpft, und dennoch herrscht massive Wohnungsnot", sagt Nikolai Shiklomanov von der George Washington University in der US-Hauptstadt, der die sibirische Stadt besucht hat. Der Grund ist auf seinen Fotos klar zu erkennen: Norilsk verfällt, seine Häuser sinken ins Erdreich. Ganze Wohnblocks, die auf Stelzen im ewig gefrorenen Boden standen, reißen auf oder bröckeln dahin, weil der Permafrost taut.

Der gefrorene Boden ist seit Jahrzehnten eine gewaltige Herausforderung für Ingenieure, die darauf Häuser, Straßen, Gleise, Brücken oder Pipelines verankern wollen. Er ist in der Arktis allgegenwärtig; wer darauf nicht bauen kann, vermag das Gebiet kaum zu nutzen. Schon wegen der reichhaltigen Rohstoffvorräte aber wollen die Länder am Polarkreis die Region nicht den indigenen Völker überlassen, die hier mit ihren Rentierherden leben oder auf die Jagd gehen. Russland erzielt in Sibirien bei der Förderung von Öl und Gas einen großen Anteil seiner Wirtschaftsleistung.

Doch Infrastruktur erzeugt Wärme im gefrorenen Boden, schon beim Bau und erst recht im Betrieb. Sie verändert die Zyklen von steigenden und sinkenden Temperaturen und vergrößert die "aktive Schicht", die im Wechsel der Jahreszeiten auftaut und gefriert. Selbst wo Ingenieure den Effekt nach allen Regeln ihrer Kunst minimieren, verschärft der Klimawandel ständig die Anforderungen. Schon heute zeigt sich deutlich, was dem hohen Norden bevorsteht.

Manche Straßen in Alaska haben nach all den Ausbesserungen eine meterdicke Asphaltschicht

In der ganzen Polarregion entstehen zum Beispiel ständig neue Thermokarst-Seen: einbrechende Oberflächen, unter denen Eisschichten schmelzen. In Alaska kennt man inzwischen auch "betrunkene Wälder", wo sich Bäume zum Beispiel im Denali-Nationalpark zur Seite neigen, weil der aufgeweichte Boden den Wurzeln weniger Halt bietet. Manche Straßen in der Nähe von Fairbanks haben inzwischen eine drei Meter dicke Asphaltdecke, weil jährlich neue Schichten aufgelegt wurden, um die Fahrbahn gerade zu halten.

Vielleicht müssen sogar ganze Dörfer verlegt werden. 31 Gemeinden von Ureinwohnern seien in Gefahr, hatte der US-Rechnungshof schon 2009 festgestellt. Doch nur im Ort Newtok am Ningliq-Fluss im Yukon-Delta, wo 350 Menschen leben, gibt es konkrete Pläne für einen Umzug. Sie kommen allerdings kaum voran, auch weil die Kosten auf 130 Millionen Dollar (116 Millionen Euro) geschätzt werden. Die Bewohner der Insel Shishmaref, weiter nördlich in der gleichen Region gelegen, haben jetzt den gleichen Beschluss gefasst: Sie wollen auf das Festland umsiedeln.

Kanada sieht ebenfalls große Ausgaben vor sich. 250 bis 420 Millionen kanadische Dollar (170 bis 290 Millionen Euro) könnten hier nötig sein, um Gebäude in den Northwest Territories zu stabilisieren, berichtete 2011 der kanadische Rundfunk CBC. Auch viele Straßen in den Norden wie die berühmten Yukon und Dempster Highways sind gefährdet. Ein besonderes Risiko stellen die früheren Minen dar. Mehr als 10 000 Bergwerke seien ausgebeutet und verlassen, stellte die Umweltgruppe Mining Watch fest. Oft beruht die Stabilität der Dämme, die dort den nach dem Bergbau übrig bleibenden Schlamm zurückhalten, auf permanent gefrorenen Böden.

In Russland vermag die in den 1940er-Jahren gebaute Eisenbahn vom westsibirischen Workuta auf die Jamal-Halbinsel nur noch 30 Prozent der einst geplanten Güter zu befördern, so sehr sind die Gleise inzwischen verbogen, sagt Ivan Sokolov vom internationalen Vermessungs-Unternehmen Fugro: "Meist kann man auf der Strecke nur noch 40 Kilometer pro Stunde fahren - manchmal auch nur vier."

Eine neue Vorschrift in Kanada soll Bauherren zwingen, den Klimawandel einzuplanen

Stark betroffen ist auch die Energiewirtschaft. Die russische Ölindustrie müsse 1,2 Milliarden Euro pro Jahr ausgeben, um Permafrostschäden an ihren Pipelines zu reparieren, berechnete Greenpeace bereits im Jahr 2009. Ohnehin laufe in Sibirien bereits ein Prozent des geförderten Öls durch Lecks aus, nehmen Umweltschützer an: Das wären fünf Millionen Tonnen pro Jahr, mehr als das Fünffache der Deepwater-Horizon-Freisetzung. Geringer wird diese Menge sicher nicht, wenn der Boden unter den Rohren auftaut. Zudem hat Russland auch Kernkraftwerke an der Küste des Polarmeers. Besonders die vier Reaktoren in Bilibino weit im Nordosten machen Beobachtern Sorgen. Sie stehen in einer Permafrost-Hochrisiko-Gegend, und die Sicherheitstechnik ist aus den frühen 1970er-Jahren.

Auf all das reagiert Kanada inzwischen mit verschärften Bauvorschriften, sagt Lukas Arenson, der nach einem Ingenieur-Studium an der ETH Zürich in Kanada arbeitet. Er ist in seiner Wahlheimat am Entwurf einer neuen Baunorm beteiligt. Sie verlangt, bei der Planung von Strukturen auf Permafrost die zu erwartenden Veränderungen durch den Klimawandel zu berücksichtigen. "Das muss in der Praxis als Bemessungswert angewandt werden, so wie dies zum Beispiel für Hochwasser getan wird", sagt er. "Dann sind Bauherren gezwungen, sich darauf einzustellen."

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