Süddeutsche Zeitung

Antarktis:Der "Doomsday Glacier" steht auf der Kippe

  • Der Thwaites-Gletscher ist einer der mächtigsten Gletscher der Antarktis. Falls er ins Meer rutscht, könnte das den Meeresspiegel massiv steigen lassen.
  • Ein großes Forschungsprojekt soll Klarheit bringen, ob der Kipppunkt bereits überschritten ist. Ab diesem Zeitpunkt wäre ein Schmelzen nicht mehr aufzuhalten.
  • Die Arbeitsbedingungen sind vor allem wegen des Wetters extrem schwierig. Erste Messungen etwa zur Wassertemperatur sind jedoch beunruhigend.

Von Angelika Jung-Hüttl

Viele Glaziologen sehen im Thwaites-Gletscher in der Antarktis den wichtigsten, weil gefährlichsten Gletscher der Welt. Manchmal wird er sogar "Doomsday Glacier" genannt, Gletscher des Weltuntergangs, weil sich sein vollständiges Abrutschen ins Meer nach heutiger Kenntnis womöglich nicht mehr stoppen lässt - was den Meeresspiegel langfristig deutlich anheben dürfte.

Wissenschaftler versuchen deshalb schon seit Langem, den Eiskoloss mit Satelliten sowie von Schiffen und Flugzeugen aus immer besser zu vermessen. Im April 2018 gründeten Forscher die International Thwaites Glacier Collaboration (ITGC), um gemeinsam auch direkt in der Antarktis Messungen zu machen und mehr darüber herauszufinden, was das Schwinden des Eisriesen künftig für den Meeresspiegel bedeutet. Das 50-Millionen-Dollar-Projekt läuft noch bis Dezember 2023. Jetzt, im antarktischen Sommer, findet gerade die zweite ITGC-Feldkampagne statt. Sie hat bereits beunruhigende Ergebnisse geliefert.

Der Thwaites-Gletscher ist einer der am schnellsten fließenden und mit gut der doppelten Fläche von Österreich auch einer der mächtigsten Gletscher der Westantarktis. An seiner Front in der Amundsensee verliert er derzeit jährlich fast doppelt so viel Masse wie noch vor 30 Jahren. Sein Schmelzwasser hat bisher vier Prozent zum globalen Meeresspiegelanstieg beigesteuert.

Manche Wissenschaftler campen bis März auf dem Eis, bei Temperaturen bis minus 30 Grad

Dazu kommt, dass der Thwaites-Gletscher durch seinen stetigen Rückzug zunehmend seine Funktion als Bremsklotz verliert, der die gigantische Eismasse des westantarktischen Eisschildes zurückhält. Sollte dieser Eisschild abrutschen, bedeutet das einen allmählichen Anstieg des Meeresspiegels um gut drei Meter. Das würde sogar Hamburg unter Wasser setzen.

Aber noch ist unklar, ob der Gletscher wirklich bereits den Kipppunkt überschritten hat, ab dem nichts mehr das Schmelzen stoppen kann. Und ob sein weiterer Rückzug Jahrzehnte, Jahrhunderte oder noch länger dauern wird - keine unerheblichen Fragen für Millionen Menschen an den Küsten. Das Thwaites-Großprojekt soll Antworten bringen.

Doch einfach ist das nicht. Denn der Thwaites-Gletscher sei "selbst für antarktische Verhältnisse" sehr abgelegen, erklärt David Vaughan vom Britischen Antarktischen Dienst, einer der wissenschaftlichen Leiter des ITGC-Projektes. 1600 Kilometer sind es von dort zur nächsten großen Forschungsbasis, die von den USA betriebene McMurdo-Station. Sie ist der Ausgangspunkt der Feldkampagne.

Die Arbeitsbedingungen sind vor allem wegen des Wetters extrem schwierig. Schon bei der Anreise saßen die Forscher 17 Tage lang auf McMurdo fest. Starke Stürme verhinderten, dass sie mit Propellerflugzeugen, die anstelle von Rädern auf Skiern landen, zum Gletscher weiterfliegen konnten. Auch Tonnen von Ausrüstung, Zelte, Lebensmittel, Messgeräte und Treibstoff mussten aufwendig zum Gletscher transportiert werden. Manche Wissenschaftler campen nun den ganzen antarktischen Sommer hindurch bis März auf dem Eis, bei Temperaturen bis minus 30 Grad Celsius und oft starken Winden.

Eines der sechs Forscherteams der aktuellen Messrunde hat über der sogenannten Grundlinie oder Aufsetzlinie des Thwaites-Gletschers ihr Lager aufgeschlagen. Das ist die Linie, entlang der sich der Gletscher von seinem festen Felsbett tief unter dem Meeresspiegel löst, sich ins offene Meer hinausschiebt und dort als Schelfeisplatte aufschwimmt (siehe Grafik). Der Thwaites-Gletscher ist an dieser Stelle etwa 600 Meter dick.

Etwas jenseits der Grundlinie bohrten die Forscher mit Heißwasser ein 30 Zentimeter breites Loch hinunter zum Meerwasser. Nun kam Icefin zum Einsatz - ein etwa dreieinhalb Meter langer, torpedoförmiger, mit Sensoren und einer Kamera ausgestatteter Tauchroboter. An einem Seil wurde er durch das Loch ins Meerwasser unter das aufschwimmende Eis des Thwaites-Gletschers gelassen. Icefin schwamm rund einen Kilometer weit Richtung Grundlinie, wo die Eiszunge auf dem Gletscherbett aufliegt. "Es war für uns wie ein Spaziergang auf dem Mond", sagt Britney Schmidt von Georgia Tech, der technischen Universität im amerikanischen Atlanta, die Leiterin dieses Bohrprojektes. Erstmals konnten die Forscher einem so wichtigen Eisgiganten beim Schmelzen zusehen.

Für den Laien ist das knapp zweiminütige Video, das von einer der fünf Tauchfahrten veröffentlicht wurde, nicht besonders spektakulär. Es zeigt die zerfurchte Eisdecke des Thwaites-Gletschers in grünlich trübem Wasser. Eine Seeanemone schwebt ins Bild, dann schießt ein kleiner Fisch vorbei. Die Wissenschaftler sind jedoch begeistert. Noch nie zuvor waren sie so nah an der Schlüsselstelle für die Stabilität eines ins Meer mündenden, sich zurückziehenden Gletschers. Hinzu kommen die spektakulären Messdaten des Tauchroboters. Besonders die Wassertemperatur, die entlang der Grundlinie bei etwa plus zwei Grad Celsius liegt, weit über dem Schmelzpunkt. Dies bestätigt Messungen an anderen Gletschern in Arktis und Antarktis: Sie schmelzen aufgrund wärmerer Wasserströmungen von unten.

Doch woher kommt das warme Wasser im kalten antarktischen Meer? Aus der Tiefe. Im Zirkumpolarstrom rund um den Südpolkontinent vereinigt sich das Wasser aus Indik, Pazifik und Atlantik. Normalerweise kühlt dieses Wasser an der Oberfläche ab, sodass eine Hunderte Meter mächtige Schicht aus kaltem Wasser von minus zwei Grad Celsius - das ist die Temperatur, bei dem Salzwasser zu frieren beginnt - über dem wärmeren Tiefenwasser liegt.

Die Form des Untergrunds kann dazu führen, dass der Gletscher unaufhaltsam ins Meer abrutscht

Aber das hat sich verändert. "Aufgrund des Klimawandels erwärmen sich die Ozeane weltweit, die Zugbahnen der Tiefdruckgebiete verändern sich. Dadurch ändern sich auch die Strömungsverhältnisse und die an sich stabile Wasserschichtung in den verschiedenen Meeren - auch in der Antarktis", sagt der Glaziologe Olaf Eisen vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven, der an der nächsten ITGC-Feldkampagne am Thwaites-Gletscher beteiligt ist. Heikel ist es auch, wenn das Meereis fehlt: "Dann können die oft starken Westwinde die oberste Wasserschicht wegtreiben, wärmeres Tiefenwasser strömt von unten nach und unter das Schelfeis hinein", sagt Eisen.

So kommt es, dass das warme Tiefenwasser immer weiter nach oben gelangt und nahe der Oberfläche unter den aufschwimmenden Gletscher fließt. Dort schmilzt es dessen Eis und treibt die Aufsetzlinie immer weiter zurück. "Nun kommt die Bodentopografie ins Spiel", erläutert Eisen. Der Meeresgrund fällt von dieser Schwelle zum Innern des antarktischen Kontinents hin immer weiter ab. Diese besondere Form des Untergrunds kann zusammen mit dem warmen Wasser dazu führen, dass sich das Zurückweichen des Gletschers von selbst verstärkt, sodass es - einmal in Gang gesetzt - nicht mehr aufzuhalten ist.

Anders Levermann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) ist überzeugt, dass dieser Kipppunkt bereits überschritten ist, und beruft sich dabei auf jüngste Auswertungen von Satellitenbildern, Radarmessungen und Modellrechnungen. "Das Schmelzen ist sozusagen der Startpunkt", erklärt Levermann. "Weil das Eis unter seinem eigenen Gewicht ins Meer fließt, setzt sich dadurch eine Instabilitätsdynamik in Gang". Die gigantische Eismasse des Thwaites-Gletschers fließe immer weiter, "und umso schneller, je dicker sie ist."

Solange der Boden zum Inland hin abfällt, wie es unter dem Thwaites-Gletscher der Fall ist, wird das Eis über der Grundlinie immer dicker; bis zu insgesamt knapp 4000 Meter, halb unter-, halb oberhalb des Meeresniveaus. So beschleunigt sich das Fließen immer weiter.

Allerdings wirken auch noch andere Faktoren auf den Prozess ein, etwa Spannungen in der Eisdecke. Darum bleibt die Frage umstritten, ob der Kollaps der Westantarktis wirklich bereits unaufhaltsam im Gang ist, und selbst wenn es so sein sollte, wie lange das Ganze dauern dürfte. Das große Thwaites-Forschungsprojekt soll nun mehr Klarheit bringen. Für die Forscher eindeutig Grund genug, etwas Camping unter Extrembedingungen in Kauf zu nehmen.

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Quelle:
SZ vom 07.02.2020
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