Süddeutsche Zeitung

Klimawandel:"2010 wird das wärmste Jahr der Geschichte"

Kurz vor dem Klimagipfel im mexikanischen Cancun richten internationale Forscher dramatische Appelle an Politik und Wirtschaft.

Markus Balser

Das Tief, das Anfang August die Flut brachte, entstand über dem Mittelmeer, es passierte die Alpen ostwärts und nahm Kurs auf Polen. Dann blieb es am Erzgebirge hängen. In drei Stunden stiegen Pegel ostdeutscher Flüsse um bis zu vier Meter.

Es war das Wochenende, an dem auch in Pakistan Regenfälle von apokalyptischem Ausmaß niedergingen und Russland mehr als 800 Feuer meldete. Lord Nicholas Stern erinnert sich noch gut an die Nachrichten Anfang August. "Ich war sehr beunruhigt", sagt der einflussreiche Klimaexperte der Süddeutschen Zeitung.

Vor dem am Montag beginnenden Klimagipfel von Cancun fordert Stern die internationale Staatengemeinschaft in einem eindringlichen Appell zum Handeln auf. "Die Folgen des Klimawandels schreiten schneller voran als erwartet", sagt Stern. Die globalen Emissionen müssten stärker gesenkt werden, als bislang angenommen.

Um irreparable Schäden der Erderwärmung noch abzuwenden, müsse die Welt ihren Schadstoffausstoß bereits bis 2020 um zehn Prozent senken. Bislang strebt die Staatengemeinschaft an, lediglich die Zunahme der Emissionen bis zum Ende des Jahrzehnts zu stoppen.

Die Warnung des Direktors des Grantham-Instituts für Klimawandel und Umwelt an der London School of Economics hat Gewicht. Vier Jahre ist es her, dass Stern zuletzt mit einem internationalen Appell die gefühlte Temperatur auf dem Planeten schlagartig in die Höhe schnellen ließ. Zusammen mit Großbritanniens Ex-Premier Tony Blair veröffentlichte der Ökonom 2006 seinen Stern-Report.

Dessen Botschaft alarmierte Regierungen überall auf der Welt: Auf 5,5 Billionen Euro schätzte der die Kosten der Erderwärmung. Stern ruft die Staatengemeinschaft nun dazu auf, sich nach dem geplatzten Gipfel von Kopenhagen Ende 2009 endlich auf ein effektives Klimaabkommen zu einigen.

"Die Klimarisiken sind größer als gedacht", warnt Stern. "Die Temperaturen steigen weltweit an. Alles deutet darauf hin, dass 2010 das wärmste Jahr und diese Dekade das wärmste Jahrzehnt der Geschichte werden." Wetterextreme hätten vor allem mit den Fluten in Pakistan ein bislang unbekanntes Ausmaß erreicht. Auch neue Statistiken sprechen eine deutliche Sprache. Nicht nur die Intensität, auch die Zahl der Naturkatastrophen steigt.

"Mit mehr als 800 wetterbedingten Schadensereignissen bis Mitte November ist jetzt schon klar, dass 2010 unter allen erfassten Jahren ganz vorne liegen wird", sagt der Vorstand des weltweit größten Rückversicherers Munich Re, Thorsten Jeworrek, der SZ. "Die stärksten Anstiege sehen wir in Asien. Dort ist auch der Temperaturanstieg am größten." Das Fazit des Managers: "Die Folgen des Klimawandels haben uns längst erreicht."

Vor allem eine Erkenntnis beunruhigt Klimaforscher: "Während geophysikalische Ereignisse wie Vulkanausbrüche seit 1980 vergleichsweise stabil geblieben sind, hat sich die Zahl meteorologischer Ereignisse und die von Fluten und Überschwemmungen etwa verdreifacht", sagt Jeworrek. Die Notwendigkeit verbindlicher Klimaziele werde immer drängender. "Die Politik muss handeln, sonst tragen künftige Generationen eine schwere Last. Wir zahlen heute nicht den Preis für die Kosten, die wir verursachen.

Deshalb müsste eine verbindliche Kohlendioxid-Reduktion auf der Tagesordnung des Weltklimagipfels in Cancun stehen", sagte Jeworrek weiter. Das Register des Milliardenkonzerns gilt als einer der wichtigsten Indikatoren für Veränderungen in der Erdatmosphäre. Schon seit den siebziger Jahren dokumentiert das Unternehmen Zahl und Intensität von Naturkatastrophen.

Noch deutet nichts darauf hin, dass die Appelle von Fachleuten wie Stern und Jeworrek fruchten. Nach der Pleite von Kopenhagen droht auch auf dem Weltklimagipfel in Cancun wegen des Widerstands vor allem von China und den USA Stillstand. Die Welt bewege sich in Cancun dennoch auf eine neue politische Architektur zu, sagt Stern voraus. "Wir erleben den Beginn einer neuen Ära", so der Forscher aus London. "Es gibt keine Supermacht mehr, die die Welt anführt. Die USA haben diesen Status endgültig verloren."

Die großen Volkswirtschaften müssten rasch einen Weg finden, um das Vakuum zu füllen. "Wichtige Länder müssen bereit sein, sich in Gruppen wie der G20 zusammenzutun, um sich Klimaziele zu setzen", fordert Stern. Denn die Aussichten auf die Verabschiedung eines globalen Abkommens in Cancun seien gering.

Stern warnte davor, den Klimaschutz nur als teure Last zu begreifen. "Er setzt eine industrielle Revolution in Gang, von der viele profitieren werden. Europa und Asien haben gute Chancen, diese Märkte in den nächsten zehn Jahren anzuführen." Umweltsündern drohten dagegen auch wirtschaftlich große Schäden: "Die Gefahr neuer Umweltzölle wächst weltweit."

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SZ vom 26.11.2010/mcs
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