Klimaschutz:"Noch sind wir zu retten"

Jeffrey Sachs, Ökonom und Entwicklungsberater der Vereinten Nationen, appelliert an den Verstand der gesamten Menschheit: Ihr Wissen kann Naturkatastrophen und soziales Elend zugleich verhindern.

Andrian Kreye

SZ: Professor Sachs, wie geht es der Welt heute: besser oder schlechter als vor 20 Jahren?

Jeffrey Sachs

Jeffrey Sachs

(Foto: Foto: Laif)

Den Menschen geht es besser, wenn man einmal von Regionen wie Afrika absieht. Der Lebensstandard, die Lebenserwartung und die Gesundheitsbedingungen haben sich gut entwickelt. Allerdings hat sich die ökologische Lage verschlechtert, denn unsere Lebensqualität verdanken wir zum Großteil der schnellen Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Darüber, wie wir unseren hohen Lebensstandard langfristig halten könnten, haben wir uns bisher kaum Gedanken gemacht.

SZ: Spielen Sie darauf an, dass die fossilen Brennstoffe in naher Zukunft erschöpft sein werden und dass dies auch das Ende unseres Wirtschaftssystems bedeuten könnte?

Nein, so etwas ist überhaupt nicht sicher, und mir geht es auch gar nicht darum, ob uns vielleicht irgendwann das Öl ausgeht. Entscheidend sind weniger die Probleme unseres Wirtschaftssystems, sondern vielmehr jene, vor denen unser Ökosystem steht: Was für Auswirkungen haben der Klimawandel, die Zerstörung von Biotopen, die Ausbeutung unterirdischer Frischwasserquellen oder die Überfischung der Meere?

SZ: Kaum jemand glaubt, drastische Umweltveränderungen einmal selbst zu erleben. Studien sagen dagegen, dass es schon im Jahr 2040 nicht mehr möglich sein wird, in den Alpen Ski zu fahren oder Fisch zu kaufen, der auf offener See gefangen wurde.

Das alles wird passieren, wenn wir nicht zur Vernunft kommen. Wir haben nach wie vor die Möglichkeit, diese Entwicklung zu verhindern. Noch sind wir zu retten. Das Problem ist nur, dass Menschen traditionell kurzfristige Lösungen bevorzugen. Wir sind nicht sehr gut darin, die Zukunft in unsere Überlegungen mit einzubeziehen, obwohl das im Moment die Herausforderung schlechthin wäre. Mit anderen Worten: Wir könnten den Reichtum unserer Meere bewahren, wenn wir uns endlich mehr um Fischzucht und Fischfarmen kümmern würden. Aber wir schaffen es nicht einmal, die Zerstörung der Korallenriffe zu verhindern.

SZ: Das klingt nach einem allgemeinen psychologischen Problem, das die Menschheit nur schwer lösen kann.

Ja, wir handeln irrational und machen uns das zu wenig bewusst. Es gibt massive Umweltzerstörungen ohne jeden wirtschaftlichen Nutzen, aber eine ernsthafte Debatte über mögliche Lösungen hat es auch im vergangenen Jahr nicht gegeben. So ist das bei sehr vielen Themen. Uns lähmt zum Beispiel dieser furchtbare und vollkommen falsch angegangene Krieg im Irak, aber der Präsident schickt noch mehr Soldaten, obwohl längst klar ist, dass das nichts bringt. Unser schrecklich uninspiriertes Denken, ausgerichtet auf schnelle und von mächtigen Interessen forcierte Erfolge, führt an Abgründe.

SZ: Ist das Denken vielleicht zu sehr ökonomisch inspiriert und vom Shareholder-Value- Konzept geprägt?

Nein, die privaten Unternehmen handeln meiner Ansicht nach gar nicht am kurzsichtigsten. Denken Sie nur an die privaten Milliardeninvestitionen in die Biotechforschung. Am kurzsichtigsten handeln die Regierungen. Die Unternehmen interessieren sich für Veränderungen, aber zeigen Sie mir in meinem Land einen Politiker, der sich ernsthaft mit den wirklichen Problemen unserer Zeit auseinandersetzt und etwas tun will.

SZ: Es sieht immerhin so aus, also würde sich langsam etwas ändern. Der ehemalige US-Vizepräsident Al Gore kritisierte noch vor wenigen Jahren, dass im Grunde kein Mensch etwas vom Klimawandel wisse. Inzwischen gehört die globale Erwärmung zum Allgemeinwissen.

Keine Frage, es tut sich etwas. Aber nur deshalb, weil der Klimawandel keine Zukunftstheorie ist, sondern Realität. Wir können heute schon erleben, dass es in Kitzbühel im Winter nicht schneit, wir sehen Hurrikan Katrina im Fernsehen, die verheerenden Taifune in Asien und die katastrophalen Dürreperioden in Australien. All das sind Anzeichen für einen selbstverschuldeten Klimawandel. Und weil wir es mit eigenen Augen sehen, wachen wir langsam auf. Es gibt inzwischen ein Bewusstsein für die Risiken, denen wir ausgesetzt sind, aber die Fähigkeit der Politik, langfristiges Denken und Handeln der Öffentlichkeit verständlich zu vermitteln, ist leider immer noch sehr schwach ausgebildet.

SZ: Wir reden hier über ein Problem der westlichen Industrienationen. Aber wer erklärt dieselben Inhalte den gerade erst entstandenen, aufstrebenden Wirtschaftsmächten China, Russland und Indien?

Ein gigantisches Problem! China wird bald das Land mit dem höchsten Ausstoß an Treibhausgasen sein. Nach manchen Schätzungen ist es schon 2010 so weit, doch bis vor Kurzem wusste davon noch niemand. Ein ganz ähnlicher Fall ist Indien. Wenn wir diese Entwicklung unter Kontrolle halten wollen, müssen wir China und Indien in Zukunft viel stärker in die internationalen Prozesse einbeziehen. Wenn wir Politiker hätten, die dieser Aufgabe gewachsen wären, könnten wir die beiden Länder auch sicher dafür gewinnen. Unglücklicherweise haben sich die Vereinigten Staaten in der Vergangenheit mit weitem Abstand am unverantwortlichsten verhalten. Für Präsident Bush hat es all die Probleme, über die wir gerade sprechen, bisher eigentlich gar nicht gegeben.

SZ: Verhält sich Europa denn vorbildlicher?

Der öffentliche Diskurs lässt auch dort ziemlich zu wünschen übrig. Uns Amerikanern wird grundsätzlich erzählt, alles sei in bester Ordnung. In Europa ist das ähnlich, nur sind die Herausforderungen dort größer: Sie liegen nicht allein in der Umweltzerstörung, sondern auch in der direkten Konfrontation mit einem Teil der Welt, der vom wirtschaftlichen Wachstum inzwischen komplett abgeschnitten ist. Dem Untergang Afrikas einfach nur zuzusehen, wäre für Europa völlig falsch, denn früher oder später wird sich die afrikanische Krise auch nach Norden auswirken. Wahrhaben will das allerdings niemand. Wenn ich mit europäischen Politikern über Afrika spreche, erzählen die mir immer nur, wie viel sie schon gemacht haben.

"Noch sind wir zu retten"

SZ: Die klassische Stammtischfrage, die Politiker in diesem Zusammenhang gern stellen: Warum müssen wir eigentlich helfen?

Raubbau im Amazonasgebiet

Ein Wald im Amazonasgebiet von Brasilien brennt.

(Foto: Foto: Reuters)

Ganz einfach: Weil Europa einen hungernden und instabilen Kontinent vor der Haustür hat, auf dem heute 800 Millionen Menschen leben und voraussichtlich bald 1,8 Milliarden. Hunger hemmt die demographische Entwicklung nur minimal. Alles, was Afrika momentan auszeichnet, ist die dramatische Verbreitung von Infektionskrankheiten, die Konflikte am Horn von Afrika, die Migration - all das wird früher oder später auch die Stabilität Europas gefährden, wenn sich niemand darum kümmert.

SZ: Wie kann so etwas Europa gefährden?

Gegenfrage: Wie kommt man eigentlich darauf, dass das Pulverfass am Horn von Afrika, dass die Konflikte in und zwischen Ländern wie Eritrea, Äthiopien, Somalia, Sudan und Tschad, nichts mit uns zu tun haben? Wie viele Menschen ertrinken auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer? Wie viele überleben und werden illegale Migranten? Irgendwann muss jemand Alarm schlagen und sagen: Das alles geht uns unmittelbar an!

SZ: Europa und Amerika tendieren in Fragen der Entwicklungshilfe zurzeit zu einer eher konservativen Politik. Hilfe soll es nur dann geben, wenn klar geregelt ist, wer im jeweiligen Land die Verantwortung trägt. Halten Sie das für falsch oder vernünftig?

Sie ist vernünftig, aber im Fall von instabilen Regionen, in denen geholfen werden muss, leider völlig unbrauchbar. Sie können doch nicht einfach nur mit der Zunge schnalzen und darauf hinweisen, dass die Lage leider nicht stabil genug ist, um zu helfen. Die Frage ist nicht, ob verarmte, instabile Gegenden gut regiert werden, denn üblicherweise werden sie das nicht. Die Frage ist, ob gezielte Hilfe die Situation in solchen Regionen sinnvoll verbessern kann. Und diese Frage beantworte ich ganz klar mit Ja.

SZ: Auch wenn die Gefahr besteht, dass korrupte Regierungen das nötige Geld einstreichen und gezielte Hilfsprojekte erschweren?

Ja, zur Hilfe gibt es keine Alternative. Nur sie macht es möglich, gefährliche Krankheiten in den Griff zu bekommen. Nur Entwicklungshilfe ermöglicht, Geburtenraten zu kontrollieren, Schulen zu bauen und den Wassermangel zu beheben, der etwa die Krise in Dafur immer wieder anheizt. Die einfachste Antwort auf die Frage, warum sich die meisten Krisenregionen nicht selbst helfen können, ist, dass Gegenden mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 200 Dollar sich nicht selbst regieren. Es geht mir nicht darum, die Moralkeule zu schwingen. Ich will nur sagen, dass ein paar ganz praktische Dinge getan werden müssen, denn unsere Lage ist nicht gerade gut - und sie verschlechtert sich von Tag zu Tag.

SZ: Nach Ihren Berechnungen wären nicht einmal astronomische Summen nötig, um die Situation zu verbessern. 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts der wohlhabenden Länder würden ausreichen - ein Anteil, der bei den Vereinten Nationen seit 1970 erklärtes Ziel ist und den Europas Geberländer bis 2015 tatsächlich erreichen wollen.

Ach, denken Sie nur mal daran, wie schwierig es ist, für irgendetwas so einen Teil des Bruttosozialprodukts in Deutschland zu bekommen! Über solche marginalen Budgetfragen stürzen heutzutage Regierungen. Politiker sind besessen von Ein-Prozent-Streits. Das ist sehr traurig. Zugeben würde das natürlich niemand, aber so ist es. Es gibt in Europa seit 2005 tatsächlich ein Abkommen darüber, die Entwicklungshilfe bis 2010 zu verdoppeln und bis 2015 zu verdreifachen. Aber glauben Sie bloß nicht, dass es auch die ernsthafte Absicht gibt, es so weit kommen zu lassen.

SZ: Europa befindet sich in einer besonderen Situation. Trotz all der Schwierigkeiten, die Sie genannt haben, gibt es eine Menge guter Entwicklungen: die enge Nachbarschaft, das gemeinsame, große Verständnis für die Situation in der Dritten Welt, eine gemeinsame Kommission und ein Parlament. Woher kommt Ihrer Meinung nach die Tatenlosigkeit Europas gegenüber Afrika?

Es liegt an der Haushaltspolitik. Keiner in Europa glaubt daran, irgendwelche Ziele erreichen zu können. Man wartet lieber bis zur nächsten Wahl, bevor heikle Themen wieder thematisiert werden. Es gibt zu viele Zweifel und deshalb in Afrika keine Chance, die Nahrungsmittelproduktion, den Infrastrukturaufbau oder den Kampf gegen die Malaria auch nur zwei Jahre im Voraus zu planen. Wir stecken fest, müssen um minimale Beträge kämpfen und warten Jahr für Jahr auf das große Geld. Dabei sollten wir uns längst ernsthafte Gedanken darüber machen, was wir mit den versprochenen 50 Milliarden Dollar in Afrika überhaupt anstellen wollen.

SZ: Wofür plädieren Sie?

Zunächst einmal dafür, dass Ihr Euer Vorhaben verwirklicht, verehrte Europäer! Begreift außerdem, dass Euch in den nächsten Jahren noch viel mehr Geld zur Verfügung stehen wird und plant entsprechend! Europa würde es dann noch viel besser gehen als jetzt. Stattdessen aber herrscht eine Menge Zynismus. Ich glaube nicht, dass man sich in Europa wirklich dafür interessiert, worüber sie 2005 abgestimmt haben.

"Noch sind wir zu retten"

SZ: George Bushs großes Hilfsprogramm für Afrika klang ebenfalls vielversprechend, wurde aber nie in die Tat umgesetzt.

Es ging um vier Milliarden Dollar. Vielversprechend klang das nur für die, die nicht wussten, dass die USA jedes Jahr 550 Milliarden Dollar für das Militär ausgeben - Tendenz steigend. Unsere Untätigkeit verblüfft umso mehr, als ja unübersehbar ist, dass die Gewalt am Horn von Afrika eskaliert. Aber wir sind wie paralysiert und denken, es sei damit getan, einfach noch mehr Friedenstruppen hinzuschicken.

Die Wurzeln der Probleme jedoch - Wassermangel, Hunger, Krankheiten, eine katastrophale Infrastruktur, das Abgeschnittensein vom Welthandel - kann keine Armee lösen. Trotz Vietnam und Irak- Krieg haben wir noch immer nicht begriffen, dass die Army zwar hervorragend Amerika verteidigen und Städte bombardieren kann, aber weder Länder besetzen noch Regionen stabilisieren oder gar politische Systeme verändern. Das alles ist allein Sache der Politik.

SZ: Und der politische Weg sollte vor allem Entwicklungshilfe sein?

Genau deshalb müssen wir in den Vereinigten Staaten unsere Einstellung in dieser Hinsicht dramatisch ändern. Ganz abgesehen davon, dass in der Zwischenzeit der Aufstieg Asiens die gesamte geopolitische Situation verändert hat. Während wir noch lang und breit darüber diskutieren, ob wir überhaupt Entwicklungshilfe leisten sollen, hat die chinesische Regierung im vergangenen November in Peking 40 afrikanische Staatschefs empfangen. Da wurde vorbildliche, moderne Geopolitik gemacht.

SZ: Auch nichtstaatliches Engagement ist mittlerweile konkurrenzfähig. Bill Gates bekämpft in Afrika Seuchen mit einem höheren Budget als die Weltgesundheitsorganisation. Was halten Sie von Privatinitiativen?

Dagegen ist nichts einzuwenden. Warren Buffett und Bill Gates helfen wohl mit etwa drei Milliarden Dollar. Sie können damit sicher innovative und nützliche Projekte anstoßen, die sie sich von niemandem genehmigen lassen müssen. Aber Afrika braucht jedes Jahr 50 bis 75 Milliarden Dollar. Private wird staatliche Hilfe nicht ersetzen können.

SZ: Und was hielten Sie von der Entscheidung, den diesjährigen Friedensnobelpreis an den bengalischen Wirtschaftswissenschaftler Muhammad Yunus zu vergeben, den Begründer der Grameen-Bank, die Mikrokredite an die Ärmsten vergibt?

Es hat mich gefreut. Die Aufmerksamkeit wurde dadurch wieder auf Entwicklungsfragen gelenkt und es wurde über eine so nützliche Idee wie die Mikrofinanzierung gesprochen. Prinzipiell ist aber auch die Mikrofinanzierung nur ein Mittel unter vielen. Ein Chirurg arbeitet ja auch nicht nur mit dem Skalpell. In den ärmsten Gegenden der Welt werden vor allem Krankenhäuser und Moskitonetze gebraucht.

Mit Mikrofinanzierung kommen sie da nicht weit. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Mikrofinanzierung ist eine sehr gute Idee, und Muhammad Yunus hat den Preis verdient. Aber es darf dadurch auf keinen Fall der Eindruck entstehen, der Markt könne alle Probleme lösen. Das ist viel zu einfach gedacht. So denken nur die Gegner der Entwicklungshilfe.

SZ: Mr. Sachs, blicken Sie zurzeit eigentlich eher optimistisch oder eher pessimistisch in die Zukunft?

Die Geschichte hat gezeigt, dass wir unser Schicksal beeinflussen können. Ich halte deshalb zwei Szenarien für etwa gleich plausibel: Entweder wir werden immer misstrauischer und engstirniger, dann werden wir auch immer mehr Naturkatastrophen und Kulturkämpfe erleben. Oder - und daran glaube ich fest - wir schaffen es dank unseres technischen Wissens und den damit verbundenen Möglichkeiten, die Zukunft positiv zu gestalten. Unser Problem ist nicht, dass uns bald irgendeine Ressource ausgeht. Unser Problem ist, dass wir unfähig sind, wirklich miteinander zu kooperieren.

SZ: Mit anderen Worten: Wir sind im sozialen Sinn noch nicht reif für die Globalisierung?

Wenn wir verstehen, dass wir die wirklich drängenden Probleme alle miteinander teilen, dass es globale Probleme sind, dann werden wir auch merken, was für unglaubliche Ressourcen uns zur Verfügung stehen, um die Probleme zu lösen. Wenn wir das nicht einsehen, wird es weiter all die Konflikte auf der Erde geben, die wir doch eigentlich satthaben sollten. Wenn ich an die Zukunft denke, bin ich also weder optimistisch noch pessimistisch. Ich denke, dass wir die Chance haben, bessere Entscheidungen zu treffen.

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