Mit dem Klimaschutz, sagt Patrick Graichen, sei es ein bisschen so wie mit einem Zug. Erst steige man vom Regionalzug auf den ICE um. Und dann brauche der einen Moment, um Fahrt aufzunehmen. "Danach geht es darum, das Tempo zu halten." Oder vielleicht noch einen Zahn zuzulegen. "Da geht mehr", glaubt Graichen.
Graichen ist Chef des Berliner Thinktanks Agora Energiewende. Zusammen mit der Stiftung Klimaneutralität und der Mobilitätsschwester Agora Verkehrswende hatte er im vergangenen Herbst einen Plan für ein treibhausgasneutrales Deutschland vorgestellt. Schon dieser Plan war nicht ohne. Bis 2050 sollten darin erneuerbare Energien und grüner Wasserstoff komplett die Rolle fossiler Energien übernehmen. Sonnen- und Windenergie würden dafür massiv ausgebaut, Elektroautos endgültig die Straßen erobern. Gebäude würden bis dahin weniger Wärme verschwenden und konsequent mit erneuerbaren Energien beheizt, die Industrie ihre Prozesse auf den Energieträger Wasserstoff umstellen. Verglichen mit der bisherigen deutschen Klimapolitik wäre das nach Graichens Lesart der Umstieg vom Regionalzug in den ICE.
Doch das alles ginge auch schneller, rechnen die drei Denkfabriken nun in einer neuen Studie vor, nämlich schon bis 2045. Schneller, höher, weiter: Jener Leitsatz von Wettbewerb und Wachstum, der im fossilen Zeitalter die Klimakrise ausgelöst und beschleunigt hat, soll nun auch für den Ausweg aus der Krise gelten. "Und die Kernbotschaft ist: Der Industriestandort bleibt erhalten", sagt Graichen. Im globalen Wettbewerb soll der schnellere Schwenk ins postfossile Zeitalter der deutschen Industrie sogar noch helfen. Und der Atmosphäre bliebe fast eine Milliarde Tonnen CO₂ deutscher Herkunft erspart.
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Für die laufende Dekade soll sich gegenüber der ersten Klimaneutralitäts-Studie kaum etwas ändern. Als Richtwert unterstellte sie ein schärferes Klimaziel für Deutschland: minus 65 Prozent bis 2030, gemessen an den Emissionen des Jahres 1990. Schon angesichts der schärferen Klimagesetzgebung der EU ist es nicht einmal unwahrscheinlich, dass dies das nächste deutsche Klimaziel wird; derzeit liegt es noch bei 55 Prozent minus.
2030 müssten die letzten Kohlekraftwerke vom Netz
Aus diesem höheren Klimaziel leitete die erste Studie eine Reihe von Konsequenzen für die einzelnen Sektoren ab. So müssten schon bis 2030 die letzten Kohlekraftwerke vom Netz, und nicht erst spätestens 2038, wie es der deutsche Ausstiegspfad vorsieht. 70 Prozent des Stroms müssten aus erneuerbaren Quellen stammen, allen voran aus Wind und Sonne. Der wiederum soll auch 14 Millionen Elektroautos antreiben, plus sechs Millionen Wärmepumpen. Die Industrie müsste beginnen, in ihren Prozessen Wasserstoff einzusetzen.
Tschernobyl:"Ungeeignet für eine dauerhafte Besiedlung"
Vor 35 Jahren kam es in Tschernobyl zur Atomkatastrophe. Obwohl die Radioaktivität vor Ort zurückgeht, sei die Umgebung um den Reaktor noch immer alles andere als sicher, sagt der Radiologe Martin Steiner. In Deutschland müssen vor allem Pilzsammler vorsichtig sein.
An diesem Fahrplan hält die neue Studie fest. "Wir müssen auch anerkennen, dass sich die Umbaugeschwindigkeit nicht ins Unermessliche steigern lässt", sagt Rainer Baake, einstiger Umwelt- und Wirtschaftsstaatssekretär und heute Kopf der Stiftung Klimaneutralität. Es gehe "um die richtige Mischung aus Schnelligkeit und Realismus". Richtig beschleunigen sollen sich die Dinge deshalb erst nach 2030.
Wieder stehen im Zentrum erneuerbare Energien. Schließlich sollen sie nicht nur Strom für Elektroautos und Wärmepumpen bereitstellen, sondern auch - per Elektrolyse - grünen Wasserstoff. In fast allen industriellen Prozessen könnte er fossile Energie ersetzen. Er könnte in Flugzeugen, Schiffen oder im Schwerlastverkehr zum Einsatz kommen und weite Teile des Güterverkehrs klimafreundlich machen.
Technischer Fortschritt ist das zentrale Element der Strategie
So war schon die erste Studie davon ausgegangen, bis 2030 Solarzellen mit einer Leistung von 150 Gigawatt ans Netz zu bekommen - fast dreimal so viel, wie derzeit angeschlossen sind. Für die Zeit nach 2030 rechnen die drei Thinktanks nun mit einem Zubau von 19 Gigawatt pro Jahr. Gegenüber der laufenden Dekade würde sich das Tempo damit nahezu verdoppeln. Bei der Windenergie an Land ist der Ausbau zwar stetiger. Durststrecken wie in den vergangenen Jahren aber wird sich das Land nicht mehr leisten können.
Bewerkstelligen soll die Klimaneutralität vor allem technischer Fortschritt. Was sich nicht durch erneuerbare Energie und ihre Derivate substituieren lässt, soll der Atmosphäre entzogen und gespeichert werden - etwa CO₂-Emissionen, die bei der Stromerzeugung aus Biomasse anfallen. So ließen sich etwa Emissionen aus der Landwirtschaft ausgleichen, die sich technisch nicht vermindern lassen. Man beschreibe eine Strategie "ohne verordnete Verhaltensänderungen", heißt es in der Studie. Zwar kalkuliert sie mit solchen Änderungen, etwa mit einem höheren Anteil von Fleischersatzprodukten. Das aber einer angenommenen Nachfrage wegen. "Ich bin überzeugt, dass sich die Gewohnheiten ändern", sagt Graichen.
Geändert hat sich schließlich auch das globale Umfeld. Mittlerweile peilen alle großen Industrienationen die Klimaneutralität bis 2050 an, seit Kurzem auch die USA. Damit setze ein Rennen gegen die Zeit ein, sagt Baake. Und weil es eben um neue Technologien gehe, würden die Schnellsten belohnt. "Wer im Geleitzug läuft, gewinnt keinen Vorsprung", sagt er.