Die bekannteste Zahl des Klimawandels hat es nicht leicht. Sie muss sich als mutloser Minimalkonsens schmähen und als unerreichbare Utopie verhöhnen lassen. Mit "noch" oder "nicht mehr" versehen, wird sie vereinnahmt, um politische Absichten zu verkünden oder zu verbrämen, um zu entschlossenem Handeln zu animieren oder Fatalismus zu transportieren. Sie wird als "Ziel" oder genauer als "Grenze" gepriesen, dabei dürfte sie, wenn sich nicht viel ändert, zur überfahrenen Wegmarke werden.
Die Zwei mit dem kleinen Kringel, sie ist zur Chiffre geworden für das Gezerre um den Klimaschutz. Perfekt verkörpert sie seine charakteristische Melange aus Wissenschaft und Politik. Und sie ist praktisch der einzige Erfolg von 19 Klimagipfeln - der 20. geht in der peruanischen Hauptstadt Lima gerade in die entscheidende Phase. Vor vier Jahren, im mexikanischen Cancún, haben sich die Staaten der Welt verpflichtet, die Erwärmung des Planeten auf zwei Grad Celsius gegenüber der Zeit vor der industriellen Revolution zu begrenzen. Sie füllten damit eine Leerstelle der Konvention von Rio de Janeiro: Damals, im Jahr 1992, hatten 194 Nationen unterschrieben, gefährliche Eingriffe der Menschheit in das Klimasystem zu verhindern. In Cancún stellten sie klar: Gefährlicher Klimawandel beginnt bei zwei Grad.
Die mathematische Präzision der Zahl ist Illusion. Der Wert wurde politisch festgelegt
Die mathematische Präzision, die ein solcher Zahlenwert ausstrahlt, ist in diesem Fall jedoch reine Illusion. Die Festlegung war politisch motiviert, die Staaten wollten sich Handlungsspielraum verschaffen. Die eingetretene Erwärmung, meldete die Meteorologische Weltorganisation nach Cancún, betrug 0,8 Grad Celsius,mehr als die Hälfte der 1,5 Grad, die eine große Anzahl von Staaten als maximal zu erlaubende Erwärmung favorisierte. So einigte man sich auf zwei Grad als politischen - viele sagen: faulen - Kompromiss. Doch die Zahl hat auch eine Basis in der Wissenschaft. Sie ist sozusagen der Punkt auf der Temperatur-Skala, an dem die Mitglieder des Weltklimarats IPCC sagen: Hic sunt dracones. So wurden auf alten Seekarten Gebiete gekennzeichnet, wo abergläubische Seeleute Drachen vermuteten, wo Untiefen und Riffe, gefährliche Strömungen und unkalkulierbare Winde ihre Schiffe bedrohten. Eine deutliche Zunahme ähnlich unbeherrschbarer, schwerer Risiken erwarten auch die Klimaforscher der zuständigen IPCC-Arbeitsgruppe II jenseits der Erwärmung von zwei Grad. "Die Zwei-Grad-Grenze ist im Augenblick die beste Schätzung, wo die Linie gezogen werden sollte", sagt Chris Field von der kalifornischen Carnegie Institution, Ko-Vorsitzender der Arbeitsgruppe.
Das zentrale Diagramm, um die Bedrohung zu veranschaulichen, ist 15 Jahre alt. "Die Grafik hat viel zum Verständnis der teils abstrakten Problematik Klimawandel beigetragen", sagte schon vor fünf Jahren Hans Joachim Schellnhuber, oberster Klimaberater der deutschen Regierung. "Burning Embers" wird das Diagramm genannt (nach dem englischen "embers" - glühende Kohlen). Es hat seinen Namen von der Farbskala der fünf gezeigten Balken, die von weiß über gelb und orange bis rot und neuerdings sogar bis violett reicht (siehe Grafik). Die Farbgebung soll die wachsende Gefahr verdeutlichen. Denn die fünf Balken stehen, als eine Art Essenz des dicken Berichts der Arbeitsgruppe II, für Risiken des Klimawandels, die mit zunehmender Erwärmung größer werden. Offiziell heißen sie "reasons for concern" oder auf Deutsch "Klimasorgen".
Der erste Balken fasst die Risiken für "einzigartige und bedrohte Systeme" zusammen: Das können einzelne Tierarten wie der Eisbär sein, ganze Ökosysteme wie die Korallenriffe oder Kulturen wie die Fischervölker der flachen, vom Meeresspiegelanstieg bedrohten Archipele der Südsee. Ein weiterer Balken steht für Einzelereignisse von großer Tragweite. "Es geht um Phänomene, die unser Verständnis von der Welt grundlegend verändern können", sagt Chris Field, etwa der Verlust des Amazonas-Regenwaldes - oder des Eisschilds auf Grönland. Die Klimaforscher des IPCC haben im jüngsten Bericht sogar die Schwelle gesenkt, ab der die Gletscher der großen Insel unwiderruflich schmelzen könnten. Das würde zwar Jahrhunderte dauern, aber den Meeresspiegel um sieben Meter anheben. Klimaforscher halten es nun für möglich, dass dieser Prozess bei einer Erwärmung von zwei Grad ausgelöst wird und dann nicht mehr zu stoppen ist.
Ein dritter Balken zeigt die Risiken durch die Zunahme und Intensivierung extremer Wetterereignisse. Diese treffen vor allem ärmere Staaten, wie der soeben in Lima veröffentlichte Klimarisiko-Index der Umweltgruppe Germanwatch zeigt. Demnach hatten die Philippinen, Kambodscha und Indien im Jahr 2013 die meisten Todesopfer und die größten Schäden durch Stürme und Überschwemmungen zu verkraften. Die Philippinen verdanken ihren Spitzenplatz einem der stärksten jemals beobachteten Taifune: Haiyan, der am 8. November 2013 die Hafenstadt Tacloban verwüstete.
Auch die beiden letzten Balken beschäftigen sich vornehmlich mit den Risiken für arme Länder, die wenige Ressourcen haben, um die Folgen des Klimawandels zu bewältigen, ihnen aber gleichzeitig oft am stärksten ausgesetzt sind. Einer der Balken illustriert die ungleiche Verteilung der Gefahren: Während in manchen Gebieten des Nordens die Erwärmung wirtschaftlichen Fortschritt erlaubt, zum Beispiel Weinbau in Norddeutschland, verlieren Menschen im Süden ihre Existenz. Der andere Balken beschreibt die Risiken, die der ganzen Welt drohen, wenn etwa die Nahrungsmittelversorgung oder der globale Handel in die Krise geraten. Diese Risiken haben die Klimaforscher im Lauf der Jahre als immer bedrohlicher eingeschätzt, wie ein Vergleich der "Burning Embers" aus den vergangenen drei IPCC-Berichten zeigt. Wobei das Diagramm 2007 nicht im offiziellen Report erschien, es wurde erst später aus den veröffentlichten Texten erstellt. Die dunkleren Farben in den Balken wandern immer weiter zum Nullpunkt, das heißt, die Risiken beginnen bei immer geringeren Temperaturen.
Es liegt auf der Hand, dass sich solche Gefahren nicht mit wissenschaftlicher Präzision berechnen lassen. Die Autoren des Berichts der Arbeitsgruppe II erklären darum auch deutlich, sie hätten die in den fünf Balken zusammengefassten Folgen des Klimawandels auf der Basis ihres Expertenwissen eingeschätzt. "Es gab keinen offensichtlichen, für jeden akzeptablen Weg, die vielen Informationen zusammenzubringen, selbst wenn diese zunächst konkrete Zahlen enthielten", sagt Field. "Wir sind aber sicher, dass das Expertenurteil den Wert der Aussage erhöht und nicht gemindert hat."
Mit dem Burning-Embers-Diagramm können die Forscher besser veranschaulichen, welche Risiken ein ungebremster Klimawandel hätte, der die Erde um mindestens vier Grad aufheizte, und welche davon sich bei Begrenzung auf zwei Grad vermeiden ließen. Keinesfalls soll das aber heißen, zwei Grad Erwärmung seien erwünscht oder unschädlich. "Die Risiken werden selbst dann deutlich zunehmen, weil wir in zahlreichen Weltregionen, zum Beispiel Südostasien, einen massiven Anstieg der Zahl von Menschen in exponierten Lagen haben - etwa gegenüber dem Meeresspiegelanstieg", sagt Jörn Birkmann von der Universität Stuttgart, der zu den Autoren des IPCC-Berichts gehörte.
Ob man die so ermittelten Risiken für akzeptabel halte oder nicht, sei eine Frage der persönlichen Werturteile, heißt es im IPCC vorsichtig. Birkmann formuliert es drastisch: "Wenn wir damit leben können, dass die kleinen Inselstaaten verschwinden, dann wird vielleicht auch eine Welt mit mehr als zwei Grad plus geduldet." Die Wissenschaftler selbst haben darum keine Grenzlinie durch die Burning Embers gezogen. Das waren die Politiker.
Das bedeutet nicht, dass Wissenschaftler als Privatleute nicht auch eine, womöglich abweichende, Meinung haben. So stellte sich zum Beispiel die Earth League, ein Zusammenschluss prominenter Klimaforscher aus Europa, Asien und den amerikanischen Staaten, vor wenigen Tagen nur mit Bedenken hinter die Zwei-Grad-Grenze. Als "Bürger" betonen sie, dass selbst ehrgeizige Klimaschutzpolitik die Erwärmung nur noch mit 66-prozentiger Chance unter zwei Grad halten wird. Die Risiken für die Zukunft seien darum schon "viel größer, als wir sie sonst akzeptieren, etwa für Atomkraft, Terrorismus oder Krankheitsepidemien".
Nicht Kohle und Erdöl sind die begrenzte Ressource, es ist der Platz für CO2 in der Atmosphäre
Etliche Forscher halten bereits zwei Grad Erwärmung für zu viel. "Bei 1,5 Grad hätten wir noch eine Chance, dass im Sommer am Nordpol Meereis und die daran gebundenen Ökosysteme erhalten bleiben", sagt Hans-Otto Pörtner vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Generell scheine es so zu sein, "dass bei 1,5 Grad Organismen an Land und im Süßwasser noch in der Lage sind, den Klimazonen zu folgen, die sich mit der Erwärmung verschieben". Bei zwei Grad sieht der Ökologe deutlich schlechtere Chancen für viele Arten und ihren Lebensraum.
Andere Wissenschaftler kritisieren grundsätzlich die Fixierung auf eine einzige Messgröße wie die Temperatur der bodennahen Atmosphäre. "Werft das Zwei-Grad-Ziel über Bord", forderten etwa die kalifornischen Forscher David Victor und Charles Kennel Anfang Oktober in Nature. Es sei ohnehin nicht mehr umsetzbar, also eine Utopie. Sie plädierten dafür, stattdessen eine ganze Reihe von Merkmalen auszuwählen, die ein klares Bild vom Zustand der Welt zeichnen. Sie schlagen vor, auf dem Klimagipfel in Paris 2015 ein Verfahren zu beschließen, wie solche Indikatoren bestimmt werden könnten.
Das ist vielen Klimaforschern entschieden zu vage. Sie plädieren zumeist für eine einfache, pragmatische Grenze der Erwärmung, und Temperaturen könne man immerhin zweifelsfrei und auf 0,1 Grad genau messen. "Im Lichte der zunehmenden Risiken scheinen vernünftige Zielvorgaben trotz der Unsicherheit sinnvoll zu sein", sagt Hans-Otto Pörtner, selbst wenn er einen anderen Zahlenwert für die Grenz-Temperatur vorziehen würde.
Denn in einem haben die Kalifornier Victor und Kennel wohl Recht: Der starre Blick aufs Thermometer sagt niemandem, ob er genug für den Klimaschutz tut. Darum hat der IPCC klarere Kriterien erarbeitet. Zunächst berechnete die Arbeitsgruppe I mit Klimamodellen, wie viel Treibhausgase noch in die Atmosphäre entweichen dürfen. Die Wissenschaftler hatten vier Szenarien definiert, und nur beim bescheidensten ließ sich die Zwei-Grad-Grenze halten; die übrigen Szenarien überschreiten die Grenze in etwa 40 Jahren.
Weitere Berechnungen führten die Wissenschaftler dann zu einer handhabbaren, fast schon symbolischen Zahl: 1000 Milliarden Tonnen Kohlendioxid und andere Treibhausgase dürfe die Menschheit noch ausstoßen, um nicht aus dem besten Szenario auszubrechen. Ins Verhältnis zum momentanen, ständig steigenden Ausstoß gesetzt - etwa 35 Milliarden Tonnen pro Jahr, vor allem aus Kohle, Öl, Gas -, wird daraus ein Ultimatum. Mehr als 25 Jahre kann es so nicht weiter gehen. Will die Welt auch nach 2040 noch fossile Brennstoffe nutzen, müssen die Staaten die Kurve der Emissionen rasch nach unten biegen. Der Gipfel darf laut IPCC nicht viel später als 2020 erreicht sein.
"Wir alle müssen verstehen, dass die begrenzte Ressource nicht die Energierohstoffe sind", sagt Ottmar Edenhofer, Chef-Ökonom am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und Ko-Vorsitzender der IPCC-Arbeitsgruppe III, "sondern der Platz in der Atmosphäre, um CO2 abzulagern." Würden die Rechte an dieser Deponie, an den 1000 Milliarden Tonnen, zum handelbaren Gut, bekämen Staaten Einnahmen, um aus dem Klimaschutz, der erst kommenden Generationen nutzt, schon heute Vorteile zu ziehen.
Für Edenhofer ist es dabei nicht sinnvoll, das Zwei-Grad-Ziel aufzuweichen, wie es von manchen gefordert wird. "Wir müssen so oder so jetzt den Einstieg in den Klimaschutz finden." Auch eine Drei-Grad-Grenze erlaube kein Zögern am Anfang, sondern allenfalls eine Pause zwischendrin, wenn die wichtigsten Entscheidungen gefallen sind und umgesetzt werden. "Allerdings würden wir bei einem Drei-Grad-Ziel höhere Risiken in Kauf nehmen. Es gibt darum weder ökonomisch noch verhandlungstaktisch einen Grund, die Zwei-Grad-Grenze aufzugeben."