Vor einigen Jahren stand der Mathe- und Naturwissenschaftslehrer Seth Wynes vor seiner Highschool-Klasse im kanadischen Ontario, und seine Schüler fragten ihn, was sie tun könnten, um das Klima zu schützen. Sie blätterten durch die Schulbücher, fanden aber vor allem Empfehlungen, die sich auf Kleinigkeiten beschränkten. Müll recyceln oder kürzer duschen zum Beispiel. Dinge, die einen echten Unterschied machen, wie aufs Auto zu verzichten oder weniger zu fliegen, wurden hingegen nicht erwähnt. "Wir fanden, die Lösungen in den Schulbüchern schienen wie losgelöst vom Ausmaß des Problems", sagt Wynes.
Nun hat sich Wynes, inzwischen an der Universität Lund in Schweden, der Frage seiner Schüler von einst wieder angenommen. Und überprüfte mit seiner Kollegin Kimberly Nicholas zehn kanadische Schulbücher aus sieben Provinzen. Die mehr als 200 Empfehlungen, welche die Wissenschaftler in den Büchern fanden, hatten wieder nur "moderate oder wenig Auswirkungen", heißt es in ihrer Studie, die kürzlich im Fachblatt Environmental Research Letters erschien.
Wer aufs Auto verzichtet, keine Fernreisen macht und kein Fleisch isst, bewirkt wirklich etwas
Seth Wynes und Kimberly Nicholas werteten nun auch Schulbücher und Regierungspapiere aus Australien, den USA und Europa aus - und wieder zeigte sich die Schieflage zwischen Empfehlung und Wirkung. Deutschland ist da keine Ausnahme: Auf ihrer Internetseite rät die Bundesregierung, die Raumtemperatur um ein Grad Celsius zu senken, auf die Stand-by-Funktionen von Elektrogeräten zu verzichten und Energiesparlampen zu verwenden. Wer nicht auf sein Auto verzichten möchte, sollte wenigstens "kurze Strecken" zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegen und "möglichst defensiv" Auto fahren.
Das sind jedoch alles sehr bescheidene Maßnahmen. Auf Grundlage diverser wissenschaftlicher Szenarien erstellten Wynes und Nicholas eine Rangliste, wie jeder Einzelne in einem Industrieland am besten das Klima schützen kann. Am meisten würde es demnach helfen, ein Kind weniger zu bekommen - ein sehr umstrittener Ratschlag. Danach folgen: aufs Auto verzichten, weniger fliegen, kein Fleisch essen.
Autos und Flugzeuge schlucken viel Treibstoff, Rinder produzieren Methan und Lachgas, für den Anbau von Futtermitteln müssen oft Regenwälder weichen. Wer regelmäßig Fleisch isst und einen Transatlantikflug pro Jahr unternimmt, stößt schon allein damit 2,4 Tonnen Kohlendioxid aus - eigentlich sollten es schon 2050 nur noch rund zwei Tonnen pro Erdenbürger sein, wenn die Erwärmung auf weniger als zwei Grad begrenzt werden soll. Doch nur zwei der zehn kanadischen Schulbücher rieten, weniger zu fliegen. Selten erwähnt wurde auch die Möglichkeit, aufs Auto zu verzichten oder sich vegetarisch oder gar vegan zu ernähren. Von weniger Kindern war schon gar nicht die Rede.
Jugendliche, schreiben die Forscher in der Studie, "sollten über die Umweltfolgen der Familiengröße informiert werden, schließlich werden sie wahrscheinlich sexuell aktiv". Aber sind Eltern wirklich verantwortlich für die CO₂-Emissionen ihrer Kinder? Es stimmt zwar: Immer mehr Menschen strapazieren die Belastungsgrenzen der Erde - ein Europäer oder US-Amerikaner deutlich mehr als ein Afrikaner oder Südamerikaner. Aber die wohlhabenden Industrieländer schrumpfen ohnehin. Nirgendwo auf der Welt sind die Geburtenraten so niedrig wie in Europa. Auch dürften den Rat, weniger Kinder zu bekommen, wenn überhaupt dann höchstens diejenigen in die Tat umsetzen, denen Klimaschutz tatsächlich ein wichtiges Anliegen ist. Das könnte zur Folge haben, dass noch weniger Kinder zu mündigen Klimaschützern erzogen würden.
"Weniger Kinder wegen des Klimas zu bekommen, kann nicht die Lösung sein", sagt die Umweltpsychologin Katharina Beyerl vom Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS). "Viel wichtiger wäre es, unseren Lebensstil umzustellen und damit auch unseren Kindern zu ermöglichen, das Leben auf diesem Planeten zu genießen und auch selbst Kinder und Enkel haben zu können." Ihr Kollege Oliver Putz von IASS findet es zudem ethisch fragwürdig, Kinder als "CO₂-Produzenten zu vermessen". Ein Kind weniger zu haben spart laut der Studie 58,6 Tonnen CO₂ im Jahr. "Ich möchte nicht, dass ein Preisschild an meinen Sohn gehängt wird", sagt der Theologe und Biologe.
Wynes und Nicholas relativieren ihre Empfehlung indes selbst ein wenig: Würden die Emissionen in Zukunft gesenkt, würden auch die eines weiteren Kindes beträchtlich fallen, halten sie fest. Mit anderen Worten: Es geht weniger darum, weniger Kinder zu kriegen, als die Kinder in einer Gesellschaft zu bekommen, in der sie kaum noch Kohlendioxid ausstoßen.
Und in dieser Hinsicht ist tatsächlich noch viel Luft nach oben, gerade was den Lebensstil betrifft. Warum erwähnen das die Verfasser von Schulbüchern und Regierungspapieren so selten? Möglicherweise konzentrieren sie sich bewusst auf das, was wenig bewirkt, sich aber dafür einfach und regelmäßig umsetzen lässt. Ganz nach der Fuß-in-der-Tür-Technik: Wer im Kleinen angefangen hat, sich klimafreundlich zu verhalten, könnte das irgendwann auch da machen, wo es anfängt wehzutun.
Allerdings, so die Autoren, habe die Forschung gezeigt, dass die Ermutigung zu kleinen Schritten nur zu weiteren kleinen Schritten führe. Womöglich liegt gerade der Bundesregierung auch gar nicht so sehr an Aufklärung. Würde sie - oder die Kultusminister - die Bürger dazu aufrufen, auf Auto oder Fleisch zu verzichten, fiele sie der Auto-, Fleisch- und Futtermittelindustrie in den Rücken, die Millionen Arbeitsplätze bietet.
Hinzu kommt: Wer mag schon dafür werben, auf Fleisch zu verzichten? Für ihre Forderung nach einem Veggie-Day in Kantinen wurden selbst die Grünen übel beschimpft. Bescheidenheit passt nicht zu den Freiheitsversprechen des neoliberalen Zeitgeists. "Wir leben in einer Bewusstseinsblase, in der es scheint, als hätten wir das Problem längst im Griff", sagt der Klimaethiker Bernward Gesang von der Universität Mannheim. "Die Bereitschaft zum Klimaschutz ist groß, sie tendiert aber zu null, wenn es darum geht, dafür wirklich etwas aufzugeben oder in den Geldbeutel greifen zu müssen."
Viele denken, dass ein Mensch allein ohnehin nichts ausrichten kann
Oft erfordert es tatsächlich große Disziplin oder einigen Aufwand, den Ratschlägen zu folgen: Wer im Restaurant vegetarisch essen will, muss sich zuweilen mit Beilagen zufrieden geben, wer aufs Auto verzichten möchte, kann kaum einsam auf dem Land wohnen bleiben, wer weniger fliegen will, muss sich bei den Urlaubszielen einschränken oder viel Zeit im Zug verbringen. Viele denken zudem, dass ein Mensch allein ohnehin nichts ausrichten kann - "Rationalitätenfalle" nennen das Psychologen.
Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma? Wynes und Nicholas sehen die größte Chance, bei Jugendlichen anzusetzen. Die fangen erst an, ihren Lebensstil zu definieren und Routinen auszubilden - und seien deshalb eher bereit, auf Auto oder Fleisch zu verzichten. Und sich möglicherweise über einen gesünderen Lebensstil zu definieren. Gerade deswegen sei es fatal, wenn Schulbücher die Zusammenhänge der Welt verklären.
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