Menschen drängen sich am Budapester Bahnhof Keleti in überfüllte Züge, in München empfangen Freiwillige am Hauptbahnhof Geflüchte, Angela Merkel sagt ihren berühmten Satz "Wir schaffen das" - fünf Jahre ist der Spätsommer 2015 jetzt her. Viele verbinden mit den Bildern von damals noch immer den Beginn einer großen Fluchtbewegung in Richtung Europa.
Doch die größten Flucht- und Migrationsströme könnten der Welt erst noch bevorstehen, hervorgerufen durch den Klimawandel. Wissenschaftler sind sich einig, dass die Erderwärmung einige schon jetzt unwirtliche Regionen beinahe unbewohnbar machen wird. Höhere Temperaturen und stärkere Niederschlagsschwankungen sowie plötzlich auftretende Naturkatastrophen wie etwa Tropenstürme vernichten zudem Ernten und damit die Lebensgrundlage vieler Bauern. Sie lösen mitunter Konflikte aus oder begünstigen sie zumindest, wie Studien gezeigt haben.
Doch wie viele Menschen sich tatsächlich auf den Weg in ein fremdes Land machen, weil Ernten ausbleiben oder Bürgerkriege ausbrechen, ist durchaus umstritten. Schließlich werden Landwirte in manchen Ländern durch derlei Krisen so arm, dass sie sich den teuren Umzug in andere Regionen schlicht nicht mehr leisten können. Andernorts sind Bauern technisch gut ausgestattet und kommen mit den veränderten klimatischen Bedingungen gut zurecht.
Eine neue Überblicksstudie unter Leitung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) zeigt nun, in welchen Ländern und unter welchen Bedingungen ein verändertes Klima Menschen am ehesten auswandern lässt. Ein fünfköpfiges Team um Roman Hoffmann vom PIK und dem Wiener Institut für Demographie hat dazu 30 Studien zur Klimamigration miteinander verglichen. Die Ergebnisse wurden am Montag im Fachblatt Nature Climate Change veröffentlicht.
In Lateinamerika, der Sahelzone, Ostafrika und Indien liegen die Hotspots der Klimamigration
Die 30 Studien beschäftigen sich mit Migrationsbewegungen von 1960 bis 2015 in verschiedenen Regionen und Ländern; 27 davon kamen zu dem Ergebnis, dass Umweltfaktoren Migration beeinflussen. Hoffmann und Kollegen betonen, dass bislang insbesondere Länder mit mittlerem Einkommensniveau betroffen sind, die stark von der Landwirtschaft leben - also solche Nationen, in denen viele Menschen durch Ernteausfälle ärmer werden, aber noch genug Geld haben, um eine Reise in die Ferne zu finanzieren. In manchen armen Ländern geht der Klimawandel tatsächlich auch mit weniger Migration einher. Hoffmanns Interpretation: "Die arme Bevölkerung dort kann sich aufgrund fehlender Ressourcen nach Missernten und anderen Umweltschocks einen Umzug oft nicht leisten."
In jedem Fall arbeiten die direkt Betroffenen auf dem Feld. "Besonders Kleinbauern sind auf stabile klimatische Bedingungen angewiesen und leiden unter Veränderungen und Schocks, da sie nicht über ausreichende Anpassungskapazitäten verfügen", sagt Co-Autorin Raya Muttarak. Anhand der Studienergebnisse konnten die Wissenschaftler abschätzen, wo Hotspots der Klimamigration liegen könnten. Besonders gefährdet sind demnach Lateinamerika und die Karibik, die Sahelzone, Ostafrika sowie Indien und kleinere Länder im südlichen Asien.
Das Bild von afrikanischen Klimaflüchtlingen, die nach Europa wollen, ist zu simpel
Dabei beeinflussen nicht alle Veränderungen des Klimas die Migration gleich stark. Die Gesamtmenge des Niederschlags spielt eine kleinere Rolle als dessen Schwankungen. Extreme Wetterereignisse wie Stürme verstärken Migrationsbewegungen im Mittel über alle Länder hinweg. Die Forscher betonen gleichwohl, dass es dabei keinen Automatismus gibt. Niemand lässt Freunde und Verwandte einzig und allein deshalb zurück, weil es in den letzten Jahren weniger geregnet hat. Entscheidungen mit solcher Tragweite werden meist aufgrund vieler verschiedener Faktoren getroffen.
Sommer in Europa:Zu warm, aber kein Rekord
Laut der Temperaturbilanz des EU-Klimadienstes Copernicus blieb der Sommer hinter Rekordjahren wie 2003 oder 2018 zurück. Auffällig waren allerdings die vielen Hitzestress-Tage. Auch in Deutschland war die Jahreszeit eher wechselhaft.
Auch das Bild von afrikanischen Klimaflüchtlingen, die nach Europa wollen, ist zu simpel. So fanden die Forscher um Hoffmann deutliche Belege dafür, dass Umweltveränderungen zunächst überwiegend zu Migration innerhalb eines Landes führen, meist vom Land in die Städte. Dort gibt es aber nicht immer genug Arbeit für alle, was dann langfristig doch zu mehr Migration ins Ausland führen kann - allerdings häufig in andere Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen und nicht ins reiche Europa.
Zudem ist der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Migration wohl nicht linear. Das heißt: Nicht jede neue Dürreperiode führt stets zu einem gleich großen Anstieg der Wanderungs- und Fluchtbewegungen. Einige Forscher vermuten, dass es sogenannte soziale Kipppunkte geben könnte: Erst passen sich die Menschen noch an den Klimawandel an - ehe dann plötzlich, wenn der Druck zu groß wird, viele auf einmal auswandern.
Auch der direkte Effekt des Klimawandels auf die Landwirtschaft ist vielschichtiger als manchmal suggeriert wird: In gemäßigteren Breiten könnte der Klimawandel langfristig die Erträge sogar steigern, ein höherer Kohlendioxidanteil der Atmosphäre durch den Düngereffekt die Ernten verbessern. Doch in vielen subtropischen und heute schon trockenen Regionen werden Hitze und Wassermangel für deutlich magerere landwirtschaftliche Erträge sorgen. Die Krux dabei ist, dass damit unabhängig von Migrationsströmen ausgerechnet die ärmsten Länder am stärksten unter der Klimakrise leiden werden. Die reichen Industriestaaten hingegen haben zwar das meiste CO₂ in die Atmosphäre geblasen. Sie könnten aber infolge des Klimawandels künftig zum Beispiel mehr Wein anbauen - was ziemlich zynisch erscheint angesichts von Hungersnöten und Naturkatastrophen im globalen Süden.