Klimawandel:Weshalb sich die Erde schneller erwärmt als gedacht

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Dass sich die Welt schneller erwärmt, liegt womöglich an einem bislang unterschätzten Naturphänomen. (Foto: Moritz Frankenberg)

Seit eineinhalb Jahren rätseln Klimaforscher, warum es seit Mitte 2023 unerwartet heiß ist. Nun haben sie eine neue Spur.

Von Benjamin von Brackel

Das Jahr 2024 neigt sich dem Ende zu, aber viele Klimaforscher hängen mit ihren Gedanken immer noch im Jahr 2023 fest. Denn dieses hat ihre Gewissheit erschüttert. „Es ist demütigend und auch ein wenig beunruhigend, zugeben zu müssen, dass kein Jahr die Vorhersagefähigkeiten der Klimaforscher mehr überfordert hat als das Jahr 2023“, schrieb Gavin Schmidt Anfang dieses Jahres in der Wissenschaftszeitschrift Nature. Schmidt ist der Leiter des Goddard Institute for Space Studies der Nasa.

2023 war das heißeste jemals gemessene Jahr, wahrscheinlich das heißeste Jahr seit mehr als 100 000 Jahren. Die globale Durchschnittstemperatur lag um annähernd 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau, also in der Nähe des Wertes, auf den die Staaten die Erderwärmung gemäß dem Pariser Klimaabkommen gerne begrenzen wollten. An sich ist es nicht überraschend, dass sich die Erderwärmung fortsetzt, schließlich steigt auch der CO₂-Ausstoß weiter an. Doch das erklärte nicht die Dynamik. Im Juni 2023 setzten sich die globalen Temperaturen von den bisherigen Rekordwerten ab, und so ging es Monat für Monat weiter. Zwischenzeitlich lagen sie ein halbes Grad Celsius höher. Die Temperaturkurve wollte einfach nicht mehr sinken – bis heute. Das Jahr 2024 dürfte sogar noch wärmer gewesen sein als 2023 und damit die 1,5-Grad-Marke erstmals reißen, früher, als es Klimamodelle hätten erwarten lassen.

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Ein ganzes Heer an Klimaforscherinnen und Klimaforschern versucht, das Rätsel um diese Wärmeanomalie zu lösen. Erklärungsversuche gab es viele: die Verminderung der Luftverschmutzung über dem Nordatlantik, der Ausbruch eines submarinen Vulkans auf Tonga, eine hohe Sonnenaktivität, das natürliche Klimaphänomen El Niño. Nur: Addierte man die Wirkung all dieser Faktoren zusammen, klaffte immer noch eine Lücke von rund einem Fünftel Grad Celsius.

Klimaforscher um Helge Gößling vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven präsentieren nun eine neue Erklärung: Die Erde reflektiert die Sonneneinstrahlung inzwischen schlechter, und das hänge mit den Wolken zusammen, schreiben sie im Wissenschaftsmagazin Science. Die Klimamodellierer vom AWI und dem Europäischen Zentrum für mittelfristige Wettervorhersagen (ECMWF) haben Satellitendaten der Nasa sowie eigene Reanalysedaten ausgewertet, welche die von Messstationen, Wetterballons und Satelliten gesammelten Daten mit einem Wettervorhersagemodell kombinieren. Eines sprang ihnen dabei ins Auge: die Albedo, also das Maß für die Helligkeit. Sie bestimmt das Rückstrahlvermögen der Erde. Und diese war 2023 so schwach wie seit den 1940er-Jahren nicht. Dieser Faktor, ergab ein Energiebudget-Modell, erwies sich als das fehlende Puzzleteil bei der Erwärmung. Aber warum absorbiert die Erde mehr Sonnenstrahlen?

Die tief hängenden Wolken haben sich verändert

Seit den 1970er-Jahren nimmt die Albedo der Erde ab, weil das arktische Meereis und die Gebirgsgletscher schrumpfen. Damit verschwinden riesige weiße Flächen und entblößen die darunterliegenden dunkleren Oberflächen, welche die Sonnenstrahlen absorbieren. Seit 2016 zog sich auch das Meereis in der Antarktis zurück, und das kam völlig unerwartet. All das konnte aber nur einen kleinen Teil der abnehmenden Albedo erklären. Gößling und seine Kollegen machen den Hauptschuldigen nun nicht am Boden aus, sondern in der Luft: Die Wolken haben sich verändert. Und zwar die tief hängenden.

Paulo Ceppi vom Imperial College in London hält die Analyse für überzeugend. „Die Ergebnisse sind sehr plausibel“, sagt der renommierte Wolkenforscher, der nicht an der Studie beteiligt war. Er warnt seit Jahren, dass die Öffentlichkeit unterschätzt, wie wichtig die Wolken im Klimasystem seien. Sie gelten als der größte Unsicherheitsfaktor in den Klimamodellen. Je nachdem, in welcher Höhe sie sich befinden, können sie die Erderwärmung abdämpfen oder verstärken. Die tief liegenden Wolken kühlen die Erde, sie wirken wie ein Sonnenschirm, insbesondere Haufenschichtwolken, die Stratocumuli. Doch genau dieser Wolkentyp habe seit zwei Jahrzehnten abgenommen, schreiben Gößling und seine Kollegen in Science.

„Die Studie ist nützlich und hilft, einige der Lücken zu füllen, um die jüngsten Temperaturen zu erklären“, sagt Nasa-Forscher Gavin Schmidt, der nicht an der Arbeit beteiligt war. Allerdings könnten die Autoren nicht erklären, was genau die Wolken und damit die Albedo so verändert hat. Welcher Mechanismus dahintersteckt, entscheidet aber darüber, wie besorgniserregend der Befund von Gößling ist.

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Szenario eins: Eine Schwankung im Klimasystem hat die Wolken dezimiert. So ist etwa der Atlantik an seiner Oberfläche mal wärmer und mal kälter. Er könnte in eine wärmere Phase eingetreten sein und damit die Stratocumuluswolken reduziert haben. Das wäre eine gute Nachricht, da sich die Wolken dann wieder aufbauen könnten und der Erwärmungsverlauf in die erwarteten Bahnen zurückkehrt. „Falls die Änderung in den Wolken zufällig war, dann würde dieser Effekt bald wieder weg sein“, erklärt der Klimaforscher Reto Knutti von der ETH Zürich.

Szenario zwei: Aerosole waren die Ursache, also die Staubpartikel in der Luft, die als Kondensationskeime für Wolken dienen. In den vergangenen Jahren ist die Luft aufgrund strengerer Regeln vor allem im globalen Norden sauberer geworden. Das könnte erklären, warum tief liegende Wolken vor allem über dem Nordatlantik abgenommen haben. Die Folge wäre ein einmaliger Temperatursprung. Allerdings schätzen Klimamodellierer jenen Beitrag als eher klein ein, er könne höchstens einen Teil der 0,2-Grad-Lücke erklären.

Im schlimmsten Fall reagiert das Klima empfindlicher auf den Treibhausgasanstieg als berechnet

Szenario drei: Der Klimawandel selbst verändert die Wolken. Wenn es wärmer wird, nehmen die tief liegenden Wolken ab, woraufhin die dunklere Meeresoberfläche mehr Sonnenlicht absorbiert und es noch wärmer wird. Genau das sagen Klimamodelle vorher. Paulo Ceppi hat unlängst im Fachjournal Geophysical Research Letters beschrieben, dass die Modelle den bereits beobachtbaren Effekt sogar noch unterschätzen. Wäre das der Hauptgrund für die Auflösung der tief liegenden Wolken, wäre das eine schlechte Nachricht. Denn es hieße, dass das Klima empfindlicher auf den Treibhausgasanstieg reagiert, als es die mittleren Annahmen erwarten lassen. „Damit sind wir den im Pariser Abkommen festgelegten Temperaturzielen möglicherweise näher als bislang angenommen, was möglicherweise schwerwiegende Folgen für das verbleibende CO₂-Budget haben wird“, schreiben die Autoren um Gößling.

Aus ihren Datensätzen, mit denen sie die Strahlungsbilanz analysiert haben, können sie das aber nicht ableiten. Dafür müsste man die von Satelliten erfassten Wolken-Beobachtungsdaten analysieren. „Wir sollten also noch nicht in Panik geraten“, empfiehlt Ceppi.

Der Befund von Gößling fügt sich ein in einen Trend, der sich seit Kurzem abzeichnet: Die Erwärmungsrate des Planeten nimmt zu. Seit den 1970er-Jahren heizte sich die Erde pro Dekade um knapp 0,2 Grad Celsius auf, und dabei blieb es lange. „Seit ungefähr zwei Jahrzehnten tut sie das aber doppelt so schnell“, sagt Karina von Schuckmann, die wissenschaftliche Leiterin von Mercator Ocean in Toulouse, eine der weltweit führenden Expertinnen für die Energiebilanz des Planeten. Obwohl die Klimamodelle der neuesten Generation solch einen Trend vorausgesagt haben, ließ er sich an der Erdoberfläche bislang nicht zweifelsfrei ablesen. Wohl aber im Ozean – so haben es jedenfalls Schuckmann und weitere Klimaforscherinnen und Klimaforscher 2023 im Journal Scientific Reports erstmals nachgewiesen. „An der Erdoberfläche gibt es viel stärkere Schwankungen als in den Ozeanen, und das überlagert den Trend“, sagt die Ozeanografin. „Deshalb kristallisiert sich dort eine Beschleunigung noch nicht heraus.“

Im Ozean, der 90 Prozent der überschüssigen Wärme aufnimmt, zeige sich der Trend allerdings eindeutig. Mit dem stetig zunehmenden CO₂-Ausstoß lasse sich die Beschleunigung in der Aufheizung des Planeten allerdings nicht allein erklären. Schuckmann und ihre Kolleginnen und Kollegen tippten deshalb schon im vorigen Jahr auf eine Abnahme der Aerosole und eine Veränderung in der Wolkenbedeckung.

Absorbiert die Erde mehr Sonnenstrahlen, staut sich die Hitze im Klimasystem. Und verteilt sich auf Ozeane, Landmassen, Atmosphäre und Eis. Das wiederum erklärt, warum all diese Teilbereiche des Erdsystems derzeit eine beschleunigte Veränderung erfahren. „Wir sehen, dass große Veränderungen im Gange sind“, sagt Schuckmann. „Man sieht es überall, an der Oberfläche der Ozeane und in ihren tieferen Bereichen, im Meereis der Arktis und der Antarktis, alle Indikatoren ändern sich stark und ungewöhnlich schnell.“

Die Jagd nach dem ominösen Fünftel Grad und einer Antwort auf die Frage, was die tief liegenden Wolken zum Verschwinden gebracht hat, geht weiter. Die Klimaforscherinnen und Klimaforscher wissen aber jetzt zumindest, wo sie suchen müssen: in den Wolken. In spätestens ein bis zwei Jahren, schätzt Ceppi, werde man das Rätsel gelöst haben.

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