Süddeutsche Zeitung

Klimaforschung:Eisige Kälte und Klimawandel sind kein Widerspruch

Seit Anfang Januar ist der Winter grimmig, mit Schnee und Kälte. Wo bleibt der Klimawandel? Tatsächlich könnten die tiefen Temperaturen sogar eine Folge der globalen Erwärmung sein.

Von Marlene Weiß

Der Winter hat in Europa eine Weile gebraucht, um in Gang zu kommen. Aber jetzt ist er in Fahrt wie schon lange nicht mehr. Anfang Januar schwappte die erste Kältewelle über den Kontinent, mit zweistelligen Minustemperaturen und viel Schnee bis in die Türkei. Und nun steht die nächste Runde an: Auch in dieser Woche wird es eisig, von Dienstag an soll es in Deutschland wieder zweistellige Minustemperaturen geben. Trotz Klimawandel?

Nein, gerade im Klimawandel, meinen manche Wissenschaftler. Mit der fortschreitenden Erwärmung der Erde gerät auch das Wetter durcheinander. Und womöglich auch der Höhenwind namens Jetstream, der die Erde umkreist und normalerweise eher mildes Atlantikwetter aus Westen nach Europa treibt, während er die Kälte in der Arktis einkesselt. Wenn es richtig kalt wird, ist es mit diesem steten Westwind meist vorbei: Dann wirft der Jetstream wilde Bögen, in denen Tiefs kalte Polarluft und Schnee nach Süden schaufeln können. Solche Polarluft-Ausbrüche sind es, die auch Nordamerika immer wieder im Schnee versinken lassen. Und auch die jüngste Kältewelle in Europa war die Folge eines gestörten Jetstreams.

Das Phänomen ist nicht neu, aber der Klimawandel könnte dessen Häufigkeit erhöhen. Immerhin hat es seit den 1990er-Jahren auffallend viele kalte Winter in Teilen Europas, Nordamerikas und Asiens gegeben. Auch in Deutschland waren die Winter 2005/2006 und 2009/2010 deutlich kälter als üblich. Manche Forscher legen die Daten sogar so aus, dass es regional in jüngster Zeit im Winter schlicht kälter wird. "In Zentralasien gibt es einen klaren Trend zu kälteren Wintern", sagt Marlene Kretschmer vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK).

Die Mathematikerin gehört zu jenen, die eine der Ursachen in den dramatischen Veränderungen am Nordpol vermuten - ausgerechnet dort, wo die Erwärmung so stark ist wie nirgendwo sonst auf der Erde. Die Region hat sich bereits um mehrere Grad Celsius aufgeheizt, und das Eis am Nordpol schrumpft in schwindelerregendem Tempo. Im vergangenen Herbst wurde ein Negativrekord nach dem anderen gebrochen - im November ging die Eisfläche sogar zeitweise zurück, statt zu wachsen. Noch immer fehlen mehr als eine Million Quadratkilometer zur normalen Januar-Ausdehnung, ungefähr die Fläche von Deutschland und Frankreich zusammen.

Das hat Folgen, nicht nur für die Tierwelt. Fehlendes Eis entblößt den dunklen Ozean, sodass dieser im Sommer mehr Wärme aufsaugt und diese im Winter ohne die Isolationsschicht des Eises leichter wieder abgeben kann. Wenn das in der Barentssee vor Finnland und Russland oder in der Karasee weiter östlich passiert, kann der Wärmeschock die Winde im Norden stören und Kälte nach Sibirien und Europa transportieren. Mit so einem Phänomen konnte Kretschmers PIK-Kollege Vladimir Petoukhov in einem Modell den eisigen Winter 2005/2006 erklären (Journal of Geophysical Research, 2010). "Ich könnte mir vorstellen, dass sich mit dem Kälteeinbruch Anfang Januar die Situation von damals wiederholt hat", sagt Petoukhov. "Die Barentssee jedenfalls ist fast so eisfrei wie damals, das müssen wir untersuchen."

Der Wärmeschub aus dem offenen Polarmeer könnte sogar noch weiter reichende Folgen haben, bis in die hohe Luftschicht namens Stratosphäre. Dort, meinen viele Forscher, kann die Störung den Polarwirbel schwächen: ein charakteristisches Windband, das noch weit höher als der Jetstream über dem Nordpol kreist, im Winter üblicherweise kräftig und stetig. Ein geschwächter Polarwirbel könnte seinerseits den Jetstream stören und die polare Kälte nach Süden schwappen lassen.

Die eisfreie Arktis wirkt wie eine Pumpe, die Kälte in den Süden treibt

Im vergangenen Jahr hat Marlene Kretschmer mit Kollegen gezeigt, dass die Messdaten gut zu einem solchen Mechanismus passen (Journal of Climate). Eine große Schneedecke in Russland könnte den Effekt zusätzlich verstärken. Die eisfreie, warme Arktis wäre also zuweilen eine Art Kältepumpe für Asien, Nordamerika und Europa. Aber funktioniert das wirklich so? Bewiesen ist es nicht, auch wenn vieles darauf hindeutet.

Mittlerweile ist die Forschergemeinde gespalten in jene, die einen starken Einfluss der Eisfläche vermuten, und den Skeptikern, die bremsen - Anfang Februar treffen sich beide Lager bei einem Workshop in Washington DC. Auch Thomas Jung vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven wird dabei sein. Er sieht sich eher bei der zweiten Gruppe: So klar sei das alles noch lange nicht. "Sicher gibt es Korrelationen", sagt er. "Aber es ist schwierig, daraus Ursachen abzuleiten."

Und selbst wenn, bleibt die Frage, ob der Einfluss der schwindenden Eisdecke derart hervorstechen würde. Modelle zeigen, dass die Atmosphäre auch ganz von selbst jede Menge Chaos produzieren kann; Stürme, milde Perioden, große Kälte. Was davon etwas mit der arktischen Eisdecke zu tun hat, bleibt schwer herauszufinden. Jung hält die vorgeschlagenen Mechanismen nicht für stark genug, um damit alleine extrem kalte Winter wie 2005/06 und 2009/10 zu erklären, jedenfalls nicht in Deutschland: "Das große Fragezeichen ist Europa", sagt er. In Asien oder auch Nordamerika ist der Einfluss der Arktis deutlicher, aber Europas Hauptwetterküche bleibt der Nordatlantik, das macht die Dinge kompliziert.

Vielleicht kann das aktuelle Wetter bald mehr Klarheit bringen. "Dieser Winter ist sehr spannend für uns", sagt Kretschmer: extrem wenig Meereis in der Arktis, schon im Herbst viel Schnee in Russland, perfekte Bedingungen für die arktische Kältepumpe. Und tatsächlich war der Polarwirbel bis Ende Dezember sehr schwach. "Bisher scheint alles sehr gut zusammenzupassen", sagt Kretschmer. Woran immer es liegen mag: Erst mal soll es kalt bleiben.

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SZ vom 16.01.2017/chrb
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